Das Bad mit Klinikchef Ernest Simmel in der Nordsee ging Frauke nicht mehr aus dem Kopf. Sie spürte es immer noch auf der Haut: Das Salzwasser. Den feuchten Meeresboden. Den Wind. Den Schlamm. Seine Blicke.

Das alles hatte etwas Archaisches, fast Tierisches an sich gehabt. Sie war ganz Körper geworden, als sei etwas zu ihr zurückgekommen, das sie lange vermisst hatte. Das Wälzen im Watt war ihr wie ein Reinigungsritual vorgekommen. Ja, je verdreckter sie aussah, umso sauberer fühlte sie sich.

Der Matsch klebte an ihr wie eine natürliche Kleidung. Organisch. Lebendig. Das Salzwasser machte sie dann wieder gesellschaftsfähig.

Es war etwas ganz Besonderes, es mit Simmel gemeinsam zu tun. Er rieb sich sehr langsam und bewusst mit Schlick ein. Er baggerte sich eine Ladung ins Gesicht und verrieb alles genüsslich, reckte den Kopf zum Himmel und blies mit weit aufgerissenem Mund Luft aus, als könne er mit seiner Atmung die Wolken bewegen. Er keuchte heftig, fast orgiastisch. Seine weißen Zähne bekamen in dem schwarzen Gesicht etwas bedrohlich Leuchtendes. Eine Miesmuschel klebte an seiner Wange fest, da, wo bei Marcellus die tätowierte Spinne gesessen hatte.

Diese Bilder bewegte sie in ihrem Kopf. Das alles hatte etwas mit ihr gemacht. Interessierte dieser Mann sich für sie? Warb er um sie?

Seit sie mit Frederico Müller-Gonzáles zusammen war, hatte kein Mann mehr gewagt, sie zu beflirten. Als Frau eines Unterweltkönigs war sie tabu. Simmel ging unbeeindruckt davon sorglos mit ihr um. Sie schätzte ihn als einen sehr klugen Mann ein, der genau wusste, was er tat. Er liebte das Spiel mit dem Feuer. Er mochte Nervenkitzel und Gefahr.

Baggerte er sie an, weil er wusste, wie riskant das war? Lag darin für ihn der Reiz? Oder wollte er gar nichts von ihr, und sie phantasierte sich das nur zusammen, so, wie sie früher bei Konzerten geglaubt hatte, der Leadsänger habe sie angesehen oder ihr gar zugezwinkert.

War das alles Wunschdenken? Und was sagte es über ihre Beziehung zu Frederico aus, wenn sie gerade dabei war, sich neu zu verlieben, während sie plante, mit Frederico ein gemeinsames Leben zu führen?

In ihrem Kopf herrschte brummendes Chaos.

Dann rief auch noch Frederico an. Ihr Gespräch wurde kein Liebesgeflüster. Er bat sie, sich nach interessanten Immobilien umzusehen. Geld spiele dabei natürlich überhaupt keine Rolle. Ja, er sagte natürlich , als würde er den Gedanken, Geld habe irgendeine Bedeutung für sein Leben, als Beleidigung empfinden. Das war keine Angeberei von ihm, nein, das war – so empfand sie es – die reine Wertschätzung ihrer Person gegenüber. Das schmeichelte ihr.

Als Miet-Ehefrau war sie es gewohnt, dass Männer so taten, als habe ihre Beziehung mit Geld nichts zu tun. Sie wollten das Gefühl haben, zu einer Geliebten ins Bett zu steigen, mit ihr in Urlaub zu fahren, essen zu gehen oder ins Theater, nicht mit einer Prostituierten. Das alles war Lüge, Heuchelei, aber bei Frederico kam es ihr echt vor.

Er gab ihr völlig freie Hand beim Immobilienkauf. Ob auf den Inseln oder auf dem Festland, war ihm egal. Sie musste zweimal nachfragen. Seine Antwort war immer gleich: »Entscheide du«, schlug er vor. Damit war es für ihn erledigt.

Sie glaubte, es ginge um ein gemeinsames Zuhause und vielleicht noch um ein Sommerhäuschen für den Urlaub. Doch er wollte nur die Drogengelder irgendwo unterbringen und dachte nicht daran, in den Gebäuden zu wohnen. Sie sprachen völlig aneinander vorbei. Das fiel erst auf, als sie vorsichtig fragte: »Wie viel darf ich denn ausgeben, Liebster? Ich weiß ja, dass du mir vertraust und großzügig bist, aber einen gewissen Rahmen brauche ich schon, zur eigenen Sicherheit. Ein Haus auf Norderney oder Langeoog kostet ein Vermögen.«

Er kaute irgendetwas. Sie verstand ihn nicht gut. »Ein paar Milliarden stehen schon zur Verfügung.«

Sie lachte: »Du meinst Millionen, Liebster.«

»Nein. Milliarden. Sieh es wie eine Art Monopoly-Spiel. Kauf ein paar Straßen. Gern mit Geschäftshäusern.«

»Ja, wie? Ich denke, es geht um ein Liebesnest für uns, um ein Haus für die Familie, die wir gründen werden …«

Er verschluckte sich an dem Zeug, auf dem er herumkaute und hustete. »Ja, klar … das auch … Aber ich muss Immobilien im großen Stil kaufen! Also, nicht ich jetzt persönlich, sondern mehr meine Bank.«

Sie begriff sofort: »Und ich soll das für dich organisieren? Das ist gut! Das mache ich gerne! Ich helfe dir, Geld anzulegen. Ich meine, ich brauche ja sowieso irgendetwas Eigenes, ich will ja nicht einfach nur Ehefrau sein. Als Miet-Ehefrau hatte ich ja wenigstens einen richtigen Beruf … Aber einfach nur so verheiratet sein, das ist schon komisch … Und als deine echte Ehefrau kann ich ja schlecht weiter als Miet-Ehefrau arbeiten, oder was denkst du?«

Er hustete.

Sie überlegte laut: »Da ist doch so eine Immobilienfirma gar nicht schlecht. Irgendwas Eigenes brauche ich ja. Ein Kunsthandel wäre mir zwar lieber, aber … mit Immobilien kann ich mich auch anfreunden.«

Sie spürte, dass er unter Druck stand. »Ist alles in Ordnung, Liebster? Du klingst so … abwesend.«

»Klar«, lachte er, »ich bin in Köln, und du bist in Greetsiel. Übrigens, ich schick dir jetzt eine sichere App rüber, darüber können wir uns in Zukunft schreiben. In WhatsApp und all das Zeug kommen die Bullen zu leicht rein.«

»Du meinst eine App, die keiner mitlesen kann?«

»Genau.«

»Wo hast du die her, Frederico?«

»Ach, so etwas benutzt man halt in unseren Kreisen.«

Sie lobte ihn: »Du bist clever. Nichts ist wichtiger als ein wasserdichtes Informationssystem.«

*

Rupert starrte auf sein Handy und schlug sich mit der rechten Hand gegen den Kopf. Vor ihm lagen noch ein kalter Burger und ein paar Süßkartoffeln.

Wie blöd kann man eigentlich sein, fragte er sich selbst. Er sah aus, als könne er nicht glauben, was er gerade gemacht hatte.

Weller versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich finde, es läuft ganz gut … also … du kannst zufrieden sein …«

Rupert stand kopfschüttelnd da. Trotzdem zählte Weller auf: »Du lebst noch. Das ist doch was. Beate hat keine Ahnung. Wir wohnen in diesem geilen Hotel. Du isst mir gerade meine Pommes weg.« Nachdem er die positiven Ereignisse aufgezählt hatte, ging er zu den weniger erfreulichen Dingen über: »Aber es gibt natürlich auch ein paar Probleme. Du hast lastwagenweise Geld und weißt nicht, wohin damit. Dein Erster Offizier wurde gerade umgelegt. Alle denken, du hättest Klempmanns Yacht in die Luft gejagt, und der Tote, für den du dich ausgibst, lebt. Ein Heer von Killern ist hinter dir her und will dich umlegen. Aber sonst ist eigentlich alles in Ordnung. Oder hast du immer noch Sausen im Darm?«

»Nein, verdammt, ich habe Frauke die dämliche Top-Secret- App gegeben!«

»Na und?«

»Na und?! Guck nicht so doof, Weller! Willst du, dass jeder dein Liebesleben – sofern du überhaupt noch eins hast – mitliest?«

Weller winkte ab. »Im Moment habe nur ich Zugriff und vielleicht noch Salander. Aber sonst weiß noch keiner Bescheid. Das Ganze ist ja nicht so richtig legal …«

»Gut«, sagte Rupert, »das ist gut.« Er wirkte fast schon wieder versöhnt mit sich selbst.

»Kann es sein«, fragte Weller, »dass es zum ersten Mal eng für dich wird?«

Rupert markierte jetzt ganz den coolen Gangsterboss: »Meinst du, weil diese Stümper hinter mir her sind und mich kaltmachen wollen?«

»Nein, weil es zum ersten Mal um mehr für dich geht. Frauke ist nicht nur so ein kleines Abenteuer mit langen Beinen …«

Rupert wusste nicht, was er sagen sollte. Er guckte nur betreten vor sich auf den Boden.

Weller setzte nach: »Sie will mehr, stimmt’s?«

»Ja«, brummte Rupert. »Ein Häuschen im Grünen. Einen Ehering. Und, Gott bewahre, vermutlich auch noch Kinder.«

»Ich wusste, dass du in Schwierigkeiten steckst, Alter, deshalb bin ich gekommen. Aber ich wusste nicht, wie tief du wirklich in der Tinte sitzt.«

*

Die meisten Touristen wollten so nah wie möglich ans Meer. In Norddeich gab es schon keine freien Zimmer mehr. Aber etwas weiter im Inland, in Großheide, Hage, Ihlow, Marienhafe, Georgsheil oder Wiesmoor, gab es selbst um diese Jahreszeit noch freie Ferienwohnungen und -häuser. Aber die meisten hatten leider keine Keller. In Ostfriesland baute man gern kellerlose Häuser. In vielen Gegenden nah am Meer oder dem Moor war so ein Untergeschoss nur schwer trocken zu halten. Wer wollte schon ein sumpfiges Schwimmbad unter der Küche haben?

Auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf fielen Geier die Baumhäuser in Lütetsburg mit Blick auf den Golfplatz auf. Sie waren vermutlich genau das luftige Gegenstück zu seinem Keller, aber für seine Zwecke im Moment leider nicht zu gebrauchen. Jeder würde die Schreie weit ins Land hinein hören.

Er mietete ein Haus mit WLAN , Garage, Terrasse und großem Garten in Westerstede. In der Nähe gab es einen Bach. Er hieß Große Norderbäke und sollte ein Geheimtipp für Angler sein, da der Bach nur wenig befischt wurde. Auch ein Kanal war nicht weit.

Das Haus lag nicht ganz so schön und versteckt wie sein altes in Dinslaken, aber er gab sich damit zufrieden. Hier war er ungestört. Es stand weit genug vom nächsten entfernt.

Er brachte Pascal in den Keller. Dort gab es ein Badezimmer und ein Gästezimmer, direkt neben dem Heizungsraum. Im Badezimmer fesselte er den Jungen an Heizungsrohre. Aus dem Gästezimmer holte er das Radio und stellte es an. Nicht zu laut, es sollte ja nicht auffällig wirken, aber irgendwelche verdächtigen Geräusche, die Pascal machen könnte, musste das Radio schon übertönen. Er stellte den Rock- und Popsender Radio 21 ein. Solche Mucke hörte man gerne laut.

Birte ließ er hinten im Transporter. Sie drehte völlig durch, als er ihren Sohn aus dem Auto holte. Getrennt zu werden von ihrem Kind war für sie schlimmer, als sich von einem Körperteil verabschieden zu müssen.

Er kannte das von Frauen. Es machte ihm Spaß, Birte im Unklaren darüber zu lassen, was er mit Pascal gemacht hatte. Je größer ihre Angst wurde, umso mächtiger fühlte er sich.

Es brachte ihm nicht nur einen Lustgewinn, Mutter und Sohn zu trennen, sondern er glaubte auch, dass er damit seine Sicherheit erhöhte. Sollte er gefasst werden, hatte er immer noch einen Trumpf in der Hinterhand, und er war immer bereit, all seine Trümpfe skrupellos auszureizen.

Er stellte sich vor, wie er der Kommissarin ins Gesicht lachte: »Okay, ihr habt mich. In Oldenburg liegt der tote Ehemann in der Wohnung. In meinem Wagen seine verängstigte Ehefrau. Auch der Sohn lebt noch. Er verhungert und verdurstet, wenn ihr mich nicht freilasst. Fragt doch mal seine Mutter, wie sie das so sieht.«

Menschen, die sich liebten, machten sich oft mehr Sorgen um den anderen als um sich selbst. Er konnte das überhaupt nicht nachvollziehen. Es war für ihn ein Zeichen von Verblödung, falls es nicht einfach nur Heuchelei war.

Er hätte sich ihr durch den feuchten Knebel gedämpftes Gewimmer gern noch länger angehört, aber er spritzte sie ruhig.

Bevor er nach Norden fuhr, ging er im Restaurant Vossini essen. Es gehörte zum Schokoladenhotel. Er setzte sich draußen auf die Terrasse. Von dort hatte er einen Blick auf den Marktplatz, den Brunnen und das Rathaus. Die St.-Petri-Kirche zu seiner Rechten ignorierte er.

Er genehmigte sich hausgemachte Nudeln mit Lachs, Rucola, Tomaten und Oliven. Er aß voller Lust. Er liebte diese Momente, wenn er die Angst seiner Gefangenen spüren konnte. Er ließ sie im Ungewissen und ging selbst ganz gemütlich essen. In Dinslaken gern bei Zorbas, aber auch die Pestonudeln dort schmeckten ihm.

Auf dem Tisch lag die NWZ . Auf der Titelseite ein Foto von Bürgermeister Michael Rösner. Geier las den Artikel und freute sich jetzt noch mehr, Westerstede ausgesucht zu haben. Der Bürgermeister war ein ehemaliger Kripobeamter, ein Todesermittler … Und genau in deinem Gebiet halte ich mich auf und werde dir ein, zwei Leichen hinterlassen, dachte er. Viel Spaß damit!

Zum Nachtisch bestellte er sich ein Schokoladensoufflé mit flüssigem Kern und Früchten garniert. Wenn sie ein Schokoladenhotel führen, werden sie das wohl beherrschen, dachte er sich und er hatte recht.

Er zahlte, gab ein großzügiges Trinkgeld und fuhr nach Norden.

Er pfiff die Titelmelodie vom Tatort . Das hatte er als Jugendlicher gern gemacht, wenn es spannend wurde.

Er parkte hinter der Volkshochschule, nicht weit von der Polizei am Markt entfernt. Er bummelte durch die Stadt. Ein Rupert stand in Norden in keinem Adress- oder Telefonbuch. Dafür hatte Geier sogar Verständnis. Polizisten, Richter, Staatsanwälte, Kommunalpolitikerinnen, Lehrer oder andere Menschen, die sich der Gefahr ausgesetzt sahen, dass nicht alles, was sie taten, jedem gut gefiel, anonymisierten gern ihre Adressen oder Telefonnummern, damit nicht jeder frustrierte Bürger ihnen auf der privaten Ebene Stress machen konnte.

