Ann Kathrin Klaasens Haus im Distelkamp war ungefragt zu einem Treffpunkt der Ermittlungsgruppe geworden. Das Haus lag keine zweihundert Meter Luftlinie vom Tatort entfernt. In Ruperts und Beates Haus arbeitete gerade noch die Spurensicherung.
Beates Mutter wurde von der Polizeipsychologin Elke Sommer betreut. Einer Frau, die eine tiefe Abneigung gegen Rupert hegte, was sie mit seiner Schwiegermutter geradezu schwesterlich verband.
Das sei alles nur Ruperts Schuld, behauptete Edeltraut, sie habe immer gewusst, dass das alles böse enden werde. Sie war eigentlich mit Buttercremetorte zu Besuch gekommen. Die Stücke fanden bei der Spurensicherung reißenden Absatz.
Bei Ann Kathrin standen Rieke Gersema, Marion Wolters, Kriminaldirektorin Liane Brennecke und Dirk Klatt in der Küche vor dem Kaffeeautomaten. Sie hielten sich an ihren Kaffeebechern fest, obwohl eine Kanne mit schwarzem Tee auf dem Tisch stand. Die kleinen Tassen und die Kanne mit der ostfriesischen Rose darauf wirkten angesichts der Situation wie aus einer anderen Welt. Es passte nicht, jetzt Tee zu trinken, auch wenn er verführerisch duftete. Sahne und Kluntjes warteten vergeblich auf ruhige Genießer. Die hier Versammelten wollten nicht zur Ruhe kommen, sondern sich aufputschen. Sie suchten neue Ideen nicht in der Kontemplation, sondern in der Hektik eines Brainstormings.
Holgers Nachricht platzte in die Runde und versammelte alle um das Radio. Klatt verschluckte sich und spuckte Kaffee aus.
Rieke Gersema, die Pressesprecherin, hatte sich lange nicht mehr so schamlos übergangen gefühlt. Sie ahnte, was für Anfragen in den nächsten Stunden auf sie zukommen würden, dabei wusste noch kein Journalist von der Toten in Ruperts Haus.
»Sind die völlig verrückt geworden?«, fluchte Klatt.
»Das ist clever«, sagte Ann Kathrin, wie zu sich selbst. »Verdammt clever.«
Marion Wolters öffnete die Terrassentür. Sie brauchte frische Luft. Obwohl ein guter Nordwestwind wehte und gleich in die Küche fuhr, fächelte sie sich mit einem Fuß auf der Terrasse stehend noch Luft zu. »Der alte Zocker pokert hoch …«, japste sie kurzatmig. Es war nicht klar, ob sie damit Holger Bloem meinte oder Rupert.
Liane Brennecke, die sich mal in den Händen des Geiers befunden hatte, ahnte, was Beate gerade mitmachen musste. Üble Bilder stiegen in ihr auf. Sie wohnte immer noch bei Grendels in der Ferienwohnung, nur wenige Schritte von hier entfernt. Sie hatte nur ein Ziel: Rache an Geier. Der Gedanke, dass er gerade ganz in ihrer Nähe gewesen war und sich ein neues Opfer geholt hatte, würgte sie und stachelte gleichzeitig ihren biblischen Zorn an.
Sie seufzte: »Dem Geier kann man nicht drohen. Das beeindruckt den nicht. Er fühlt sich dann höchstens in seiner Großartigkeit bestätigt.«
»Jeder wird jetzt wissen wollen, was hier los ist. Was darf ich sagen?«, fragte Rieke Gersema verunsichert.
Ann Kathrin gab ihr eine klare Antwort: »Aus ermittlungstaktischen Gründen erst mal gar nichts.«
»Das geht so nicht«, protestierte Rieke. »Ich brauche Futter für die Presse.«
»Das bekommen die gerade von Holger. Wir sollten ihm jetzt nicht ins Handwerk pfuschen«, antwortete Ann Kathrin.
Rieke war empört und erleichtert zugleich. »Ja, ist der Bloem jetzt unser Pressesprecher?«, zischte sie.
»Nein«, konterte Ann Kathrin, »aber er weiß genau, was er tut.« Leise fügte sie hinzu: »Hoffe ich …«
Susanne Kaminski ließ Annika nicht einfach durch. Sie machte die Vorstopperin für Silvia, damit ihre Freundin nicht ständig Beileidsbekundungen über sich ergehen lassen musste. Das war gut gemeint, hatte aber eine niederschmetternde Wirkung. Jedes Mal wurde die Wunde neu aufgerissen. Silvia glaubte, die große Liebe ihres Lebens verloren zu haben, und wusste gar nicht, wie es weitergehen sollte.
Als Annika andeutete, eine Botschaft von Henry Jaeger zu überbringen, musste Susanne sich am Türrahmen festhalten, denn ihr war sofort klar, dass es sich um eine Nachricht des Verstorbenen handelte. Der längst vergessene kriminelle Autor war von Willi Klempmann oft zitiert worden.
Sie ließ Annika trotzdem nicht herein, sondern vor der Tür stehen, schloss sogar wieder ab. Sie war sich sicher, dass die Frau dort warten würde. Zweimal hatte sie von Silvia den Satz gehört: »Willi schickt mir gern einen seiner Laufburschen, wenn er mir etwas auszurichten hat. Er vertraut der Post nicht.«
Liebesbriefe von der Yacht nach Borkum wurden persönlich übergeben. Ja, so lächerlich sich das in dem Zusammenhang anhörte: Willi und Silvia schrieben sich Liebesbriefe. Wenn Willi von Laufburschen sprach, meinte er geschulte, gut bewaffnete Bodyguards.
Susanne fragte sich, ob diese Annika auch so etwas war und ob es eine weibliche Form für das Wort Laufbursche gab. Vielleicht Botin ? In letzter Zeit beschäftigte sie sich immer wieder mit solchen Fragen. Manchmal half es ihr, die Schrecken des Alltags für ein paar Minuten zu vergessen.
Sie sagte zu Silvia, die gebeugt über einem Fotoalbum saß: »Da draußen steht eine Annika und behauptet, eine Botschaft von Henry Jaeger zu haben.«
Silvia war wie elektrisiert, ja, einzelne Kopfhaare stiegen hoch und standen ab. Susanne hatte so eine Körperreaktion noch nie gesehen, verstand aber jetzt, was mit dem Ausdruck wie elektrisiert zu sein gemeint war.
»Sie soll reinkommen«, bat Silvia.
Susanne holte Annika von der Tür ab. Wie erwartet stand die junge Frau mit ihrem Rollköfferchen geduldig wartend davor.
»Tragen Sie eine Waffe?«, fragte Susanne.
Annika lächelte: »Selbstverständlich.«
Susanne hielt ihre offene Hand hin und gab die Tür nicht so einfach frei.
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst«, spottete Annika und sah auf die offene Handfläche.
Susanne formulierte es freundlich: »Wir sind hier etwas vorsichtig geworden. Sie müssen verstehen … zwei Freunde wurden erschossen. Eine Yacht in die Luft gesprengt. Da würden Sie auch nicht mehr jeden zu sich ins Haus lassen.«
»Silvia kennt mich«, gab Annika an.
Susanne versuchte den Einwand wegzulächeln: »Ja, und wir sind uns auch schon mal auf der Yacht begegnet. Aber ich hätte trotzdem gern Ihre Waffe.«
Annika hatte nicht vor, Streit anzufangen, aber sie fühlte sich unwohl, wenn sie ihre Pistole abgab.