Aber Theken waren überall die besten Umschlagplätze für Gerüchte, Geschichten und Nachrichten. Er stand im Mittelhaus keine fünf Minuten an der Theke, sein Pils wurde noch gezapft, da wusste er schon mehr über Rupert.

»Eigentlich«, sagte er der charmanten Dame am Zapfhahn, »wollte ich hier Rupert treffen, aber ich glaube, ich habe mich verspätet. Ist er schon weg?«

Sie strich sich die schwarzen Locken aus der Stirn und lächelte: »Der war heute noch gar nicht hier.«

Ein stoischer Trinker vom anderen Ende der Theke, nah beim Spielautomaten, hob sein Glas und prostete Geier zu. »Der kommt in letzter Zeit nicht mehr so oft. Wahrscheinlich lässt Beate ihn nicht raus.«

»Ist sie so eine Kratzbürste?«, fragte Geier. Er war bereit, dem Biertrinker mit der polierten Glatze einen auszugeben, um noch mehr zu erfahren.

»Nein«, antwortete der gelassen, »das ist eher so eine ganz Sanfte. So Öko und Weltfrieden und so. Kein Fleisch wegen der armen Tiere …«

Geier scherzte: »Klar. Aber dem Mann den Kneipenbesuch verbieten.«

Die Kellnerin behauptete: »Der lässt sich nichts verbieten.« Dann bekräftigte sie ihre eigene Aussage noch einmal: »Der ganz bestimmt nicht.«

Geier gab einen Klaren aus. Er legte einen Zwanzigeuroschein auf die Theke und rief schon im Gehen: »Schöne Grüße an ihn! Ich war da.«

Erst als er wieder auf dem Neuen Weg war, fragte der trinkfeste Thekensteher: »Wer war das eigentlich?«

»Keine Ahnung«, antwortete die Kellnerin. »Ich dachte, du kennst den.«

Geier kehrte ins Dock N° 8 ein und versuchte dort, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Um nicht aufzufallen, musste er sich etwas zu essen bestellen. Er nahm ein Steak. Blutig. Er wunderte sich, welchen Hunger er schon wieder hatte, als das Steak vor ihm stand. Mit jedem Bissen wuchs seine Gier.

Er fragte die Kellnerin, ob sein Freund Rupert heute schon hier gewesen sei. Sie zuckte nur mit den Schultern. »Den habe ich schon eine Weile nicht mehr gesehen. Schöne Grüße, wenn Sie ihn treffen.«

Bei Wolberg s nahm er danach noch einen Drink, und auch hier war dieser Rupert kein Unbekannter. Er hatte sich im Norden von Norden ein Einfamilienhaus gekauft, das er, so gingen die Gerüchte, noch abstottern musste, worüber Geier sich königlich amüsierte. Das sollte der große Frederico Müller-Gonzáles sein? Lebte dieser Mann mit so einer Legende? Machte es ihm Spaß, hier den armen Schlucker zu spielen?

Geier sah sich das Haus an. Frederico Müller-Gonzáles hätte sich die ganze Siedlung vermutlich aus der Portokasse kaufen können, glaubte er, zumindest aber die gesamte Straße. Der Bau war neu. Typisches Einfamilienhaus mit ordentlichem Vorgarten. Aber das Apfelbäumchen brauchte noch ein, zwei Jahre bis zur ersten Ernte. Noch war es mehr ein Zweig. Ein Versprechen, das einmal ein Baum werden wollte.

Was hatte das alles zu bedeuten? Führte Frederico Müller-Gonzáles ein Doppelleben? Jedenfalls wusste Geier eins: Er würde in diese Idylle hineindonnern wie eine Abrissbirne in ein abbruchreifes Haus. Keine Mauer im Leben dieses Rupert würde mehr stehen, wenn er mit ihm fertig war. Er hatte vor, alles gründlich zu verwüsten.

Im Garten hinter dem Haus saß eine Frau und meditierte vor den Tomatenpflanzen. Das musste diese Beate sein, aber von dem Typen war nichts zu sehen.

Jetzt wusste Geier, was er tun würde: Frauentausch.

Jawohl. Das war es.

Er grinste und spielte in Gedanken durch, wie es für diesen Rupert wohl wäre, statt seiner Beate seine alte Affäre Birte anzutreffen.

Ja! Daran hatte Geier wirklich Spaß. Er würde diesen Typen so richtig fertigmachen.

»Als Erstes«, flüsterte er, als stünde dieser Rupert neben ihm, »wirst du, wenn du nach Hause kommst, im Ehebett nicht deine Frau vorfinden, sondern deine verflossene Affäre. Tot natürlich. Und deine Beate, die nehme ich mit. Die verbietet dir keinen Kneipenbesuch mehr. Die wimmert höchstens noch bei mir um Gnade. Ich werde ihr Manieren beibringen.« Etwas lauter, mit veränderter Stimme, sagte er zu sich selbst: »Die Party beginnt.«

Er ging aufs Grundstück und rief Beate zu: »Darf ich Sie mal etwas fragen, junge Frau?«

Sie saß mit geschlossenen Augen auf ihrem Meditationskissen. Normalerweise wurde sie nicht gern gestört und reagierte ungehalten, aber sie blinzelte Geier geschmeichelt an. Junge Frau hatte schon lange niemand mehr zu ihr gesagt.

*

Kleebowski wunderte sich. Jemand musste doch diese Frau, die sich Piri genannt hatte, kennen. Er wollte sie erledigen.

Nein, er fand nicht, dass er das Marcellus schuldig war. Er hatte ihn mehr als Konkurrenten empfunden und nicht leiden können. Dieser Typ war ihm immer vorgekommen wie ein Gangsterdarsteller. Alles an ihm hatte Kleebowski als zu dick empfunden, zu übertrieben und herausgestellt: die Spinne auf der Wange. Den Goldzahn. Dieses ganze kriminelle Gehabe und Getue. Für ihn war da viel heiße Luft dabei gewesen, aber ungesühnt durfte der Mord an Marcellus nicht bleiben. Das könnte auf ihn zurückfallen und seinen Ruf beschädigen.

Er schrieb an ein paar Informanten und Nachrichtenhändler. Er bat sie, sich über Top Secret zurückzumelden. Er glaubte an das sichere System und wollte sich keiner möglichen Ausspionierung durch BKA -Hacker aussetzen.

So trug er rasch zur Verbreitung der neuen App bei.

Überall auf dieser Insel war Pferdegetrappel zu hören. Hannelore konnte dabei entspannen. Wellen. Wind. Pferdehufe. Vögel. Das war genau ihre Geräuschkulisse. Sie wollte gern mit ihrem Alexander einen Strandspaziergang machen und über die Zukunft nachdenken. Sein vermutlich ernstgemeinter Vorschlag, einfach abzuhauen und gemeinsam irgendwo neu anzufangen, hatte etwas in ihr ausgelöst. Wünsche, Träume, Ideen wurden in ihr aus der Tiefe nach oben gespült. Das alles schien ihr gar nicht so absurd, wie es sich zunächst vielleicht angehört hatte.

Alexander stand mächtig unter Druck, das war ihr klar. Die Polizei war zweifellos hinter ihm her oder er befürchtete dies zumindest. Und jemand wollte ihm ans Leben.

Bei ihr sah es längst nicht so dramatisch aus, doch auch in ihrem Leben gab es ein paar unschöne Baustellen. Über einige Dinge wuchs inzwischen Gras, andere begannen langsam zu stinken wie eine Müllhalde an einem schwülen Sommertag.

Ein Schnitt und ein Neuanfang! Nicht vielen Menschen bot sich so eine Chance im Leben. Sie überlegte, was sie vermissen würde, und spürte, dass die Freude auf Neues schneller wuchs als die Angst, Altes zu verlieren.

Er war die ganze Zeit mit seinem Handy beschäftigt, schrieb viel, telefonierte aber eher selten und nur sehr kurz.

Ein entspannter Mensch im Urlaub sah anders aus. Von ihrer Freundin Sabine erntete sie schon mitleidige Blicke. Dieser Alexander war zwar ein imposanter Mann, aber welche Frau brauchte schon einen Mann, der sich mehr für sein Handy interessierte als für sie?

Sabine ließ die zwei alleine. Sie sah, dass die Freundin ein paar ernste Worte mit ihrer neuen Bekanntschaft reden wollte. Das erste Beziehungsgespräch stand an. Sabine war sich gar nicht sicher, ob der gemeinsame Ausflug nach Juist noch lange dauern würde oder heute bereits sein Ende fand. Hannelore hatte mal zu ihr gesagt: »Männer sind wie Ebbe und Flut. Man freut sich, wenn sie kommen, und wenn sie gehen, sieht man erst die Verwüstung, die sie hinterlassen haben.«

Sie hatte Hannelore oft wegen ihrer Konsequenz bewundert. Die quälte sich nicht lange mit Leuten herum, die ihr nicht guttaten, sondern trennte sich lieber, als zu lange zu leiden.

Kleebowski saß mit dem Gesicht zum Meer, sah aber auf sein Handy. Dem zauberhaften Bild vor sich schenkte er keine Beachtung. Am Strand ritten zwei junge Mädchen entlang. Ihre Haare flatterten wie der Schweif ihrer Pferde. Ein fast blauschwarzer Friese und ein Apfelschimmel.

»Ein Bild, über das sich jeder Kameramann freuen würde«, sagte Hannelore, als sei sie gekommen, um einen Spielfilm zu drehen.

Kleebowski drehte sich zu ihr um. Sie zeigte nach vorn aufs Meer. Er verstand sofort, dass er ihr zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und versuchte, sich zu entschuldigen: »Verzeih, es ist wegen …« Weiter sprach er nicht.

»Deinem Freund, den sie getötet haben«, ergänzte sie seinen Satz. Das Wort Freund stimmte für ihn zwar nicht, aber er nickte trotzdem.

»Jetzt willst du die Frau zur Rechenschaft ziehen«, schlussfolgerte sie.

»Mir bleibt gar nichts anderes übrig. Sie ist eine Profikillerin.«

Hannelore erschrak einerseits, andererseits lachte sie: »Und hat sich von mir ins Bockshorn jagen lassen?«

»Marcellus ist jedenfalls tot«, konterte er.

Sie überlegte kurz und strich ihm mit der Hand über die Wange. Es war nicht so sehr eine zärtliche Bewegung, sondern es war, als wolle sie eine Fluse aus seinem Gesicht nehmen. Da war aber nichts.

»Wenn du das mit dem Neuanfang ernst gemeint hast …«, begann sie vorsichtig.

»Hab ich!«

»… warum machen wir es dann nicht einfach?«

Er setzte sich anders hin, war jetzt ganz ihr zugewandt, das Meer hinter seinem Rücken. Er pustete ihr in die Haare, griff in ihre Locken, sog Luft ein, wie ein Hund, der sie erschnüffeln wollte.

»Wenn ich mich diesem Problem gewidmet habe, dann können wir …«

Sie schüttelte den Kopf. »Mach dir nichts vor. Wenn du sie tötest, werden sie jemand anderen schicken. Wenn wir einen Neuanfang wollen, brauchen wir einen ganz harten Schnitt. Wir verschwinden, und weg sind wir. Mietvertrag kündigen, Wohnung ausräumen, Möbelwagen rufen, all das gibt es in unserem Fall nicht. Wir können nicht erst unser altes Leben aufräumen und dann ein neues beginnen.«

»Warum nicht?«, fragte er.

»Weil wir dann nie mit dem neuen beginnen werden, sondern das alte immer dominant bleibt.«

Er sah ihr in die Augen, und es war ihm, als könne er tief in ihre Seele gucken. Er spürte, wie ehrlich sie ihm zugewandt war. »Du willst wirklich mit mir verschwinden?«

»Ja, ich meine es ernst. Aber lass uns nicht zu lange darüber nachdenken. Wenn erst die Zweifel kommen, machen wir es sowieso nicht mehr.«

Möwen kreischten, und der Wind ließ irgendwo eine Tür zuknallen. Für sie klang es fast wie ein Schuss. Er wusste, wie sich Schüsse anhörten.

»Ich bin nie auf die Idee gekommen, mein altes Leben einfach zu verlassen und ein neues zu beginnen«, sagte sie. »Aber jetzt weiß ich, dass ich es könnte. Nur im Gegensatz zu dir kann ich auch in mein altes zurück und versuchen, ein paar Dinge zu verändern, die mir schon lange auf den Nägeln brennen.«

»Und warum tust du es nicht?«

»Ich möchte nicht morgens die Zeitung aufschlagen, dein Foto darin sehen und lesen, dass es dich erwischt hat. Stattdessen würde ich lieber morgens neben dir wach werden und zusehen, wie sich dein Gesicht beim Kaffeeschlürfen langsam entknittert.«

Er lachte: »Das willst du wirklich?!«

Sie baute sich vor ihm auf, ging ein paar Schritte, reckte die Arme hoch und drehte sich. Sie persiflierte dabei Heidi Klums Germanys next Topmodel. Er genoss es, klatschte ihr Beifall. Sie blickte ihn an und stellte klar: »Glaube ja nicht, dass ich für dich abnehme. Die Zeiten, in denen ich für Männer gehungert habe, sind vorbei.«

Er klatschte noch heftiger Beifall und versprach: »Ich liebe jedes Pfund an dir. Für mich musst du garantiert nicht abnehmen. Du siehst sehr gesund aus.«

Mit zwei Schritten war sie bei ihm, griff an seinen Bauch und scherzte: »Was man von dir nicht unbedingt behaupten kann.«

Sie biss ihm spielerisch ins Ohr.

Er foppte sie: »Ich wusste nicht, dass du Mike Tyson bist.«

»Und du bist auch nicht Holyfield.«

Es beeindruckte ihn, dass sie vom Kampf der beiden Schwergewichtslegenden wusste. »Du interessierst dich fürs Boxen?«, fragte er.

»Es gab eine Phase«, schmunzelte sie, »da habe ich gerne schwitzenden Männern zugesehen, die sich gegenseitig das Gesicht poliert haben. Diese Phase ist vorbei.«

»Jetzt verstehe ich auch, warum manche Frauen so gerne Boxen gucken«, grinste er.

Sie wurde wieder ernst: »Hauen wir jetzt zusammen ab oder nicht?«

»Du willst eine Entscheidung, hm?«

»Ja. Noch heute.«

Er zeigte auf sie: »Weil du Angst hast, dass du es dir sonst anders überlegst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Weil ich nicht bei deiner Beerdigung dabei sein möchte.« Fast ein bisschen kleinlaut fügte sie hinzu: »Zumindest noch nicht so bald.«

Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, Fluchtwege auszuloten, doch er schien ihr merkwürdig uninteressiert. Sie glaubte schon, er habe es sich anders überlegt, da nahm er sie zur Seite und sagte: »Für so etwas gibt es Quartiermacher.«

»Das ist in deiner Szene ein richtiger Job, oder was?«

»Ja. Du musst dir das vorstellen wie Reiseveranstalter oder Wohnungsvermittler. Aber eben alles unter dem Radarschirm. Die mieten Häuser, buchen Reisen, bringen einen von A nach B, auch über Grenzen. Früher war das in Europa ein Riesenproblem, heute existiert das ja praktisch gar nicht mehr.«

»Und wieso sagst du mir das erst jetzt? Ich suche hier die ganze Zeit für uns nach guten Möglichkeiten und du …«

Es fiel ihm nicht leicht, doch er sagte es ihr: »Es fällt mir schwer, einen alten Kumpel im Stich zu lassen. Ich kann es ihm schlecht vorher mitteilen. Er wird ohne mich ganz schön alleine dastehen.«

»Von wem sprichst du?«

»Von einem Mann, über den man noch viel reden wird. Frederico Müller-Gonzáles. Er hat für eine Menge Durcheinander gesorgt. Manchmal denke ich, er ist ein Schwachkopf, dann aber wieder, wenn ich sehe, was er tut, denke ich, ich habe ein Genie vor mir. Ich kann ihn nicht einschätzen, und ich glaube, ich bin inzwischen so was wie«, er schluckte, »sein Freund geworden.«

Sie wiederholte den Namen: »Frederico Müller-Gonzáles.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sagt mir nichts.«

*

Geier hatte es tatsächlich geschafft, sich bei Beate einzuschleimen. Er saß bei ihr auf der Terrasse. Sie erzählte ihm bereitwillig, die Überdachung habe ihr Mann eigentlich selber machen wollen, aber der sei handwerklich völlig unbegabt. Zum Glück hätten sie ganz in der Nähe einen guten Freund, den sie den Maurer Peter Grendel nannte. Der habe sie dabei beraten und wenn er hier wirklich bauen wolle, so könne sie Peter nur empfehlen. Außerdem hatte sie gleich eine ganze Liste mit ehrlichen Handwerkern parat.

Er zeigte sich sehr dankbar dafür, aß von ihrem selbstgemachten Pflaumenkuchen und ließ sich von ihr erzählen, wie das Leben in Ostfriesland war. So, wie sie davon schwärmte, würde er geradezu in ein Paradies kommen, wenn er seine Frau davon überzeugen könnte, die leider die Berge bevorzuge, und er wisse noch gar nicht, ob sie wirklich bereit wäre, mit ihm nach Ostfriesland zu ziehen.

»Wissen Sie«, sagte er, »meine Frau hat Angst vor dem Herbst und dem Winter hier. Sie sagt, im November und im Januar sei Ostfriesland schrecklich. Sie mag die Sommer hier durchaus. Wir machen ja immer wieder Urlaub hier. Aber die Winter stellt sie sich kalt und verregnet vor.«

Beate behauptete: »Ihre Frau wird den November in Ostfriesland lieben! Dann sind hier sehr wenige Touristen, praktisch nur Einheimische, und von denen fliegen viele noch irgendwo anders hin, in den Süden. Ja, es ist dann hier schon einsam. Manchmal gibt es Herbststürme und Sturmfluten. Aber dann wieder ist das Meer still wie ein Teich. Man hat die Sonne selbst im Herbst sehr lang, weil ja keine Berge im Weg sind und keine Hochhäuser. Der letzte November war so ein goldener November, und den Januar habe ich besonders genossen.«

Er fand es faszinierend, wie arglos diese Frau war und mit welcher Energie sie versuchte, einen möglichen neuen Nachbarn davon zu überzeugen, das freie Grundstück am Ende der Straße zu kaufen.

Sie bot ihm noch ein Stück Pflaumenkuchen an. Während sie ihm erzählte, wie sie die vegane Sahne aus Mandelmilch gemacht hatte, dachte er darüber nach, ob es gut wäre, sie dabei zusehen zu lassen, wie er Birte Jospich tötete oder ob er sie vorher bewusstlos schlagen sollte. Er entschied sich für die erste Variante. Es würde sie einschüchtern, wenn sie mitbekam, wie hart er vorgehen konnte und was er draufhatte. Schließlich musste er sie davon überzeugen, dass er keineswegs der nette Kerl war, für den sie ihn hielt.

»Nein«, sagte er, »mehr kriege ich wirklich nicht runter. Außerdem will ich ja Ihrem Mann nicht alles wegessen.«

Beate beruhigte ihn, ihr Rupert käme ohnehin so bald noch nicht nach Hause, er sei dienstlich unterwegs. Während sie diesen Satz formulierte, tat es ihr schon leid. Sie nahm plötzlich etwas an dem Besucher wahr, das ihr vorher entgangen war. Da war ein Flattern in den Augen, ein nervöses Zucken um die Mundwinkel herum. Etwas an seiner Energie veränderte sich. Beate konnte es deutlich spüren. Es war, als würde sie einer Häutung beiwohnen, einem Gestaltenwandel, von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde.

Er kannte das. Es gab immer diesen einen Moment, bevor er zupackte. Da wussten seine Opfer schon, dass etwas mit ihm nicht stimmte, und spürten die Bedrohung. Nur die wenigsten nutzten diesen Augenblick und versuchten, noch zu entkommen. Sie trauten ihrer Wahrnehmung zu wenig, wollten sich nicht blamieren oder versuchten sich zu arrangieren.

Nicht so Beate. Sie schnappte sich das Messer, mit dem sie den Kuchen abgeschnitten hatte, nahm es fest in beide Hände, richtete die Spitze auf ihn und forderte: »Verlassen Sie sofort mein Grundstück.«

Gespielt lachend hob er beide Hände, zeigte sie zum Zeichen seiner Unschuld vor und versuchte, sie auf charmante Art nicht ernst zu nehmen. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Sie beleidigt? Ihren Pflaumenkuchen, Ostfriesland oder Ihren Mann? Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten.«

Sie wurde sofort unsicher. Die Messerspitze senkte sich. »Entschuldigen Sie, ich komme Ihnen bestimmt schrecklich hysterisch vor. Erst bitte ich Sie zu mir, serviere Ihnen Kuchen und dann …«

Er lächelte in sich hinein. Ja, so waren die Frauen. Sie hofften, heil davonzukommen, logen sich Situationen schön, statt die drohende Gefahr ernst zu nehmen.

»Ich werde Ihnen nichts tun«, log er. »Ich gehe jetzt besser. Ich habe schon zu viel Ihrer Zeit in Anspruch genommen.«

Er ahnte, dass sie ihn jetzt einladen würde, weil es ihr leidtat. Und immerhin konnte es ja sein, dass er bald schon in ihrer Nähe wohnen würde. Wie stünde sie dann da? Als eine hysterische dumme Kuh, die ihn mal mit dem Messer bedroht hatte, und er war doch nur vorbeigekommen, um zu fragen, wie es sich hier so das ganze Jahr über lebte.

»Nein, bitte, das tut mir leid«, beschwor sie ihn. »Kann ich Ihnen vielleicht noch ein Stückchen Kuchen für Ihre Frau einpacken oder …«

Er zeigte auf die Buddhastatue im Garten und das Meditationskissen bei den Tomatenpflanzen: »Gehören Sie einer Sekte an?«, fragte er, wissend, dass niemand gern verdächtigt wurde, einer Sekte anzugehören.

Sie begann gleich, sich zu erklären und zu verteidigen. Nein, sie hätte nichts mit einer Sekte zu tun, sie sei Reiki-Meisterin, aber das sei eine alte Heilkunst. Ihr Mann sei bei der Kriminalpolizei. Sie behauptete, zwar an Gott zu glauben, aber keiner Kirche anzugehören. Auf sein Nachfragen hin versicherte sie, auch keine Buddhistin zu sein, zumindest nirgendwo organisiert. Der buddhistische Glaube habe für sie lediglich einige interessante Ansichten des Lebens zu bieten.

Fast verschämt legte sie das Messer wieder auf den Tisch zurück und stellte sich so hin, als könne sie damit vergessen machen, die Spitze jemals auf ihn gerichtet zu haben.

Er stand auf und ging zur Tür. Jetzt, bei der Verabschiedung, war sie völlig ohne Argwohn und versuchte nur noch, einen guten Eindruck bei ihm zu hinterlassen. Sie war dumm genug, ihn von der Terrasse durchs Wohnzimmer zum Ausgang zu führen, so dass er einmal ihr Haus durchqueren konnte.

Es sah hier wohnlich aus, vielleicht nicht gerade nach Feng-Shui-Prinzipien eingerichtet, aber jede einzelne Ecke schien eine kleine Welt für sich zu sein.

Die Tür war von innen abgeschlossen, der Schlüssel steckte. Sie reichte ihm die Hand zum Abschied. Das war der Moment, in dem er zupackte.

Er bog ihre rechte Hand nach hinten und packte mit links ihre Gurgel. Sie lag sofort am Boden. Er drückte mit seinem linken Knie auf ihren Brustkorb und würgte sie.

Er wusste nicht, wie gelenkig Frauen auch in ihrem Alter sein konnten, wenn sie Yoga machten. Plötzlich hatte er ihre nackten Füße am Kopf. Ihre Zehen tasteten in seinem Gesicht herum. Er versuchte, sie abzuschütteln, dabei lockerte er den Würgegriff. Er verlor das Gleichgewicht und rollte schwerfällig bis zum Schuhschrank, wo Beates blaue Filzschuhe standen, die Rupert ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Genauer gesagt, zwei Tage später, weil er ihren Geburtstag vergessen hatte.

Sie stand schneller wieder auf den Beinen als er und zog einen Schirm aus dem Ständer. Sie stieß mit der Spitze nach ihm.

Mit so viel Widerstand hatte er nicht gerechnet. Glaubte sie tatsächlich, einen Kampf gegen ihn gewinnen zu können? Er fühlte sich verspottet.

Langsam erhob er sich, reckte sich, bog seine Finger durch, dass sie knackten, und achtete darauf, immer zwischen Beate und der Tür zu sein. Auf keinen Fall durfte sie nach draußen entkommen.

Sie hatte aber einen ganz anderen Plan. Sie versuchte nicht, durch den Eingang zu fliehen, sondern rannte quer durchs Wohnzimmer zur Terrasse. Dabei schrie sie laut um Hilfe.

Er bekam sie erst auf der Terrasse zu fassen.

Sie erinnerte sich an einen Selbstverteidigungskurs, den Rupert ihr aufgedrängt hatte. Sie war nicht der Meinung, so etwas jemals im Leben nötig zu haben und war nur dazu bereit gewesen, weil er sich im Gegenzug von ihr eine Reiki-Behandlung geben ließ. Er hatte versucht ihr beizubringen, wie man mit Mittel- und Zeigefinger ein V formte, um einen Stich auszuführen. Sie sollte in einem Kampf auf Leben und Tod einem überstarken Gegner einfach beide Finger in die Augen stoßen.

Sie hatte auf solche Ratschläge nur mit einem Kopfschütteln reagiert. Sie wusste damals schon, dass sie dazu nicht in der Lage war. Das war einfach viel zu krass. Sie war nicht gemacht für so etwas.

Er hatte ihr noch ein paar andere Sachen beigebracht, und eine davon funktionierte tatsächlich: Mit der offenen Handfläche dem anderen unter die Nase zu hauen, das schaffte sie mit einer kurzen, schnellen Bewegung.

Sie wusste nicht, wie effektiv diese Verteidigungstechnik wirklich war. Der Eindringling jaulte los wie der einsame Seehund in Ann Kathrin Klaasens Handy. Der Schlag schien ihn fast blind gemacht zu haben. Er torkelte herum. Blut schoss aus seiner Nase. Die Tropfen verteilten sich in der Wohnung.

Sie hatte im Grunde schon gewonnen und machte dann den entscheidenden Fehler. Es tat ihr leid, ihrem Gegenüber so weh getan zu haben. Sie glaubte, der Kampf sei beendet, wollte ihm ein Taschentuch reichen, Erste Hilfe leisten oder eventuell einen Arzt rufen. Sie hörte sich diese Fragen stellen.

Geier taumelte und wischte sich mit dem Handrücken der linken Hand über die Nase, die eine blutige Spur darauf hinterließ. »Sie haben mir das Nasenbein gebrochen!«, jammerte er und erhöhte damit noch ihre Schuldgefühle.

Sie trat heran, um sich anzusehen, was sie angerichtet hatte. Noch während seine Faust sie traf, stellte sie sich vor, dass Rupert später sagen würde: Wie konntest du nur so dämlich sein? Warum hast du nicht deine Chance genutzt und dem angeschlagenen Kerl ein Stuhlbein über den Kopf gezogen?

Was ist bloß mit mir los, dachte sie. Ich versuche mich zu verteidigen, ohne dem anderen weh zu tun.

Zwischen Wohnzimmertür und Terrasse wurde sie ohnmächtig.

*

Da Rupert ab jetzt Top Secret benutzte, verloren die anderen Kanäle, über die er sonst Nachrichten austauschte, sein Interesse. So hatte er lange nicht mehr auf WhatsApp und Messenger nachgesehen. Beates Sprachnachricht war ihm entgangen. Er hörte sie jetzt in Wellers Beisein ab.

Liebster, wir haben ein Problem. Der Wagen kommt so nicht mehr über den TÜV , ich habe ihn zur großen Inspektion abgegeben. Bei Immoor sagen sie, es würde sich im Grunde kaum noch lohnen und ob wir nicht lieber einen neuen Gebrauchten haben wollen. Die haben auch gute Jahreswagen … Meine Reiki-Kurse laufen aber jetzt erst wieder langsam an. Durch Corona ist ein ziemliches Loch in der Kasse entstanden. Wir müssen das bald entscheiden. Ruf mich doch mal an, wie du darüber denkst.

Weller lachte sich schlapp. »Unser großer Gangsterkönig hat nicht genug Kohle, um seine Schrottkarre über den TÜV zu bringen, aber kauft gerade für Milliarden Immobilien. Wolltest du nicht Juist kaufen oder Norderney?«

Rupert schüttelte den Kopf. »Ich dachte eher an Langeoog oder Wangerooge.«

Er antwortete seiner Beate per Sprachnachricht: Ich hab gerade keinen Kopf für so was, Liebste. Wenn ich zurückkomme, regeln wir das.

»Was soll der Quatsch?«, fragte Weller. »Kauf doch einfach ein neues Auto.«

»Das ist nicht so einfach.«

»Wie, nicht so einfach? Du hast mir doch gerade noch angeboten, ich könne von dir zehntausend im Monat kriegen, wenn ich dich beschütze.«

Weller stand am großen Fenster und sah auf den Kölner Dom. Das Gebäude hatte was, fand er, konnte aber den Blick auf die Nordsee nicht wirklich ersetzen. Das Meer kam ihm göttlicher vor als der Dom. Er fragte sich, ob das blasphemische Gedanken waren und ob er die überhaupt äußern durfte. Jedenfalls empfand er so. Das musste er sich zugestehen. Und er mochte Kirchen und glaubte an Gott.