Susanne führte sie zu Silvia und legte die Waffe auf den Tisch wie ein mitgebrachtes Geschenk. Susanne setzte sich zu Silvia. Die beiden boten Annika aber keinen Platz an. Stattdessen erfasste Silvia die Situation intuitiv. Sie schoss aus dem Sessel hoch und sagte es Annika ins Gesicht: »Er lebt?!«
Annika deutete an, dass man eventuell abgehört werden würde, und formulierte vorsichtig: »Ja, Henry Jaeger lebt. Auf seinen Büchern steht ein Todesdatum, aber das ist gefälscht. Den Trick hat er sich wohl von Salinger abgeguckt. Um von der Presse in Ruhe gelassen zu werden, hat der auf seinen Büchern auch ein Todesdatum angegeben und lebte dann ungestört weiter. Aber Henry möchte Sie gerne sprechen.«
Susanne und Silvia sahen sich an. Sie hatten beide begriffen, worum es ging. Am liebsten wäre Silvia Annika vor Freude um den Hals gefallen, aber sie spielte weiterhin die trauernde Witwe, auch wenn es ihr schwerfiel.
»Ich bringe dir ein Glas Wasser«, sagte Susanne, weil sie spürte, dass sie jetzt selbst etwas brauchte, um den Kreislauf oben zu halten.
»Ich bin mit einer Cessna gekommen. Wir können losfliegen, wann immer Sie wollen. Wenn Sie noch ein paar Tage Zeit brauchen, ist das auch kein Problem.«
Silvia konnte vor Aufregung kaum sprechen: »Wir brechen sofort auf.«
Susanne deutete an, ihre Freundin gern zu begleiten. Sie brauchte dazu nicht viele Worte. Sie legte nur ihre Hand auf deren Unterarm. Die nickte dankbar und sagte: »Ja, bitte komm mit.«
»Wenn Sie etwas zusammenpacken wollen, lassen Sie sich ruhig Zeit. Der Pilot wartet am Flughafen.«
Silvia wirkte plötzlich kopflos, so als wisse sie nicht mehr, wie man einen Koffer packt. Susanne schlug vor: »Viel werden wir doch nicht brauchen. Also, auf mich müssen wir nicht warten. Ich fliege einfach so mit. Ich kann dir aber schnell was einpacken, wenn du …«
Silvia schüttelte den Kopf. »Lass uns am besten gleich los.«
Annika wäre eigentlich gern noch ins Bad gegangen. Da sie aber wusste, dass die Wohnung mit Kameras gespickt war und sicher davon ausging, dass George ihnen im Moment zusah, verkniff sie sich einen Gang zur Toilette.
Was ist das nur für eine komische Welt, dachte sie. Gleichzeitig bewunderte sie Silvia und George um die große Liebe, die sie verband. So etwas wünschte sie sich für sich selbst auch. Einer Gangsterbraut sagte man rasch nach, dass sie es nur für Geld tue. Aber eins war klar – diese Silvia und ihr Willi waren ein Herz und eine Seele.
Schon wenige Minuten später verließen sie das Penthouse.
Hugo Schaller hatte nicht so schnell mit der Rückkehr gerechnet. Er hatte schon ein Schwätzchen mit dem Bodenpersonal gehalten, war dann aber zur Cessna zurückgelaufen, weil eine Möwe auf dem linken Flügel Platz genommen hatte und er das Tier vertreiben wollte.
Er hielt sich noch bei der Cessna auf. Er liebte diese Maschine, wie andere ihre Frau und ihre Kinder liebten. Er streichelte sie auch und redete mit ihr.
Als die drei Frauen auf ihn zukamen, wusste er, warum er Willi Klempmann beneidete.
Hugo Schaller hielt Silvia zwar die Hand hin, doch sie nickte ihm nur kurz zu, stieg ohne jede Hilfe ein und nahm wortlos neben dem Piloten auf dem Sitz des Copiloten Platz. Susanne fragte ihn kurz: »Wohin geht’s überhaupt?«
Er sah Annika an, bevor er antwortete. Erst als die ihm zunickte, sagte er: »Ganderkesee.«
Es hätte sie genauso wenig gewundert, wenn er Rom, Athen oder Paris als Zielort genannt hätte. Aber Ganderkesee war ja auch ein schöner Ort.