»Pro Woche, nicht pro Monat«, maulte Rupert und machte dann eine Geste, als würde das überhaupt keine Rolle spielen. »Dir kann ich so viel Kohle rüberschieben, wie du willst, Weller. Wir schöpfen aus dem Vollen. Aber was soll denn dann Beate von mir denken? Die ist doch so stolz darauf, dass ich als Bulle nie Geld genommen habe, weißt du? Das ist eine Frau, die steht auf Männer mit Charakter. Wenn die den Eindruck kriegt, dass ich käuflich bin, dann verlässt sie mich, das sag ich dir.«

»Mit allem anderen wird sie fertig?«, fragte Weller. »Deine ständigen Affären, deine blöden Sprüche, dein …«

Rupert klopfte sich gegen die Brust: »Für Beate zählt nur, was tief in einem drinsteckt. Sie liebt meinen ehrlichen Kern.«

»Ja, wenn du so was hast, wie schön für dich. Aber ich glaube, eine funktionsfähige Karre fände sie auch nicht schlecht. In Ostfriesland kann man die Einkaufstüten nicht zu Fuß transportieren.«

»Sie fährt Rad.«

»Mensch Rupert, mach dich nicht lächerlich. Erzähl ihr irgendwas. Du hast eine Erbschaft gemacht oder im Lotto gewonnen oder …«

»Ich spiele seit zwanzig Jahren Lotto. Sie kennt meine Zahlen ganz genau. Sie weiß, ob die gekommen sind oder nicht. Und eine Erbschaft – wer soll denn da gestorben sein?«

Weller hatte eine Idee und fand sich toll: »Sag ihr, du hast es beim Poker gewonnen oder, besser noch, beim Roulette. Ich bin dein Zeuge. Wir haben gemeinsam Roulette gespielt, und du hast die Bank geknackt.«

»Beate mag es nicht, wenn ich Glücksspiele mache. Lotto geht gerade noch, aber Roulette, Poker und so, das ist für sie schon alles am Rande des Rotlichtmilieus.«

Weller stöhnte: »Mein Gott, stehst du unter dem Pantoffel! Ich hatte auch keine Ahnung, wie spießig sie ist.«

Rupert ging zum Gegenangriff über: »Was würde deine Ann Kathrin denn sagen, wenn du nach Hause kommst, eine Tüte voll Geld auf den Teppich kippst und sagst, das hab ich beim Roulette gewonnen.«

Weller lachte: »Sie würde mir vermutlich gratulieren.«

Rupert wiegte den Kopf hin und her. Das konnte er nicht ganz glauben. »Und dann«, fragte er, »was würdet ihr dann tun?«

»Dann würden wir uns lieben«, gab Weller an, um Rupert gegenüber zu zeigen, dass er eben doch noch ein Liebesleben hatte.

Das interessierte Rupert nun wirklich. »Auf dem Boden, zwischen den Geldscheinen?«

Weller drückte die Brust raus und zog den Bauch ein: »Ja, vermutlich.«

Rupert sah ihn ungläubig an, und Weller relativierte: »Na ja, gut, vielleicht würden wir dazu dann ins Bett gehen.«

»Klar«, grinste Rupert, »oder sie hat Kopfschmerzen und ihr guckt Fernsehen.«

*

Dr. Sommerfeldt konnte sich nicht vorstellen, dass Rupert seiner Geliebten gegenüber lange dichthalten würde. Er war genau der Typ, der sich rasch verplapperte. Es wunderte Sommerfeldt sowieso, dass Rupert als Frederico Müller-Gonzáles noch nicht aufgeflogen war.

Vielleicht riss er sich in Gangsterkreisen ja zusammen, weil es um sein Leben ging, aber Frauke gegenüber würde bestimmt bald der kleine Aufschneider mit ihm durchgehen, der gern damit angab, einen Wissensvorsprung vor allen anderen zu haben. Oft war das in seinem Leben ja noch nicht der Fall gewesen.

Sommerfeldt entschloss sich, es selbst zu tun. Er suchte Frauke in ihrer Suite auf. Er kam mühelos an ihrem Bodyguard Tiger vorbei, der auch nicht wagte, den Klinikleiter zu durchsuchen, sondern ihm stattdessen noch die Tür öffnete und eine Verbeugung machte.

»Der Doktor möchte Sie sprechen«, rief Tiger und ließ die zwei wieder allein. Für Sommerfeldt war er als Bodyguard damit im Grunde erledigt. Er arbeitete gern mit Fachpersonal, und Tiger war bei einer direkten Auseinandersetzung möglicherweise eine richtige Kampfmaschine, aber er dachte nicht genug mit, checkte nicht genug ab.

Frauke saß auf dem Balkon und beobachtete mit ihrem Fernglas ein paar Löffler und Austernfischer, die sich zu einer seltenen Konferenz im Deichgras zusammengefunden hatten. Sie trank aus einem Sektglas ostfriesisches Leitungswasser. Sie fand, es schmeckte heute besser als Champagner.

Sie bot Sommerfeldt auch davon an. Er stimmte zu. Das Wasser hatte sie in eine edle Karaffe abgefüllt. Das geschliffene Kristall leuchtete in der Abendsonne wie ein Diamantencollier.

»Was führt dich zu mir?«

Sie freute sich, ihn zu sehen. Sie rechnete mit einem Gespräch über Literatur. Sie wollte ihm Fragen zu Dr. Schiwago stellen. Er hatte etwas von ihm, fand sie. Nicht, dass er Omar Sharif aus der Verfilmung ähnlich gesehen hätte, das nicht, aber da war etwas in seinem Charakter …

»Wenn ich dich sehe«, sagte sie, »muss ich manchmal an Dr. Schiwago denken, einen Mann, der mitten in revolutionären gesellschaftlichen Umwälzungen versucht, zu sich zu finden oder er selbst zu bleiben. Dann wieder an Greystoke …« Als müsse sie erklären, wer Greystoke war, sagte sie: »Tarzan, zurückgekommen aus dem Dschungel, der die tierischen Verhaltensweisen noch ganz in sich trägt, aber bereits führendes Mitglied der englischen Oberschicht wird. Ja«, lachte sie, »so kommst du mir vor.«

Er nahm einen Schluck Wasser. Die Löffler und die Austernfischer trennten sich jetzt, während ihre Schnäbel laut klapperten. Die eine Gruppe flatterte nach Westen, die andere nach Osten davon, beide in Richtung Watt.

»Du romantisierst mich«, sagte er. »Einerseits gefällt mir das, ja, es schmeichelt mir, das gebe ich zu, andererseits möchte ich gerne, dass du die Wahrheit über mich weißt. Vielleicht spürst du da etwas.«

Sie setzte sich anders hin und musterte ihn. »Heißt das, es gibt da ein Geheimnis?«, fragte sie neugierig.

»Ja, so kann man es wohl nennen. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Mein wirklicher Name ist nicht Ernest Simmel.«

Sie riet: »Sondern den hast du dir zugelegt nach zwei Schriftstellern, die du magst, Ernest Hemingway und Johannes Mario Simmel.«

Er nickte.

»Da kann man ja froh sein«, lachte sie, »dass du dich nicht Boris Dostojewski genannt hast, nach Boris Pasternak und …«

Er ließ sie nicht ausreden, sondern legte seinen Zeigefinger über ihre Lippen und flüsterte: »Pssst …«

Sie schwieg und er auch. Er musste durchatmen, bevor er es schaffte, mit der Wahrheit angemessen herauszukommen. »Ich habe eine Gesichts-OP hinter mir. Das waren wirkliche Spezialisten. Nobelpreisverdächtige Fachleute. Mein Bild hing früher in jedem Polizeipräsidium. Der Name, unter dem ich wohl den meisten bekannt bin, ist …«

Noch bevor er es aussprechen konnte, hauchte sie es: »Dr. Bernhard Sommerfeldt.« Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an und hielt sich eine Hand vor den Mund.

Er nickte. »Ja, der bin ich. Ich habe nicht weit von hier eine Hausarztpraxis geführt. Man hat mir sechs Morde angelastet, und ich müsste eigentlich in Lingen im Gefängnis sitzen, aber …«

»Ich weiß. Du bist geflohen. Man lastet dieser Kommissarin Klaasen noch heute an, sie sei an deiner Flucht beteiligt gewesen. Sie und ihr Ehemann, dieser Frank Weller. Ich habe es in den Illustrierten gelesen. Und dann war doch noch irgend so ein depperter Polizist dabei, der von nichts eine Ahnung hatte und …«

»Rupert«, erklärte Sommerfeldt.

»Genau. Das war sein Name«, lachte Frauke. »Was für ein bescheuerter Name. Ist das eigentlich sein Vor- oder sein Nachname?«

Sommerfeldt zuckte mit den Schultern. »Gut, dass du es so gelassen nimmst.«

»Ich bitte dich! Ich habe ständig als Miet-Ehefrau mit Männern zu tun gehabt, die mal so, mal so hießen. Unter ihren richtigen Namen wurden die meisten wohl gesucht oder stellten zumindest nichts Besonderes dar.« Sie berührte seinen Unterarm und fragte: »Sag mir, Sie haben dich wegen fünf- oder sechsfachen Mordes verurteilt. Stimmt doch, hm?«

Es frischte ein wenig auf. Sommerfeldt legte ihr eine flauschige Decke um die Schultern. Immerhin war sie ja noch seine Patientin.

»Sechs Morde haben sie mir nachgewiesen«, gestand er.

»Und – du bist unschuldig?«, fragte sie.

Er lachte. »Oh nein, das bin ich nicht. Sie haben mir nur sechs Morde nachgewiesen. In Wirklichkeit waren es schon ein paar mehr.«

»Du hast nur Dreckskerle umgelegt, stimmt’s?«

Er wiegte den Kopf hin und her. »Ja, es gibt schon einige Leute – hauptsächlich Frauen, die glauben, ich hätte die Welt ein bisschen sicherer und lebenswerter gemacht.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte sie und kuschelte sich in die Decke. Sie zog sie vor ihrer Brust zu wie einen Theatervorhang, als müsse sie sich gegen ihn schützen und die Vorstellung sei beendet.

Er sagte nicht: Weil ich Angst habe, dass dein Typ, die alte Plaudertasche, dir alles verrät , sondern mit weicher Stimme raunte er: »Ich wollte nicht, dass eine Lüge zwischen uns steht.«

Sie schmolz dahin.

Irgendetwas wehte in sein linkes Auge. Er rieb es ganz heftig mit der Hand.

»Nicht«, sagte sie, »das müsstest du als Doktor doch wissen. Zeig her. Was ist da?« Sie fasste sein Gesicht an, hielt sein Auge weit offen und suchte, fand aber nichts. Ihr Gesicht war jetzt ganz nah an seinem. Sie konnte seinen Atem riechen. Ihre Lippen berührten sich schon fast. Sie wusste genau, was in den nächsten Sekunden passieren würde, wenn sie jetzt nicht die Notbremse zog.

Sie tat es. Sie wandte sich von ihm abrupt ab und verschränkte die Arme vor der Brust: »Das sollten wir besser nicht tun«, sagte sie.

»Warum nicht?«, fragte er.

Sie sah ihn bewusst nicht an, zeigte ihm den Rücken und konzentrierte sich auf die Deichkrone. »Frederico hat um meine Hand angehalten«, behauptete sie, wissend, dass es nicht ganz so gewesen war. Es wäre ihr nur blöd vorgekommen, Sommerfeldt zu gestehen, dass sie um seine Hand angehalten hatte und immer noch auf ein entschiedenes Ja wartete. Oder war es schon ein Ja, wenn der andere sagte: Kauf uns ein paar Immobilien. Geld spielt keine Rolle .

»Es tut mir leid«, gestand Sommerfeldt, »ich wollte nicht zu weit gehen. Du bist eine bezaubernde Frau. Kein Wunder, dass du in mir Gefühle auslöst.«

Er wusste, dass sie sich jetzt nur aus Loyalität Frederico gegenüber nicht auf ihn einließ. Sie fühlte sich schon nicht mehr als Miet-Ehefrau und entdeckte jetzt in sich Charaktereigenschaften, die auch etwas mit Treue und Loyalität zu tun hatten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, ihre Gefühle zu gewinnen und die für Frederico zu torpedieren, wenn er ihr verraten hätte, wer Frederico Müller-Gonzáles wirklich war. Doch das kam ihm zu billig vor.

Er machte einen Schritt rückwärts und sah sie sich noch einmal an.

Auf so etwas Schönes, dachte er, muss man auch schon mal warten können. Die Zeit spielte für ihn, das war ihm klar.

Er fragte sich, ob ein eifersüchtiger Rupert ihn einfach hochgehen lassen würde. Ein Nebenbuhler im Gefängnis oder auf der Flucht war halt nicht ganz so störend wie einer, der als Chefarzt eine Klinik leitete und als Gesundheitsminister der Familie ein effektiv arbeitendes System von Krankenhäusern aufbaute.

*

Pascal fragte sich, ob er noch lebte oder schon tot war.

War das hier die Hölle oder das berühmte Fegefeuer? Nur eins war klar: Im Himmel war er ganz sicher nicht.

Er saß auf dem blauweiß gekachelten Boden eines Badezimmers, das unbenutzt aussah. Es gab – ungewöhnlich für ein Badezimmer – kein Fenster.

Aus der Toilette roch es nach frischen Südfrüchten. Alles war auf fast sterile Art sauber, ja unbewohnt. Es stand nicht das übliche Zeug im Badezimmer herum. Keine Zahnbürsten in den Bechern. Keine Sprays, Cremes oder Kämme auf der Ablage.

Pascal spürte seine Beine nicht mehr. Er sah sie, konnte sie auch bewegen, aber sie waren wie taub. Wattig. Gleichzeitig kamen sie ihm geschwollen vor. Überhaupt war sein ganzer Körper schwer geworden. Steif. Am schlimmsten die Hände und die Füße. Zwischen den Schulterblättern juckte es, als sei er nicht an die Heizung gebunden, sondern nackt in einem Brennnesselfeld gefesselt worden.

Er hatte etwas Feuchtes im Mund. Am liebsten hätte er den Knebel ausgelutscht, so trocken war sein Hals. Das Atmen wurde zur Qual. Durch den Mund konnte er keinen Sauerstoff einsaugen, und ein Nasenloch schwoll zu. Das linke. Jedes Luftholen wurde zum Kraftakt. Es pfiff jämmerlich, nicht wie bei einem Menschen, der schnarcht, sondern wie bei einem ertrinkenden Nichtschwimmer, der noch einmal den Kopf aus dem Wasser reckt.

Er hatte den Mord an seinem Vater nicht gesehen, und niemand hatte es ihm gesagt, aber er wusste es, so wie man weiß, ob Sommer oder Winter ist, Tag oder Nacht, selbst wenn man in einem fensterlosen Zimmer wach wird.

Als er noch zur Grundschule gegangen war, war seine größte Angst gewesen, beide Eltern könnten bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen. Das war einem Jungen passiert, den er kannte. Jetzt würde es Wirklichkeit werden, das spürte er mit jeder Faser seines Körpers. Ja, sein Körper wusste es schon und rebellierte dagegen. Seele und Verstand weigerten sich noch, es anzunehmen.

Er hoffte, gleich zu erwachen und zu Hause in seinem Bett zu liegen, im Zimmer mit dem Samurai-Schwert an der Wand. Er schnaufte nach Luft und presste den Hinterkopf gegen die Heizungsrohre.

Was kann ich tun, fragte er sich. Gibt es überhaupt noch irgendetwas, das ich tun kann?

Das hier bedeutete ohne Zweifel das Ende für sein Leben – zumindest so, wie er es bisher geführt hatte.

Er stellte sich vor, dass dieser schreckliche Mann gleich hereinkommen, an den Händen das Blut seiner Eltern. Im Gesicht dieses Grinsen, das leider nur auf den ersten Blick dämlich und unverschämt war, dann aber, wenn man ihn näher kennenlernte, rasch teuflisch wurde.

Als sein Blut warm am Handgelenk herunterlief, bis zu seinen Ellbogen, gab er auf, die Fesseln durchscheuern zu wollen. Etwas in ihm zerbrach. Es war nicht der schneidende Schmerz, der ihn fertigmachte, sondern es waren seine Phantasien und der warme Blutstropfen, der fast zärtlich an seinem Unterarm herunterkroch wie eine kleine Schnecke. Er betrachtete den schmalen roten Fluss und verlor für einen Augenblick jede Hoffnung. Er, der immer so gern von zu Hause wegwollte, seine Eltern spießig und peinlich fand, hatte jetzt nur noch ein Ziel: mit ihnen zusammen zu sein. Im Wohnzimmer, während der Fernseher lief, oder im Familiengrab. Hauptsache, zusammen!

*

Kevin Janssen war stolz darauf, seinem Spitznamen Lisbeth Salander mit der App alle Ehre gemacht zu haben. Top Secret wurde inzwischen auf einundzwanzig Geräten genutzt. Stündlich wurden es mehr. Seine Entwicklung mauserte sich zum Bestseller. Er hoffte, dass zu viele Nutzer nicht den Rahmen sprengen würden. Noch speicherte und kontrollierte er jede Aktivität, aber bald schon würde er dafür ein Team brauchen. Das Ganze kam ihm vor wie eine Lawine, die talabwärts rutschte.

Er rief Rupert an, denn es war undenkbar für ihn, innerhalb der Dienststelle für seine nicht ganz legale Aktion einen Etat oder gar personelle Verstärkung zu bekommen.

Rupert lag auf dem Bett im Savoy. Er hatte für sich und Weller eine ayurvedische Ganzkörpermassage mit warmem Sesamöl bestellt und danach gleich eine Lomi-Lomi-Tempelmassage. Die Methode kam angeblich aus Hawaii. Durch rhythmische Streichbewegungen sollte ein Gefühl der Schwerelosigkeit entstehen. Da Rupert sich zwischen den zwei Massageangeboten nur schwer entscheiden konnte, nahm er halt beide. Ähnlich war er mit der Pizza und dem Burger verfahren.

In einer halben Stunde sollten die Massagen beginnen. Er freute sich darauf. Wenn sie schon unter Lebensgefahr die Welt retten mussten, dann sollten sie es sich dabei wenigstens gutgehen lassen, dachte er.

Nur die Entspannungsmusik machte ihn manchmal nervös, aber er konnte in der Wellnessatmosphäre schlecht bitten, die Hits der 80 er aufzulegen, obwohl ihm jetzt gerade nach Rock me Amadeus oder Skandal im Sperrbezirk war.

Jetzt hatte er Frederico Müller-Gonzáles am Haustelefon, der eine klare Botschaft aussprach: »Lass dich nicht narren, Bruder. Das Schwein lebt noch.«

»Klar«, sagte Rupert und fühlte sich gebauchpinselt, weil Frederico ihn Bruder nannte. Irgendwie waren sie Verbündete geworden.

»Der hat wahrscheinlich auf dem Schiff noch ein paar verräterische Mitarbeiter oder Konkurrenten mit hochgejagt und legt selbst irgendwo die Füße in die Sonne«, vermutete Rupert und kam sich sehr cool und voller Insiderwissen vor, als er das aussprach.

Ruperts Handy spielte Born to be wild . Er hielt sich ein Ohr zu und konzentrierte sich auf Frederico. Weller deutete er mit Blicken an, er solle ans Handy gehen. Weller schüttelte den Kopf und brummte: »Bin ich deine Sekretärin?« Er tat nicht, was von ihm erwartet wurde, sondern verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Rupert drückte das Telefon fester an sein Ohr, um Frederico verstehen zu können: »Häng dich an seine Liebste. Diese Silvia Schubert. Sie wird dich zu ihm führen.«

Rupert lachte: »Es sei denn, er hat mit dem großen Knall auf der Nordsee nicht nur versucht, seine Verfolger loszuwerden, sondern auch noch seine Alte … Er wird der trauernden Witwe bestimmt einiges hinterlassen und sucht sich jetzt ein neues Betthäschen, denkst du nicht?«

»Nein, glaub ich nicht. Sie wird uns zu ihm führen. Hast du Leute, die an ihr dran sind?«

»Klar«, behauptete Rupert und zischte in Wellers Richtung: »Geh dran, Mensch!«

»Und was soll ich sagen, wer ich bin?«

»Mein persönlicher Assistent«, schlug Rupert vor.

Weller stöhnte und winkte ab, ging dann aber doch ran, weil ihn dieser ständige Klingelton nervte. Da er nicht wusste, ob er einen Gangster, eine Miet-Ehefrau, eine Arbeitskollegin oder wen auch immer am Handy hatte und ihm nicht klar war, ob er sich mit Rupert oder Frederico zu melden hatte, sagte er: »Jaa … Der Herr kann im Moment leider nicht an den Apparat kommen. Sie reden mit seinem persönlichen Assistenten. Mit wem spreche ich?«

»Mensch, Weller, du bist Ruperts Assistent? Das ist ja ein Ding!«

Wellers Magen übersäuerte sofort. Er blaffte: »Wenn du irgendeinem in der Inspektion erzählst, dass ich …«

»Keine Sorge«, beruhigte Salander ihn kichernd, »ich spreche mit niemandem darüber. Immerhin ist das, was wir hier machen, nicht ganz legal.«

Rupert machte mit der Hand eine Bewegung, als wolle er Fliegen verscheuchen. Weller ging mit dem Handy ins andere Zimmer. Immerhin war die Suite groß genug, dass zwei Leute telefonieren konnten, ohne sich in die Quere zu kommen.

»Was willst du, verdammt?«, fauchte Weller.

»Ich brauche zusätzliche Leute. Mit unserer App sind wir echt in eine Marktlücke vorgestoßen. Wir befinden uns in einem exponentiellen Wachstum.«

Weller nervte allein der Ausdruck. Seit der Corona-Krise wusste offenbar jeder, was ein exponentielles Wachstum war, und benutzte das Wort schon für die Spritpreise an der Tankstelle, aber kaum jemand beherrschte die Kurvenberechnung wirklich.

»Ich brauche ein, zwei Mitarbeiter. Am besten ein ganzes Team. Hier müssen verschiedene Nachrichtenkreisläufe erfasst werden. Die Nachrichten müssen wir ja nicht nur haben, sondern auch mitlesen, verstehen, einordnen …«

»Konntest du dir das nicht vorher überlegen, verdammt?«

»Pflaum mich nicht an! Kaum macht man etwas, das erfolgreich wird, schon steckt man bis zum Hals in Schwierigkeiten. Hier, siehst du? Wir sind schon«, Weller hörte ein paar Klickgeräusche, als würde Salander auf einer Tastatur herumhacken, »bei siebenundfünfzig Benutzern. Wir hätten doch Geld dafür nehmen sollen. Wenn es so weitergeht, haben wir heute Abend bereits ein paar hundert, und nächste Woche benutzt die gesamte Unterwelt unsere App.«

Weller fuchtelte mit den Armen herum, nahm dann eins der bunten Kissen und warf es gegen die Wand. Am liebsten hätte er einen Punchingball benutzt. Vielleicht hatte Rupert recht und er brauchte dringend eine Entspannungsmassage.

»Ich kann dir doch jetzt keine Leute genehmigen! Wer soll das denn unterschreiben? Büscher? Klatt? Oder willst du damit gleich zur Leitenden Staatsanwältin? Vielleicht hat sie ja noch eine Idee.«

Zufrieden lächelnd erschien Rupert hinter ihm. »Gleich geht’s los, Alter. Mach dich schon mal locker. Du siehst so verkrampft aus.«

»Verkrampft? Hier, führ deine Gespräche doch selber!« Er reichte Rupert das Handy.

Während Rupert sich anhörte, was Kevin von ihm wollte, fluchte Weller: »Zusätzliches Personal …« Er tippte sich gegen die Stirn. »Klar. Am besten eine ganze eigene Sondereinheit, mit Büro, Sekretärin, Dienstwagen …«

Als Weller Rupert reden hörte, machte er erst ein paar Liegestütze. Er wusste nicht mehr, wohin mit den überschäumenden Energien. Für Rupert, das wurde Weller klar, war das alles nur ein Spiel, das ihm große Freude bereitete. Er hatte offensichtlich noch nicht begriffen, dass dies hier kein Monopoly war.

Rupert tönte: »Alles kein Problem, Lisbeth, du kriegst von mir, was du brauchst. Und wende dich bloß nicht an die Sesselfurzer in der Inspektion. Wir regeln das unter Männern.«

»Heißt?«, fragte Kevin verunsichert.

»Du eröffnest dir ein Konto bei der Kompensan-Bank. Das ist jederzeit gedeckt. Du hast ein Spesenkonto off limits. Ja, Junge, so nennt man das heutzutage. Und stell ein, wen du willst. Die meisten kriegt man ja für ein paar Euro. Du kennst die Spezialisten. Bloß nicht irgendwelche Typen aus unseren Reihen, die nur einen Fortbildungskurs gemacht haben. Wir brauchen richtige Fachleute, Typen vom Chaos Computer Club oder so.«

»Ja, und wer bezahlt die dann?«

»Ich natürlich. Ich sagte doch, dein Konto wird immer gedeckt sein. Aber sei vorsichtig. Gib ihnen nicht mehr als acht- oder zehntausend pro Monat, sonst drehen sie bloß durch, und jeder merkt, dass mit denen was nicht stimmt.«

»Ist ja krass! Verarschst du mich auch nicht?«

»Junge, du bist ein Genie. Genies darf man nicht mit bürokratischem Müll blockieren. Man gibt ihnen, was sie brauchen, damit sie tun können, was sie für richtig halten. Können wir auf der Basis zusammenarbeiten?«

»Rupert«, versprach Kevin, »du bist«, er suchte nach Worten, fand keins, das groß genug war. Fast hätte er gesagt: ein Gott für mich , doch dann begnügte er sich damit, zu sagen: »der Größte!«

Rupert drückte das Gespräch weg und sah den zerknirschten Weller, der gerade beim sechzehnten Liegestütz nicht wieder hochkam. »Das wird alles«, keuchte Weller, »böse enden.«

»Klar«, grinste Rupert, »für die Jungs von der anderen Seite. Wir werden am Ende als Sieger vom Platz gehen, Weller, und die anderen beschämt haben.«

Weller versuchte hochzukommen. Rupert reichte ihm die Hand.

»Glaubst du das wirklich?«

»Die denken«, erklärte Rupert und versuchte dabei auszusehen, wie er sich große Philosophen vorstellte, »sie hätten es mit ostfriesischen Provinzbullen zu tun. Mit Formularen und engen Dienstplänen.«

»Und mit wem haben sie es zu tun?«, fragte Weller.

»Mit uns«, lachte Rupert. »Und wir sind unberechenbar.«

*

Birte Jospich ins Haus zu schleppen war nicht einfach. Sie half kein bisschen mit, sondern machte auf ohnmächtig. Er kannte solche Situationen nur zu gut. Er wusste, wie wirklich Ohnmächtige aussahen und wie es war, sie zu transportieren. Die hier tat nur so, um es ihm besonders schwer zu machen.

Er hatte seine Methoden, um gespielt Ohnmächtige aufzuwecken. Er wuchtete sie hoch über seine Schulter und ließ sie dann einfach wieder runterknallen. Wer noch wache Instinkte hatte, reagierte und versuchte, sich abzustützen oder das Aufkrachen des Kopfes abzumildern. Nur wirklich ohnmächtige Menschen oder Leichen fielen völlig ungeschützt, wie ein Sack Kartoffeln. Aber sie kreischten nicht und sie versuchten auch nicht, ihren Kopf zu schützen, wie Birte.

Jetzt lag sie verrenkt vor dem Schuhschrank im Flur und suchte ängstlich eine Position, um sich vor Schlägen oder Tritten zu schützen, die sie erwartete.

Beate musste das alles mit ansehen. Er hatte die Küchentür ausgehängt und Beate daran gefesselt. Sie war mit Isolierband getaped. Die Tür hatte er so gestellt, dass Beate von dort aus mitbekam, was im Flur, in der Küche und im Schlafzimmer geschah. Sie ahnte, warum er das gemacht hatte. Er wirkte jetzt zwar völlig verrückt, handelte aber planvoll und organisiert. Es hatte etwas von Professionalität an sich. Jeder Handgriff saß. Alles wirkte in seiner Ungeheuerlichkeit trotzdem, als sei es oft geprobt worden.

Er zerrte Birte an ihren Haaren zum Schlafzimmer. Er schleifte sie über den Boden. Der Teppich kräuselte sich, und eine große, bunte Vase fiel um.

Er warf sein Opfer aufs Bett. Alles sah für Beate so aus, als sollte sie gleich Zeugin einer Vergewaltigung werden, doch Beate wusste, dass es darum nicht ging. Stattdessen sollte sie zusehen, wie er die Frau tötete, damit sie wusste, was sie selbst zu erwarten hatte. Alles, was er dieser Frau antat, sollte sie erschrecken. So wollte er ihre Angst ins Unermessliche steigern.

Er baute sich vor Beate auf und grinste: »Wenn man eine tote nackte Frau im Ehebett findet, dann wird der normale ostfriesische Bulle, verblödet, wie er ist, sofort glauben, dass sie aus Eifersucht umgebracht wurde. Wenn sie dann auch noch deine Fingerabdrücke am Messer in ihrer Brust finden, ist der Fall für sie klar. Nur dein Göttergatte wird wissen, dass du keineswegs auf der Flucht bist und dass ich dich habe. Ich schicke ihm nämlich Fotos von dem Spaß, den wir zusammen haben. Du könntest mir helfen, sie zu töten. Möchtest du das?«

Beate nickte, dabei wurde ihr dramatisch klar, wie eng ihre Bewegungsspielräume waren. Sie hatte es mit einem Fesselkünstler und Klebefetischisten zu tun. Nur, wenn sie völlig still stand, tat es nicht weh. Schon der Versuch einer Kopfdrehung schmerzte. Mit einem Nicken schnürte sie sich selbst den Hals zu.

Er schien erfreut, doch sie ahnte, dass er gern Emotionen heuchelte oder dass sie rasch ins Gegenteil umschlugen. Bei ihm wusste sie nicht, was er spielte und was echt war.