Bevor Hugo Schaller die Maschine startete, versuchte er noch einen Scherz: »Unsere Stewardess ist in Elternzeit, deswegen kann ich Ihnen heute leider keinen besonderen Service anbieten, aber ein paar Schokoriegel und eine Flasche Wasser befinden sich schon an Bord …«
Sein Gag kam in der kleinen Maschine nicht besonders gut an. »Machen Sie schon«, zischte Silvia. Er presste die Lippen zusammen und steuerte die Maschine zur Rollbahn.
Annika sprach nicht.
Susanne beugte sich zu Silvia und flüsterte ihr zu: »Ist das nicht großartig, ganz großartig?« Silvia drückte Susannes Hand. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie wieder ernst guckte, so als hätte sie Angst, selbst hier aufgenommen oder gefilmt zu werden.
Silvia räusperte sich und sagte dann klar und deutlich: »Henry Jaeger hat also eine Lesung in Ganderkesee? In der Stadtbibliothek? Dann fliegt doch alles auf! Noch halten ihn alle Menschen doch für tot.«
Annika antwortete: »Nein, keine wirkliche Lesung, mehr ein Treffen in ganz privatem Kreis. Aber vielleicht wird er für seine besten Fans auch etwas aus einem neuen Werk vorlesen.«
»Ein neues Werk?«
Annika geriet ins Schwimmen. Sie versuchte, abzuwiegeln: »So genau weiß ich es nicht, aber es soll wohl unter Pseudonym erscheinen, damit er weiterhin für seine Leser als tot gilt.«
Warum reden wir eigentlich nicht Klartext, dachte Susanne Kaminski. Jeder, der uns zuhört, weiß doch inzwischen längst, dass wir über George reden und nicht über einen toten Schriftsteller, den er einmal bewundert hat.
Die Nachricht erreichte Frauke und Dr. Sommerfeldt sogar auf dem Golfplatz, obwohl sie sich eigentlich versprochen hatten, nicht aufs Handy zu gucken, sondern störungsfrei ein paar Bälle zu schlagen. Irgendwie fühlte sich Frauke aber fast ein bisschen schuldig gegenüber Frederico, weil sie sich mit Bernhard so gut verstand, ja sie geradezu innig miteinander waren. Sie musste über sich selbst grinsen. Erstaunt entdeckte sie eine leicht spießige Ader an sich. Machte sie plötzlich auf treue Ehefrau? Beim Betrug wie vieler Ehefrauen hatte sie rein professionell mitgewirkt?
Ein kurzer Blick aufs Handy reichte. Während Wildgänse über ihren Köpfen in Richtung Deich flatterten, staunte sie. Eigentlich hatte sie nur nachsehen wollen, ob Frederico sich bei ihr gemeldet hatte, aber die Nachrichtenflut war immens.
»Was ist da los?«, fragte sie. Im lauten Geschnatter der Gänse ging ihre Frage fast unter. Sommerfeldt sah sie nur kurz an, als hätte er sie nicht richtig verstanden. Er führte erst noch den Schlag aus und guckte der Flugbahn des Balles nach. Fast hundertfünfzig Meter. Er war zufrieden mit sich.
»Was macht Frederico da? Um welche Polizistenfrau geht es? Warum ist er so wütend?«
Bernhard wollte mit ihr die Nachrichten auf ihrem Handy betrachten. Sie wischte nervös von einer Seite zur anderen. Dann zog er sein eigenes Handy. Seit er hier lebte, bezog er die Tagespresse der NWZ und des Ostfriesischen Kuriers online, obwohl ihm Tageszeitungen in Papierform eigentlich viel lieber waren und er für die Klinik gleich mehrere Abos laufen hatte. Gedruckte Nachrichten regten seine Patienten weniger auf als die ständige digitale Bilderflut. Einige hatten in seiner Klinik Handyverbot. Nur so brachte er die Typen etwas runter. Bei manchen nervösen Erkrankungen half es schon, den Patienten Tageszeitungen und Festnetztelefon zu verordnen anstelle ihres Handys.