»Du willst gnädig mit ihr sein und sie rasch ins Jenseits befördern, stimmt’s, Beate? Damit sie nicht so lange leiden muss. Ich würde ihr nämlich die Gliedmaßen einzeln abtrennen und sie langsam verbluten lassen. Du dagegen«, säuselte er, »bist ein guter Mensch. Du wirst ihr mit einem kurzen Stich ins Herz einen schnellen Tod bereiten. Richtig?«

Erneut versuchte sie zu nicken. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem. Sein Atem wehte sie an wie ein Hauch des Todes. Er führte die Klinge seines Messers schon unter die ersten Klebestreifen an ihrem rechten Arm.

Sobald ich das Messer habe, werde ich ihn damit attackieren, schwor sie sich selbst. Sie versuchte, sich Mut zu machen. Sie brauchte jetzt einen Moment äußerster Tapferkeit. Sie musste es riskieren und alles auf eine Karte setzen.

Aber er schien ihre Gedanken lesen zu können und stoppte, bevor auch nur der erste Schlitz im Gaffaband klaffte. Er nahm ihre Nase zwischen die Finger und drehte und kniff sie. »Denkst du, ich bin blöd, du gelenkiges kleines Luder? Wenn ich dir das Messer gebe, gehst du damit auf mich los. Besser ist es wohl, du schaust einfach nur zu. Und ganz so leicht wollen wir es der Dame doch auch nicht machen. Schließlich wollen wir ein bisschen Spaß haben, oder?«

Er ließ von ihr ab und drehte ihr den Rücken zu. Er sagte es laut zu sich selbst: »Vielleicht sollte ich sie aufs Rad flechten, so biegsam, wie diese Yogatussi ist.«

Beate ließ sich nichts vormachen. Sie hatte längst begriffen, dass er sich an ihrer Angst weidete. Sie schloss für einen Moment die Augen. Es war wie ein seelisches Durchatmen.

Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Ehemann Rupert, wie er vor dem Haus parkte, aus dem Auto stieg und seine Hose in den richtigen Sitz brachte. Er ging zur Tür. In ihrer Vorstellung reichte Ruperts Erscheinen auf der Bildfläche, um diesen ekelhaften Verbrecher zu vertreiben. Die Wirklichkeit würde viel heftiger werden, drohte ihr Verstand, doch all ihre Hoffnungen klammerten sich an ihren Rupert. Er war wie gemacht dafür, mit dieser Situation fertigzuwerden. Ein Hauptkommissar mit guter Nahkampfausbildung, regelmäßigen Schießübungen und fest entschlossen, für seine Frau ein Held zu sein. Gut, er hatte eine Schussverletzung nur knapp überlebt und humpelte ein bisschen. Man durfte auch seine Rückenprobleme nicht völlig unberücksichtigt lassen. Er hatte manchmal Schwierigkeiten beim Treppensteigen und beim Schuhezubinden oder beim Spülmaschine ausräumen, aber sonst war er noch topfit.

Sie fragte sich, ob der Mann, der Rupert angeschossen hatte, sich jetzt hier in ihrem Haus befand. Gleichzeitig schämte sie sich dafür, dass ihr nur gewaltsame Lösungen einfielen. Sie hielt sich selbst für spirituell und galt als sehr feinfühlig. Sie hatte sich in ihrer Jugend der Friedensbewegung zugehörig gefühlt und gegen die Stationierung von Atomraketen in Ost und West demonstriert. Sie hatte den Anspruch an sich, Dinge friedlich zu lösen, den Ausgleich zu suchen und Kompromisse zu finden. Aber angesichts der Aggression, der sie sich ausgesetzt sah, erschien ihr die Suche nach einem Kompromiss verrückt. Dieser Mann musste einfach nur gestoppt werden.

Sie glaubte nicht, dass er unter Drogen stand. Sie hatte es einfach zum ersten Mal im Leben mit einem wirklichen Sadisten zu tun. Aus diesem Holz mussten KZ -Aufseher oder Totenkopf-SS -Männer gemacht gewesen sein, dachte sie. Sie hatte sich oft gefragt, wie Menschen in der Lage waren, solche Gräueltaten zu begehen. Jetzt bekam sie eine Ahnung davon. Wenn ein System solche Menschen nicht stoppte, sondern sogar noch protegierte, ja für ihre Brutalitäten belohnte, dann tobten sie sich aus.

Trotzdem wollte sie versuchen, ihn zu erreichen. Vielleicht gab es ja auch in ihm irgendeinen gesunden Kern, Überreste einer einigermaßen intakten Persönlichkeit. Irgendetwas, so glaubte sie, war in seinem Leben, in seiner seelischen Entwicklung, grundlegend schiefgelaufen. Nein, das entschuldigte nichts, aber vielleicht gab es ihr eine Ansatzmöglichkeit. Niemand wurde doch als so ein schrecklicher Mensch geboren. Doch um mit ihm zu reden, musste er sie überhaupt erst in die Lage versetzen, sprechen zu können. Gaffaband klebte auf ihren Lippen.

Sie musste mit ansehen, wie er der Frau in ihrem Ehebett die Kleider mit einer Schere vom Körper schnitt. Zwischen den Fetzen ihrer zerstückelten Kleidung erstach er sie.

Beate zählte die Stiche nicht. Sie zuckte bei jedem zusammen, als würde die Klinge sie treffen.

Mit seinem Handy machte er Fotos von seinem toten Opfer. Beate begriff, dass er die Aufnahmen verschickte. Dieser Mann tat das nicht nur für sich selbst, sondern im Auftrag. Aber er genoss, was er tat.

In ihren Ohren war ein Rauschen und Klingeln. Das Zimmer begann zu trudeln, die Wände kamen näher und zerflossen.

»Wenn dein Stecher nach Hause kommt, wird er zunächst denken, dass du da im Bett liegst. Was glaubst du, wie erleichtert dein Rupert sein wird, wenn er danach deine Kleidung findet. So weiß er, dass ich dich mitgenommen habe. Nackt.«

Sie hatte keine Chance, zu sprechen. Er begann ohne Eile, mit der Schere auch ihre Kleidung zu zerschneiden. Sie spürte das Metall auf ihrer Haut. Es glitt an ihrem linken Bein entlang. Zweimal verletzte die Spitze der Scherenblätter ihre Haut. Er entschuldigte sich dafür, als täte es ihm tatsächlich leid, es war aber reiner Hohn.

Sein Handy meldete sich. Er ließ von Beate ab und schaute sich die Nachricht an, die er von George bekommen hatte.

Wir kommunizieren in Zukunft ausschließlich über Top Secret. Das ist eine sichere App. Lade sie dir runter.

Geier machte jetzt noch Bilder von Beate, verschickte die aber noch nicht an George. Er wollte noch etwas in der Hinterhand haben. Er spürte das triumphale Gefühl, wieder die Oberhand zu gewinnen.

*

Rupert lag wieder kauend auf dem großen Bett, links neben sich einen kalten Burger mit ein paar Pommes, rechts neben sich die Pizza. Er aß mit den Fingern und trank Bier aus der Flasche. Er rülpste gegen die Decke und sagte: »Es geht doch nichts über so ein schönes kühles Bier. Weißt du, Weller, in meinen Kreisen, da muss man manchmal Champagner schlürfen. Die tun immer alle so etepetete. Je schlimmer sie sind, umso feiner tun sie. Ich bin immer froh, wenn der Scheiß-Champagner alle ist und die guten Getränke kommen.«

»Mit guten meinst du vermutlich ein Pils, oder?«

»Ja, was denn sonst?«

Steppenwolf spielte wieder Born to be wild . Ruperts Handy meldete sich.

»Geh ran«, sagte Weller. »Das ist die Bumfidel. Die geht mir so was von auf den Keks, die hat schon dreimal angerufen. Glaub ja nicht, dass ich die noch mal abwimmle.«

Rupert nahm das Handy bewusst langsam in die Hand, betrachtete es, als wisse er gar nicht, wie man so ein Gespräch annimmt, oder als sei das Handy eine ihm noch unbekannte Erfindung. Dann meldete er sich ganz vornehm mit: »Sie wünschen?«

»Wir haben ein Problem.«

»Ich weiß. Zu viel Geld.«

»Ja, spotten Sie nur. Aber es gibt tatsächlich Probleme. Große Probleme!«

Rupert bemühte sich, fröhlich zu bleiben und die Oberhand zu bewahren: »Aber Frau Dr. Bumfidel, ich darf Sie doch auch privat so nennen, oder? Sie sprechen mit so einer Grabesstimme. Wissen Sie, Probleme sind doch gar nichts Schlimmes, sondern etwas Gutes.«

»Gutes?«

»Ja, sagt doch schon das Wort. P r o-blem. Pro heißt doch gut. Pro ist doch was Positives, oder nicht?«

»Ja, äh, ich verstehe nicht.«

Rupert entwickelte seine Theorie: »Wenn ein Problem etwas Schlimmes wäre, dürfte es ja nicht Pro-blem heißen, sondern zum Beispiel Anti-blem.«

»Bitte, können wir jetzt zur Sache kommen?«, flehte Frau Dr. Bumfidel. »Flickteppich und wesentliche Teile des Vorstands sind nicht mehr bereit, Ihre Verrücktheiten zu decken.«

Rupert richtete sich im Bett auf und biss von seiner Pizza ab, um sich zu beruhigen. »Der Flickteppich, dieser Schmierlappen! Was hat der vor? Zwergenaufstand oder was? Der Versager soll froh sein, wenn ich ihn nicht rausschmeiße!«

»Den kann man nicht so einfach kündigen!«

Rupert wurde rasch zu Frederico: »Soll ich ihn besser ausknipsen lassen? Nur weil der Versager nicht in der Lage ist, das ganze Geld unterzubringen …«

»Herr Dr. Flickteppich bemüht sich ja schon sehr. Aber ihm sind doch auch die Hände gebunden.«

»Hände gebunden«, spottete Rupert, als wisse er gar nicht, was das bedeuten solle.

»Im Grunde findet er Ihre Idee gut, diese Investitionen in die Klinik in Greetsiel, ihre Vorschläge, in Krankenhäuser und ins Gesundheitssystem zu investieren. Aber da müssen vorher die Bücher geprüft werden.«

Rupert prustete los. Die Pizzarestteilchen flogen aus seinem Mund, landeten auf dem Bett und auf Wellers Hemd, der vor dem Bett auf und ab ging und mithörte.

Rupert konnte vor Lachen kaum sprechen: »Die Bücher wollen Sie überprüfen, die Erbsenzähler! Wissen nicht, wohin mit ihrem Geld, wollen aber erst mal anderen auf die Finger gucken.« Dann brüllte er: »Und was soll bei so einer Buchprüfung rauskommen?«

»Na, ob das Haus solide durchfinanziert ist. Ob man mit Gewinnen rechnen kann oder …«

Rupert war außer sich und verbreitete jetzt Sommerfeldts Theorien: »Krankenhäuser sind nicht dazu da, Gewinne zu machen! Welcher Idiot ist denn darauf gekommen? Krankenhäuser sind dazu da, Menschen gesund zu machen! Wenn der Flickteppich einen Darmdurchbruch kriegt und ganz dringend eine OP braucht – ob er dann auch noch so einen Müll redet?«

Sie ruderte zurück, das war schon rein stimmlich zu hören. Sie war es nicht gewöhnt, angebrüllt zu werden: »Ja, aber … der hat doch auch nur Angst vor Kontrolle.«

»Wer soll uns denn kontrollieren?«, fragte Rupert. »Der Laden gehört uns!«

»Sie haben das noch nicht richtig verstanden. Wir können nicht machen, was wir wollen, wir sind an Gesetze gebunden, und Flickteppich hat Angst vor einer Überprüfung durch die BaFin.«

»BaFin? Was soll das sein?«, fragte Rupert.

Weller fasste sich an den Kopf und grummelte: »Er ist Vorstandsvorsitzender einer Bank und weiß nicht, was die BaFin ist. Man glaubt es nicht!«

Mit schriller Stimme erklärte Frau Dr. Bumfidel: »Das ist die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die kontrollieren, ob bei Versicherern, beim Wertpapierhandel, bei den Banken und so weiter alles mit rechten Dingen zugeht. Die unterstehen dem Bundesministerium für Finanzen.«

Weller sah sich das jetzt genau an. Er nahm es mit allen Sinnen wahr: Wie Rupert dalag, zwischendurch in die Pizza biss, einen Schluck Bier trank, und Weller fragte sich, ob Rupert wirklich nicht wusste, was die BaFin war oder ob er diese Frage nur gestellt hatte, um dieses übermächtige Monster kleinzumachen. Um Frau Bumfidel zu zeigen, dass er diese Leute nicht ernst nahm.

Der tut manchmal nur so blöd, dachte Weller. Und damit verunsichert er seine Gegner.

Ruperts Gelächter schien ihm recht zu geben. »Die BaFin«, kicherte er. »Ach so! Na klar! Jetzt erinnere ich mich. Das sind diese Helden, die bei Wirecard nicht gemerkt haben, dass vierzig Milliarden fehlen. Oder waren es fünfzig? Da frage ich mich doch, Frau Dr. Bumfidel, wie kann das passiert sein? Sind die BaFin-Leute so blöd? Dann brauchen wir sie nicht zu fürchten. Oder hatten die Wirecard-Leute sich ein paar Politiker gekauft, denn die BaFin steht doch auch unter Aufsicht, oder? Denen sind doch auch«, zitierte Rupert genüsslich, »bestimmt die Hände gebunden. So sagt man das doch gern, wenn man wider besseres Wissen etwas Falsches tut oder die Augen ganz fest zukneift, stimmt’s?«

Sie fühlte sich von Rupert in die Enge getrieben, machte aber noch einen Versuch: »Wenn die Finanzaufsicht uns auf die Finger guckt, wird uns niemand decken. Dann sind wir geliefert.«

»Klar«, grinste Rupert, »wir haben schließlich fünfzig Millionen zu viel, die die Wirecard-Leute zu wenig hatten. Das ist natürlich ein Problem. In dem Fall würde ich wirklich sagen, Problem ist was Gutes, finden Sie nicht? Während die Wirecard-Leute ein Antiblem hatten.«

Frau Dr. Bumfidel räusperte sich: »Wir können so lange hin und her diskutieren, wie wir wollen. Der Vorstand wird das nicht mitmachen.«

»Was wird er nicht mitmachen?«

»Zum Beispiel, dass Sie unser Geld auf den Konten der Kunden parken wollen, statt bei der Europäischen Zentralbank. Und erst recht nicht, dass den Kunden ständig Geld geschenkt wird.«

Rupert wurde jetzt ganz zu Frederico Müller-Gonzáles. Er räkelte sich auf dem seidenen Bettlaken und machte sich nichts daraus, dass eine halbe Pizza unter seinem Rücken lag. »Nun, was will denn dieser Flickteppich? Macht? Frauen? Hat er Dreck am Stecken?« Rupert lachte. »Oder braucht er selber Geld? Hat das große Finanzgenie etwa privat Schulden?«

»Sie meinen, ob er erpressbar ist?«

»Ja, so können Sie es auch nennen. Machen Sie mir eine vernünftige Personalakte, damit ich weiß, wo ich den Kerl anfassen kann. Und dann werden wir ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.«