Kurier und NWZ machten mit einem Bild von Holger Bloem auf. Ein Foto von Frederico war zum Glück nicht zu sehen. Dr. Bernhard Sommerfeldt studierte die Nachrichten selbst, doch Frauke las trotzdem Sätze, die ihr bedeutsam erschienen, laut vor.
Sie ahnte, dass etwas nicht stimmte.
Sommerfeldt stellte seinen Driver in die Schlägertasche zurück und berührte Frauke sanft an der Schulter. Er wartete erst ihre Reaktion ab. Als die wohlwollend ausfiel, legte er den Arm um sie. »Ich glaube, der Zeitpunkt ist nun gekommen. Du musst die ganze Wahrheit erfahren.«
»Was für eine Wahrheit?«
Er schluckte. Die Wildgänse landeten lärmend im Wasser und verscheuchten die Enten.
»Ich hatte gehofft, er würde es dir selber sagen und es mir ersparen …«
»Was?«
»Er ist nicht Frederico Müller-Gonzáles.«
Frauke löste sich aus der Umarmung und nahm Abstand vom Doktor, um ihm gerade in die Augen sehen zu können. »Sondern?«, fragte sie. »Wer ist er dann? Ein gejagter Serienkiller, so wie du?«
»Nein, ein Hauptkommissar aus Norden. Er ist verheiratet, und Geier hat seine Ehefrau.«
Frauke zuckte zusammen. Das tat weh. Sie kam sich dumm vor. Kindisch. Reingelegt. War sie nur Teil eines Spiels? Gleichzeitig empfand sie Mitgefühl mit der Frau, die sich in Geiers Gewalt befand.
Sie ging noch einen Schritt weiter zurück. Sie wollte wissen: »Was läuft hier?«
Er reichte ihr die Hand wie zur Versöhnung, obwohl es zwischen ihnen ja gar keinen Streit gegeben hatte: »Nichts ist, wie es scheint«, sagte er. »Du bist nicht Frauke und ich nicht Dr. Ernest Simmel. Warum soll er denn dann Frederico Müller-Gonzáles sein? Was sind schon Titel und Namen?«
Sie empörte sich: »Na hör mal! Wir wollten heiraten, und er ist schon verheiratet?!«
Sommerfeldt lächelte milde. »Du bist wunderbar, wenn du so spießig daherkommst. Man könnte dir die Empörung fast abnehmen. Wenn man nicht wüsste, wer du wirklich bist …«
»Dich amüsiert das alles, was?«, fauchte sie.
Er wiegte den Kopf hin und her, als könne er sich nicht entscheiden. Aber er machte es nur spannend und nickte am Ende doch. »Ja, das Leben ist wie Golf, weißt du?«
»Häh?«
»Das hier ist jetzt ein Annäherungsschlag. Wir werden den Ball nicht im Loch versenken, aber wir kommen näher. Vielleicht sogar bis aufs Grün.«
»Was redest du da? Bin ich der Preis, oder was?« Sie hatte es kapiert, aber sie sprach es so aus, als würde es ihr nicht gefallen.
Er wollte um sie werben.
»Rupert liebt seine Frau. Er würde sie nie verlassen. Ja, ich weiß, er hat ständig andere Frauen. Ehebruch ist für ihn eine Art Volkssport, aber …«
Sie hielt sich die Ohren zu. Er fuhr fort und verließ sich darauf, dass sie ihn hörte. Die Veränderung ihres Gesichtsausdrucks gab ihm recht.
»Ich dagegen bin eher monogam. Ich verteile meine Sexualität nicht großzügig demokratisch unters Volk, sondern bevorzuge eher die Tiefe der Beziehung als die Breite der Verteilung.«
Das gefiel ihr. Er öffnete die Arme, aber sie sprang nicht rein.
Sie hakte kritisch nach: »Er ist ein Bulle … und doch der Freund eines Serienkillers?«
»Na ja, Freund ist ein großes Wort, aber …« Er dachte kurz nach. »Du hast dich schließlich auch in ihn verliebt, obwohl eure Beziehung zunächst rein professionell war.«
Sie guckte ratlos. »Und jetzt?«
»Lass ihn sausen. Du hast etwas Besseres verdient. Du bist viel zu gut für den. Der macht dich sowieso unglücklich. Er wird dich belügen und betrügen … Das meint der gar nicht böse, das ist sein Wesen. Ich dagegen …«
Sie hob abwehrend die Hände: »Du bist natürlich ganz anders«, spottete sie. »Du sagst immer die Wahrheit. Du bist ein notorischer Gutmensch und Frauenversteher.«
»Ja, spotte nur. Du hast ja allen Grund dazu.«
Sie nahm ein Siebener-Eisen in die Hände und spielte damit, als wisse sie noch nicht, ob sie es ihm besser über den Kopf schlagen oder einen Golfball spielen sollte.
»Zwischen uns knistert es ganz schön …«, sagte sie. Er legte für sie einen Ball auf das Tee.
Er forschte nach: »Wir gehören zusammen. Das spüren wir doch beide, oder?«
Sie schlug den Ball.
»Beim Siebener-Eisen benutzt man eigentlich kein Tee«, stellte er lakonisch fest.
»Warum legst du mir dann den Ball darauf?«
»Weil es langweilig ist, immer nach den Regeln zu spielen.«
Ihr Ball landete gut zehn Meter hinter seinem. Er verzog anerkennend die Lippen.
»Und? Was tun wir jetzt?«, fragte sie.
Er holte den Driver aus der Golftasche und legte sich einen Ball zurecht. »Für den Driver braucht man ein Tee.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Herr Doktor«, sagte sie spitz.
»Nun, ich denke, wir sollten zunächst einmal Beate retten.«
»Sie heißt also Beate.«
»Ja.«
»Du willst sie retten, damit er zu seiner Frau zurückgehen kann. Und ich dann frei für dich bin?«
Er mochte es, wenn die Dinge klar ausgesprochen wurden. Er führte seinen Schlag aus und antwortete erst, nachdem der Ball gelandet war: »Ich kenne Beate im Grunde kaum. Ich mache es aus vielen Gründen. Ich mag Rupert. Ich will dich und …« Er sprach nicht weiter, als sei es ihm unangenehm.
Sie ergänzte wissend seinen Satz: »… und du bist heiß auf diesen Geier.«
»Ja«, gestand er. »Bin ich.«
»Du liebst es, solche Kerle zu töten. Frauenschänder. Sadisten. Vergewaltiger …« Sie führte die Aufzählung nicht weiter aus.
Er nickte. »Ja. Ich steh drauf. Ihre Anwesenheit auf der Erde beleidigt mich als Mann.«
»Wie viele von ihnen willst du noch umbringen?«
»Wie viele gibt’s denn noch?«
»Keine Ahnung. Aber der Geier gehört mir«, behauptete sie.
Sommerfeldt war ganz und gar nicht damit einverstanden. »Lass uns darum spielen«, schlug er vor. Sie grinste verschmitzt. »Ich hab nicht mal die Platzreife und du ein Handicap.«
»Okay. Für eine ganze Runde reicht unsere Zeit sowieso nicht.«
»Hast du Sorge, die Polizei kommt uns zuvor und verhaftet ihn?«
»Nein. Aber ich fürchte, Beate braucht uns. Und zwar schnell.«
Das war alles nicht so vorgesehen gewesen. Geier war es gewohnt, Angst und Schrecken zu verbreiten. Dass jemand versuchte, ihm Angst zu machen, war ihm neu. Er wechselte ständig sein Prepaidhandy. Er besaß fast ein Dutzend. Nach längeren verräterischen Telefonaten warf er sein Gerät gern in ein fließendes Gewässer. Im Rotbach hatte er schon einige versenkt. In der Emscher, im Rhein und in der Nordsee.