»Sie erwarten doch nicht von mir, dass ich in seinem Privatleben herumspioniere, um zu gucken, ob er Dreck am Stecken hat?«

»Doch, genau das erwarte ich von Ihnen. Sie sind doch dazu da, mich zu unterstützen.«

»Ich mach keine kriminellen Dinge!«

Rupert lachte: »Ich weiß. Sie sind Hauptkommissarin. Wir arbeiten immerhin beide bei der gleichen Firma. Aber wir sind jetzt nicht hinter Falschparkern oder Fahrraddieben her. Wir kämpfen mit härteren Bandagen. Hier geht’s um Drogen- und Menschenhandel. Um Waffenschmuggel und …«

»Sie müssen mir nicht erzählen, worum es geht.«

»Ich frage mich«, sagte Rupert, »wer hier den Ernst der Lage nicht begriffen hat. Sie oder ich. Sagen Sie Flickteppich, dass ich ihn sprechen will, von Mann zu Mann, unter vier Augen.«

Ihre Stimme wurde brüchig. »Sie haben doch nicht etwa vor, ihn …« Sie rang nach Luft. »Man munkelt, dass Sie etwas mit der Explosion vor Borkum zu tun haben.«

»So, munkelt man das? Wie schön. Am Ende ist Ruhm doch nicht mehr als die Summe aller Gerüchte, die sich um eine Person ranken.«

Sie spürte, dass sich das Gespräch dem Ende näherte, wollte aber noch eins klarstellen: »Glauben Sie ja nicht, dass ich alle Ihre Schweinereien mitmache. Auf keinen Fall werde ich in Dr. Flickteppichs Privatleben für Sie rumschnüffeln. In den Polizeiakten ist er ohnehin ein unbeschriebenes Blatt. Man kann nichts gegen ihn vorbringen.«

»Das ist ja schrecklich«, gestand Rupert. »Mit solchen Leuten will ich einfach nicht zusammenarbeiten.«

Rupert knipste das Gespräch weg, stand auf, warf das Handy aufs Bett, reckte sich und begann sich auszuziehen, weil Pizzareste an seinem Hemd klebten und Zwiebel- und Thunfischkrümel an seiner maßgeschneiderten champagnerfarbenen Hose.

»Ruf Holger Bloem an«, befahl er Weller. Der wurde schon allein deshalb sauer, weil ihm der Tonfall nicht gefiel.

»Holger Bloem, den Journalisten?«

»Nein«, konterte Rupert, »den Golfchampion.«

»Spielt Holger Bloem neuerdings Golf?«, fragte Weller irritiert.

Rupert grinste: »Ja, seit der Papst wieder boxt und zum zweiten Mal geheiratet hat.«

Weller nickte betreten. Rupert setzte nach: »Holger soll seine journalistischen Fühler ausstrecken. Ich will alles über Flickteppich erfahren. Und Tante Mai-Li frage ich auch. Die hat ihre ganz eigenen Informationskanäle.«

»Wir sind von der Kripo«, gab Weller zu bedenken. »Wir haben unsere eigenen Ermittlungsmöglichkeiten.«

»Ja«, lachte Rupert, »deswegen frage ich ja lieber einen Journalisten oder eine erfahrene Clanchefin wie Mai-Li.«

*

Hannelore und Kleebowski gingen barfuß an der Wasserkante entlang in Richtung Westen, der untergehenden Sonne entgegen. Sabine beobachtete die zwei durch ihr Fernglas. Sie hatte ihre Freundin Hannelore noch nie so aufgekratzt und verliebt gesehen, und sie war Freundin genug, es ihr zu gönnen. Sie selbst fühlte sich noch nicht frei für eine neue Beziehung. Seit ihr Helmut tot war, lebte sie ein bisschen für sie beide weiter. Sie segelte jetzt. Das war eigentlich seine Leidenschaft gewesen, und sie spielte mit seinen Schlägern Golf. Indem sie seine Hobbys weiterpflegte, schien sie weiterhin eine Verbindung zu ihm zu haben.

Sie sah die Frau, die mit nackten Beinen, in einen Kapuzenpulli gehüllt, auf die beiden zulief. Die typische Joggerin, dachte Sabine zunächst. Schöne, schlanke Beine. Durchtrainiert. Aber anders als die meisten Joggerinnen, die Sabine beobachtet hatte, machte sie nicht viele kleine Schritte mit rhythmischen Armbewegungen, sondern sehr lange Schritte, ja fast Sprünge, wie jemand, der nicht einfach die Muskulatur optimal trainieren will, sondern eine Strecke rasch hinter sich bringen möchte. Die Frau kam ihr, je länger sie sie beobachtete, komisch vor.

Kleebowskis Informanten hatten ihm noch nicht gesagt, wo er Piri Odendahl finden konnte. Aber einer von ihnen hatte Piri einen Tipp gegeben. Sie wollte die Sache erledigen, bevor es ein anderer tat. Diesmal würde diese Frau sie nicht aus dem Konzept bringen. Piri hatte nicht die Nerven, um darauf zu warten, ihn alleine zu erwischen. Diesmal sollte alles schnell und glatt gehen. Die beste Zeit war – wie meistens – jetzt!

Sie war ganz sicher, Kleebowski vor sich zu haben. Sie hielt sich aber an die alte Berufskillerregel: Vergewissere dich immer, ob du auch den Richtigen erwischst. Den Richter interessiert es nicht, ob du die Zielfigur ausgeknipst hast oder irgendeinen anderen. Deinen Auftraggeber aber schon .

Also rief sie, als sie sich dem Pärchen von hinten auf zehn Schritte genähert hatte: »Kleebowski?!«

Hannelore wunderte sich, warum Alexander sich umdrehte. Sie sah das Gesicht der Frau, umrahmt von der dunklen Kapuze. Ihre Augen leuchteten fiebrig. Sie wirkte wie eine Erscheinung. Ihre Pistole hatte einen langen Schalldämpfer.

Als Kleebowski seinen Namen hörte, wusste er, worum es ging. In der Drehbewegung zog er, aber er war nicht schnell genug. Die erste Kugel traf ihn, da steckte seine Waffe noch halb im Holster.

Er versuchte, obwohl die Kugel bereits in seiner Brust brannte, seine Smith & Wesson auf Piri zu richten.

Hannelore kreischte.

Die zweite Kugel traf Kleebowski im Gesicht. Nicht zwischen den Augen, sondern etwas höher in die Stirn.

Er fiel nach hinten. Eine sanfte Welle spülte über seinen Körper und zog ihn ein Stückchen ins Meer zurück.

»Was haben Sie getan?!«, schrie Hannelore.

Piri zögerte. Sie sagte sich, dass es nur richtig und konsequent wäre, die Frau ebenfalls zu erschießen. Es durfte keine Zeugen geben.

Hannelore kniete jetzt in den auslaufenden Wellen. Ihre Finger verkrampften sich in Kleebowskis nasser Kleidung. Sie wollte ihn nicht ans Meer verlieren.

»Das ist unfair!«, brüllte sie. »Unfair!« Als sei sie auf den Himmel oder irgendeinen Gott wütender als auf die Killerin, denn sie sah abwechselnd Kleebowski an und reckte dann den Kopf nach oben und kreischte den Mond an.

Piri zielte mit ausgestreckten Armen auf Hannelores Kopf. Sie wollte schießen. Sie sagte sich, dass es notwendig war, aber zum zweiten Mal spürte sie es wie einen Fluch: einen zweiten Mord an einem Tag bekam sie einfach nicht hin. Sie würde die Frau leben lassen und hoffen, dass es niemals zu einer Gegenüberstellung käme …

Sie fischte ihr Handy hervor und versuchte, ohne ihre P 22 aus der Hand zu legen, ein Beweisfoto des toten Kleebowski zu machen. Eine Welle überspülte sein Gesicht. Es war schwierig für Piri, die richtige Position für ein Foto zu finden. Hannelore bewegte sich über Kleebowski. Piri trat nach ihr, um sie zu vertreiben.

»Warum rennst du nicht weg?!«, fluchte Piri. »Willst du, dass ich dich auch erschieße, du blöde Kuh?«

Hannelore griff Piri von unten an wie ein bissiger Hund, der sich auf ein Bein stürzt, um zuzupacken. Piri torkelte und wäre beinahe in die Wellen gefallen. Der Kapuzenpulli wurde nass und klebte am Körper. Sie hielt das Handy hoch. Es sollte auf keinen Fall Salzwasser abbekommen. Handys waren empfindlicher als Pistolen.

Hannelore hatte plötzlich etwas Furchtloses, Walkürenhaftes an sich. Sie war rasend vor Wut.

Piri floh. Sie rannte in Richtung Dünen. Sie hörte nur noch ihren eigenen Atem. In der linken Hand hielt sie das Handy, in der rechten die Pistole. Ein Schuss löste sich. Um wenige Zentimeter verfehlte Piri ihren eigenen rechten Fuß. Die Kugel bohrte sich in den Sand.

Piri fuhr herum. Hannelore war nur wenige Meter hinter ihr. Piri schoss. Hannelore taumelte, von der Wucht des Einschlags getroffen, erst nach hinten, dann nach rechts. Sie drehte sich, als wolle sie zu ihrem Geliebten laufen. Sie machte sogar noch zwei Schritte in seine Richtung, bevor sie zusammenbrach.

Piri riss die Arme hoch. Das war geschafft. Von Hannelore brauchte sie kein Foto. Für George war nur der tote Kleebowski wichtig, und nur für den Abschuss würde er bezahlen.

Piri ging fast fröhlich tänzelnd zu den Dünen. Sie wollte ins Dorf und dann zum Flugplatz. Sie gab sich keine Mühe, die Leichen zu verstecken oder gar zu verbuddeln. Sie würden spätestens morgen von Urlaubern gefunden werden.

Auf dieser autofreien Insel fuhr die Polizei inzwischen sogar ein Elektro-Quad. Angeblich schaffte das Ding bei Vollgas fast vierzig Stundenkilometer. Damit konnte also ein Radfahrer eingeholt werden.

Piri fürchtete sich vor der Inselpolizistin nicht. Erst durch Verstärkung vom Festland konnte es hier für sie ungemütlich werden. Sie war sicher, die Insel mit dem Flieger vorher rasch verlassen zu können. Die Flugzeit betrug nur vier bis fünf Minuten.

Sie fühlte sich nicht wirklich gut. Irgendwie war sie schon zufrieden mit sich, weil sie Kleebowski erledigt hatte. Aber ein wirklich triumphales Gefühl wollte sich nicht einstellen. Sie sah sich um. Sie fühlte sich beobachtet. Aber da war niemand weit und breit. Nur ein menschenleerer Strand.

Sie schaute hoch zum Himmel. War da ein Gott, der ihr grollte? Gab es da irgendwo eine Macht, die mit ihr überhaupt nicht einverstanden war? Oder hatte sie eine himmlische Mission erfüllt, als sie diesem Schwerkriminellen ein Ende bereitet hatte?

Die Wolken gaben ihr keine Antwort. Sie zogen unbeeindruckt in Richtung Osten. Eine Windböe trieb Sandkörner wie Nebel über den Strand. Sie pieksten auf ihrer Haut wie winzige Nadelstiche.

Sabine saß mit ihrem Fernglas in den Dünen. Es war irgendwie unwirklich und doch logisch. Fast folgerichtig. Jetzt, da es geschehen war, kam es ihr vor, als hätte sie es von Anfang an geahnt. Das konnte nicht gutgehen. Als hätten weder sie noch ihre Freundin ein langanhaltendes Liebesglück verdient.

Sie war gerade Zeugin eines Doppelmordes geworden. Sie war noch nie im Leben mit einer derartigen Situation konfrontiert worden. Und doch kam ihr alles bekannt vor. Man hatte ja nicht gerade in der Schule gelernt, wie man mit so etwas umgehen sollte. Sie spürte den Impuls, hinzulaufen und nach den beiden zu sehen. Zumindest nach Hannelore. Vermutlich würde sie sich damit aber in große Gefahr begeben.

Dieser Alexander von Bergen war vor der Polizei und vor irgendwelchen Verbrechern geflohen. Sie hatte keine Lust, durch eine Aussage ebenfalls ins Schussfeld zu geraten. Ihre Freundin war nur umgebracht worden, weil sie zur Zeugin geworden war. Sabine entschied, dass es besser für sie sei, nichts gehört und gesehen zu haben. Gleichzeitig fühlte sie sich schuldig deswegen.

Sie blieb einfach wie erstarrt sitzen. Sie fragte sich sogar, ob sie sich strafbar gemacht hatte. Dies hier war mehr gewesen als ein Segeltörn nach Juist. Es war ein Fluchtversuch vor der Polizei, vor gedungenen Mörderinnen oder was auch immer … Jedenfalls alles andere als ein Sommerferienausflug.

Sie zitterte. Sie zog die Beine an den Oberkörper und legte ihre Arme um ihre Beine. Das hohe Deichgras peitschte ihren Körper, als wolle es sie von diesem Ort vertreiben.

Sie fühlte sich hier gleichzeitig sicher und bedroht. Sie traute sich nicht aufzustehen. Sie wollte nicht die Polizei rufen. Sich nicht erklären müssen. Sie wollte auch nicht in die Ferienwohnung, sondern zurück auf ihr Boot. Dort war sie nie wirklich allein, sondern sie spürte Helmuts Anwesenheit. Nein, sie glaubte nicht an Geister, wohl aber an die große Liebe.

Sie verlor jedes Zeitgefühl.

Als es so dunkel war, dass sie die Leichen aus der Entfernung nicht mehr sehen konnte und der Sand zu schimmern schien, schlich sie zu ihnen. Ihre Gefühle tobten. Was, wenn Hannelore gar nicht tot war, sondern hier im feuchten Sand um ihr Leben kämpfte? Hatte sie dann wertvolle Zeit sinnlos verstreichen lassen?

Zunächst pirschte sie sich langsam, gebückt, ihr Fernglas wie eine Waffe in der Hand haltend in die Richtung, wo sie Hannelore ihrer Meinung nach finden konnte. Dann beschleunigten ihre Gedanken ihre Schritte. Das Gefühl, zu spät zu kommen, nicht richtig gehandelt zu haben, spülte viele ähnliche Situationen aus ihrem früheren Leben in ihr hoch. Manchmal, wenn sie genau wusste, dass gehandelt werden musste, und sogar, was zu tun war, fühlte sie diese Lähmung aus ihrem Inneren heraus, so dass sie sich kaum noch bewegen konnte. Sie war dann nicht mehr in der Lage zu handeln, als würde sie dadurch alles nur noch schlimmer machen. Zeit verstrich, und einige Probleme lösten sich von selbst. Andere, zu Beginn noch Bagatellen, türmten sich zu unüberwindbaren Bergen auf.

Immer wieder hatte ihr geduldiger Mann die Kastanien für sie aus dem Feuer geholt. Er nannte sie deshalb – nur sehr selten und immer mit freundlichem Lächeln – meine Katastrophen-Sabine.