Aber jetzt warf er sein Handy nicht in die Ollenbäke. Er wollte niemanden ins Ammerland locken. Die Vorstellung, dass Kinder das Handy beim Angeln herausfischen könnten oder ihn jemand beobachtete, gefiel ihm nicht. Außerdem brauchte er Bewegung. Er hatte das Gefühl, festzustecken.
Er schaltete das Gerät aus und nahm die Karte raus. Er ließ Beate und Pascal gefesselt und geknebelt in Westerstede zurück. Er fuhr einfach herum, als müsse er sich selbst beweisen, ein freier Mann zu sein. Noch!
Nach einer knappen halben Stunde war er in Oldenburg. Er hielt auf dem großen Parkplatz vor Möbel Buss . Er schlenderte ziellos herum. Zum ersten Mal würde er sein Handy nicht versenken, sondern auf eine Reise schicken, dachte er belustigt.
Ein Wohnwagen mit niederländischem Kennzeichen parkte wegen der Hitze mit hochgeklappten Fenstern. Er schob die Karte wieder ins Handy und warf es durch ein Fenster in den Wohnwagen. Es landete zwischen Spüle und Abfalleimer.
Er war froh, das Teil los zu sein. Er hatte es als bedrohlich empfunden.
Er beschloss, oben im Möbelhaus essen zu gehen. Er hatte Hunger auf Fleisch. Er wollte ein Steak. Blutig.
Er wünschte sich eine vegan lebende Familie am Nebentisch, die ihm beim Essen zusah. Zur Not hätten es auch Vegetarier getan. Hauptsache, er konnte jemanden provozieren. Aber es lief heute nicht ganz rund für ihn. Die anderen Gäste ignorierten ihn und freuten sich über ihr Essen aus dem Wok.
Er, der sich sonst bewusst unauffällig bewegte und Menschenansammlungen eher mied, begann laut zu schmatzen. Auch das brachte ihm keine Aufmerksamkeit ein.
Die riesigen Aufgangsrampen, die durch das Haus führten, dienten eigentlich zur barrierefreien Besichtigung und zum problemlosen Transport gekaufter Möbel. Für ihn hatten sie etwas Erhabenes. Er schritt darauf nach oben, als seien sie für ihn persönlich gebaut worden. Für ihn, den Herrscher über Leben und Tod, der gerade von Frederico Müller-Gonzáles in der Presse als feiger Volltrottel hingestellt worden war.
Am liebsten hätte er beide getötet: Holger Bloem und Frederico Müller-Gonzáles. Doch noch war seine Aufgabe eine andere.
Er betrachtete ein Rentnerehepaar. Sie turtelten nicht gerade herum wie Teenies, aber sie liebten sich offensichtlich noch. Sie wollten sich neue Möbel kaufen. Sie nutzten die Ankunft des ersten Enkelkinds, um ihr Haus umzugestalten. Sie bestand auf bunten Farben. »Nur keine Alte-Leute-Möbel, sondern eine moderne Einrichtung«, betonte sie. Eine hellblaue oder rote Couch wollte sie.
Ihr Mann suchte einen bequemen Fernsehsessel und schlug vor, zwei zu nehmen.
»Damit wir gemeinsam Händchen halten können?«, fragte sie. »Oder willst du nur mit deiner Hand in meine Chipstüte kommen?«
Was, fragte Geier sich, tue ich als Nächstes? Er war aufgewühlt. Er hatte einerseits ein gottgleiches Gefühl, so als würde er alles durchschauen und hätte die vollkommene Macht. Andererseits gab es aber auch eine Leere in ihm. Vor der Leere fürchtete er sich am meisten. Er musste andere in Angst und Schrecken versetzen, um dieser Leere zu entkommen. Nichts war schlimmer als das schwarze Loch tief in ihm selbst. Es drohte manchmal, ihn zu verschlucken.