Er hatte das alles längst nicht so schwergenommen wie sie. Für ihn war vieles ein Witz, über den er lachen konnte, als könne man das Leben an sich sowieso nicht ernst nehmen. Vielleicht hatte sie ihn wegen dieser Gelassenheit geliebt.

Hannelore hatte einmal zu ihr gesagt: Du bläst die Probleme auf, und er lässt dann die Luft raus. Ihr seid ein perfektes Team.

Hannelore! Die Gute. Die Freundin. Die so erfrischend geradeheraus gewesen war.

Sabine kniete jetzt vor ihr und betastete den toten Körper. Sie suchte nach einem Lebenszeichen. Doch Hannelore atmete nicht mehr.

Sabine fragte sich, ob die Flucht des Liebespärchens mit dem Tod vielleicht sogar geglückt war. Sie sah hoch zu den Sternen und hoffte, dass die beiden dort oben ab jetzt eine gute Zeit miteinander hätten. Diesen Gedanken fand sie jetzt tröstlich.

*

Holger Bloem traf spät im Savoy ein. Zwei Kleiderschränke begleiteten ihn in den Fahrstuhl, wo sie ihn, nachdem die Tür sich geschlossen hatte, abtasteten. Das einzige Wort, das einer von ihnen sprach, war: »Clean.«

Er hatte in der Redaktion mächtig unter Druck gestanden. Dort war die Personaldecke nicht viel dicker als bei der ostfriesischen Polizei.

Er war durstig und hungrig. Rupert und Weller erwarteten ihn auf der Dachterrasse des Hotels. Rupert fand, dass das Sky Lounge genannte Restaurant mit Panoramablick über die Stadt genau der richtige Ort sei, um Holger zu zeigen, welches Leben in Zukunft auf ihn wartete. Er bestellte für Holger gleich ein Filetsteak. Als er merkte, dass das vielleicht ein bisschen übergriffig war, fragte er ihn laut: »Oder willst du lieber zwei Burger? Wir haben schon gegessen.«

Holger setzte sich und verlangte nach einem alkoholfreien Weizenbier. Er war verschwitzt von der Fahrt und genoss den Luftzug, der vom Rhein her wehte. Nicht gerade mit dem Nordwestwind an der Nordsee zu vergleichen, aber doch erfrischend. Holger streckte sich und blickte auf den Bahnhof hinunter.

Es amüsierte ihn zu sehen, wie Rupert sich als großer Boss inszenieren wollte.

Rupert schwadronierte eine Weile über das tolle Leben im Hotel. Holger stoppte ihn mit dem Satz: »Ich habe auch schon mal in einem Hotel gewohnt.«

Nachdem er das Bier bekommen hatte, hörte Holger sich Ruperts Angebot an: »Ich zahle dir das Doppelte von dem, was du beim Ostfriesland Magazin verdienst – ach, was sag ich, das Doppelte? Das Dreifache! Und natürlich alles steuerfrei, wenn du für mich arbeitest.«

»Ab sofort«, fügte Weller ernst hinzu.

Holger trank erst mal in Ruhe sein Weizenbierglas leer und sah sich die beiden dann an. Er zeigte auf Weller: »Arbeitest du auch für ihn?«

Rupert nickte stolz. Weller schüttelte vehement den Kopf.

»Was jetzt?«, hakte Holger nach.

Weller erklärte: »Ich arbeite nicht f ü r Rupert.«

Rupert ergänzte: »Natürlich nicht. Er arbeitet für Frederico Müller-Gonzáles.«

Weller stöhnte und verdrehte die Augen.

Holger fragte: »Als was?«

»Im Moment als Leibwächter«, lachte Rupert. »Die einzigen zwei Figuren, denen ich bisher trauen konnte, waren Marcellus und Kleebowski.«

»Und die zwei Gestalten, die mich gerade nach Waffen durchsucht haben?«, wandte Holger ein.

Rupert winkte ab: »Das sind nur Vorstopper. Nah an mich ran kommen die nicht. Aber wenn du jetzt zum Beispiel versuchen würdest, mit dem Steakmesser auf mich loszugehen, dann würde mein Freund Weller sich dazwischenwerfen.«

Holger sah Weller an. Der wirkte wenig begeistert. »Würde ich nicht.«

Rupert empörte sich. Holger unterbrach die zwei: »Also: Worum geht es?«

»Im Grunde«, sagte Rupert ehrlich, »brauche ich nicht nur einen Leibwächter, sondern auch einen Berater.«

Holger winkte dem Kellner. Er wollte noch ein Weizen. Er bekam gleichzeitig sein Steak und zwei Burger. Ruperts laute Bestellung war wohl missverstanden worden.

»Ich helfe dir«, schlug Rupert vor und schnappte sich gleich einen Burger. Er biss hinein und sprach mit vollem Mund, kam für seine Verhältnisse aber merkwürdig kleinlaut rüber: »Manchmal baue ich Mist …«

Weller setzte sich anders hin und staunte. So kannte er Rupert gar nicht.

Der sah sich kauend um. Er wollte bei seinem Geständnis nicht gern belauscht werden: »Wir haben jetzt eine App – Top Secret – und ich Idiot habe sie meiner Frauke gegeben, und jetzt kann jeder Arsch in der Polizeiinspektion in Norden mitlesen, was ich …«

Holger begriff sofort und schlug vor: »Du brauchst einen Decknamen, damit nicht jeder deiner Kollegen sofort weiß, dass du … Außerdem: wenn das mal vor Gericht auftaucht, solltest du besser weder Rupert heißen noch Frederico Müller-Gonzáles.«

Rupert war sofort begeistert und tadelte Weller: »Warum bist du nicht darauf gekommen?« Er boxte gegen Wellers Oberarm.

Weller verzog den Mund: »Deckname?!«

Holger aß und dachte dabei nach. Mit vollem Mund konnte er gut denken. Er zeigte auf Rupert und erklärte: »Du solltest dich The Brain nennen.«

Weller war baff. »Wie? Ausgerechnet er? The Brain ? Spinnst du?«

Holger nickte und sprach Rupert direkt an. Er ignorierte Weller demonstrativ: »Na klar. The Brain . Dann kommt wenigstens keiner darauf, dass du es bist, Rupert.«

Während Rupert noch daran verdaute und Weller sich amüsierte, legte Holger einen handschriftlich geschriebenen Zettel auf den Tisch: »Ich habe mal meine Kontakte spielen lassen und alles über Dr. Flickteppich in Erfahrung gebracht.«

Rupert war sofort versöhnt und verzieh Bloem die Unverschämtheit. Überhaupt fand er die Idee, sich The Brain zu nennen, gar nicht so verkehrt. Dieser Bloem war schon sein Geld wert, sagte er sich. Für einen Schreiberling gar nicht so blöd.

Holger fuhr fort: »Er hat da ein Geheimnis, der Herr Flickteppich …«

Das gefiel Rupert noch mehr. »Nämlich?«

»Für einen Mann in seiner Position hat er einen erstaunlich sauberen Lebenslauf. Bilderbuchkarriere. Keine Affären. Nichts.«

»Wie? Der ist noch nicht mal vorbestraft?«, empörte Rupert sich. »Wie konnte der denn dann Vorstandsvorsitzender werden?«

»Das war«, erläuterte Holger, »bevor Gangsterbanden die Kompensan-Bank übernommen haben.«

Rupert nickte: »Verstehe …«

Weller protestierte: »Eins will ich mal geraderücken, Freunde: Gangsterbanden haben die Bank nicht übernommen, sondern Frederico Müller-Gonzáles, mit Geld vom Bundeskriminalamt. Die Bank gehört also praktisch …«

»Mir«, ergänzte Rupert stolz.

»Dem deutschen Steuerzahler«, korrigierte Weller.

Rupert nahm seinen Burger in beide Hände und biss noch einmal rein. Er kaute und entschuldigte sich: »Wenn ich unter so einem Druck stehe, habe ich immer einen Mordshunger.«

Weller schob ihm den zweiten Burger rüber: »Dann würde ich den an deiner Stelle auch noch nehmen. Ich bin satt.«

*

Kevin wollte es nicht, aber er konnte nicht anders. Er musste ständig auf sein Handy gucken. Immer wieder. Er war einfach zu stolz auf seine App und wollte nichts verpassen. Es waren bereits 2791 Nachrichten hin und her gelaufen. Einige auf Russisch. Es gab auch eine Menge arabische Schriftzeichen, und irgendwie war die App wohl in Italien sehr beliebt.

Kevin hatte in der Schule Englisch und Latein gelernt, das half ihm aber jetzt wenig. Noch gab es keine Verstärkung für ihn. Aber er wollte zwei junge Frauen rekrutieren. Die eine war seine Schwester, die von ihrem Typen sitzengelassen worden war. Er hatte ihr nicht nur sechzigtausend Euro Schulden hinterlassen, sondern auch noch Mietverträge, aus denen sie nicht so ohne weiteres herauskam. Ihr gemeinsamer Comicladen mit Café hatte keine Zukunft und war für ihn ohnehin mehr eine Aufreißstation für zeichnende Gymnasiastinnen gewesen, denn er versprach ihnen, ihre Geschichten und Figuren berühmt zu machen. Aber seine ach so guten Kontakte zu Verlegern und Heftchenproduzenten existierten nur in seiner Phantasie.

Kevin liebte seine ältere Schwester. Sie war alleinerziehend, und Kevin bedauerte, so wenig Zeit für sie zu haben. Zu gern hätte er sich mehr um seine Nichte gekümmert, was sie eigentlich auch von ihm erhoffte. Zehn bis zwölf Stunden am Computer waren für Kevin die Normalität. An Wochenenden auch gern mal bis zu zwanzig Stunden. Aber jetzt konnte er etwas für sie tun. Und da sie mal einen syrischen Freund gehabt hatte, könnte sie vielleicht sogar ein paar arabische Sätze entziffern, hoffte er.

Mit Ruperts Angebot konnte sie ihre Wohnung halten und die Schulden abstottern. Kevin hatte ihr achttausend pro Monat angeboten, und sie hatte ihm geantwortet: »Spinn nicht rum, Kleiner.«

Die zweite Kraft war Kevins Ex, der er eigentlich beweisen wollte, dass er es eben doch draufhatte. Sie hatte ihn am Telefon schallend ausgelacht.

Jetzt versuchten beide Frauen gleichzeitig, ihn zu erreichen. Seine Schwester per WhatsApp und seine Ex per E-Mail. Die Schwester fragte nach einem Vorschuss. Seine Ex riet ihm, einen Psychologen zu besuchen, er sei größenwahnsinnig und leide unter zunehmendem Realitätsverlust. Er solle sich in Zukunft von ihr fernhalten.

Er wollte ihr gerade antworten, da ploppte das Foto des erschossenen Kleebowski auf. Kevin kannte den Mann nicht, aber er wusste, dass er dieses Bild von einem Toten am Strand sofort weiterleiten musste. Er schickte es mit den Worten an Rupert und Weller: Das ging an einen Typen, der sich G-Punkt nennt.

Weller probierte gerade einen edlen Rotwein, den er sich hatte aufs Zimmer kommen lassen, um den Tag mit etwas Schönem abzuschließen. Er roch zunächst am Wein, dann ließ er ihn über die Zunge rollen. »Schmeckt nach Waldboden«, schwärmte er. »Holzfass. Alte Eiche. Ein bisschen nach Moos und leicht erdig.«

»Dann kipp das Zeug halt weg und nimm dir ein Bier«, riet Rupert.

Holger Bloem sagte nichts dazu und genoss seinen Wein mit geschlossenen Augen. Rupert guckte kopfschüttelnd zu.

Weller stellte das Weinglas ab und sah auf sein Handy. Er musste nichts sagen. An seinem Gesicht erkannte Bloem, dass es ernst war.

Weller rief sofort bei Kevin an und verlangte von ihm, den Standort beider Handys festzustellen, zwischen denen das Foto hin und her gegangen war.

»Das kann ich nicht«, gestand Kevin kleinlaut.

Insgeheim tat es Weller gut, dass dieser Computerfuzzi mal etwas nicht konnte. Er hatte aber schon oft über diesen Weg den Aufenthaltsort von Kriminellen ermitteln lassen. Eigentlich war das ganz einfach, ein Richter musste dem nur zustimmen.

»Warum nicht?«, fragte Weller ungehalten.

»Weil wir es nicht mit ein paar Zuhältern zu tun haben, die Straßennutten abkochen, sondern mit hochkriminellen Fachleuten, schätze ich mal«, verteidigte Kevin sich, der gleich Angst um seinen Ruf als Lisbeth Salander hatte und immer unter dem Druck stand, der Beste sein zu wollen und niemanden zu enttäuschen.

Weller guckte Rupert an. »Sag doch auch mal was.«

Rupert sah blass aus. Reagierte erschrocken, überhaupt nicht professionell: »Das … ist … Kleebo …«, stammelte er. »Scheiße, Leute, es wird eng. Die legen meine besten Männer um!«

»Was soll das heißen? Dass ich der Nächste bin?«, wollte Holger Bloem wissen, und Weller fragte sich, ob er selbst auch zu den Besten gehörte und folglich zur Zielscheibe werden würde.

Rupert zuckte zusammen. »Beate!!!«, rief er und pflaumte Weller sofort an: »Wieso bist du Idiot hier? Wieso bist du nicht bei Beate?«

Weller holte tief Luft: »Und um deine Frauke machst du dir keine Sorgen?«

Rupert trampelte heftig auf: »Verdammt«, schrie er, »Frauke ist in der Klinik gut geschützt!« Rupert glaubte, dass an Sommerfeldt so leicht keiner vorbeikam, selbst wenn Tiger oder die anderen Kleiderschränke versagen sollten. Sommerfeldt war ein stabiler Schutzdeich. Aber wer schützte Beate?

»Ich könnte in ein paar Stunden wieder in Norddeich sein«, versprach Holger Bloem, »Oder holen wir Beate hierher?«

»Ins Savoy?«, kreischte Rupert. »Spinnst du? Nirgendwo ist sie gefährdeter als in meiner Nähe!«

Das leuchtete Holger Bloem ein.

Weller versuchte, Rupert zu beruhigen, ihm wurde aber gerade selber komisch. »Niemand weiß, dass Frederico Müller-Gonzáles in Wirklichkeit ein Polizist aus Ostfriesland ist«, gab Weller zu bedenken.

»Blödsinn«, schimpfte Rupert. »Wenn Frederico es herausgefunden hat, dann können das andere auch.«

»Rupert«, mahnte Weller, »denk doch mal nach! Klar weiß Frederico, dass du nicht Frederico bist. Er ist doch selber Frederico!« Weller spürte, wie wacklig seine Argumentation war, und fügte hinzu: »Die Kollegen fahren im Viertel öfter Streife als sonst und werfen ein Auge auf dein Haus.«

»Ja, ganz toll!«, brüllte Rupert und wählte seine Beate an. Doch weder übers Festnetz noch übers Handy erreichte er sie.

Ratlos sah Rupert Weller und Holger an.

Weller rief seine Frau Ann Kathrin an und bat sie, bei Beate vorbeizugehen.

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