Am liebsten hätte er alle getötet, alle, und dann ganz allein in diesem Möbelhaus gewohnt. Jede Nacht in einem anderen Bett geschlafen und auf Sesseln gesessen, auf denen noch nie jemand vor ihm gesessen hatte. Alles war noch so schön neu hier.
Die Kantine sollte allerdings weiterhin für ihn offen halten. Ja, das wäre es! Er brauchte ein gutes Restaurant und ein großes Kino, ganz für sich allein. Ansonsten sollten alle Menschen einfach von der Welt verschwinden. Er wollte ihr Geschwätz nicht mehr ertragen müssen. Da war es ihm lieber, ihre Schreie zu hören.
Und jetzt versuchte dieser Frederico alias Rupert, ihn kirrezumachen und vorzuführen. Er würde ihn dafür leiden lassen. Aber so was von … sagte er sich selbst zähneknirschend.
Rupert wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war. Gab es so etwas überhaupt? Er litt und fühlte sich den Ereignissen ausgeliefert, als sei sein Paddelboot in schwere See geraten. Die Wellen drohten über ihm zusammenzuschlagen, und vor lauter Gischt und aufgewühltem Schaum sah er das rettende Ufer nicht mehr. Er wollte so gerne Held sein und seine Frau retten, aber er wusste nicht, wie. Er war bereit, sich selbst zu opfern, aber dieses großzügige Angebot stieß nicht gerade auf Gegenliebe.
Er sah Holger Bloem zu, der nur noch telefonierte und in Videokonferenzen Rede und Antwort stand, falls er nicht schriftlich Interviewfragen beantwortete. Er war angeblich der einzige Mensch, der wusste, wo Frederico Müller-Gonzáles sich aufhielt und was er als Nächstes vorhatte. Der ostfriesische Journalist war überraschend zu seinem Pressesprecher geworden.
Bloem pokerte hoch. Rupert fragte sich, was aus ihnen allen werden sollte, wenn das hier schiefging.
Sie hatten inzwischen das Savoy verlassen und sich in Sommerfeldts Ferienwohnung zurückgezogen. Ein Häuschen in Bensersiel mit Blick auf die Nordsee und auf Langeoog.
Im Garten standen eine Schaukel und ein Klettergerüst für die Kinder des Vorbesitzers. Als Sommerfeldt das Haus gekauft hatte, sah er Kinder aus der Nachbarschaft, die dort ungestört spielten. Er selbst hatte keine Kinder, mochte aber Kinder sehr. Der Garten war groß genug, er hatte sogar noch einen Sandkasten anlegen lassen. Das Planschbecken stand im Schatten eines großen Kirschbaums. Es füllte sich immer wieder mit Regenwasser. Kinder stiegen nie hinein, aber mehr als ein Dutzend Spatzen hatte den Rand des Beckens zu ihrer Flugbasis erklärt. Manchmal, wenn Sommerfeldt hier im Garten saß und las, hörte er ihrem Gezwitscher zu.
Die Zimmer waren vollgestopft mit Büchern, als sei dies eine öffentliche Bibliothek. Aber es gab auch eine Vitrine mit Messern und eine Strohpuppe vor einer Holzwand, die als Zielscheibe für Übungen mit Wurfmessern diente.
Rupert fand Golfschläger und stellte sich vor, das seien für Sommerfeldt Schlagwaffen. Mordinstrumente, als Sportgeräte getarnt. Offenbar probierte Dr. Sommerfeldt sich auch als Bogenschütze aus. Mehrere Sportbögen und Pfeile deuteten darauf hin. Hier trainierte jemand das lautlose Töten.
Es gab eine gute Internetverbindung, und von hier aus waren sie näher am Geschehen, als wenn sie in Köln geblieben wären, glaubte Holger. Außerdem fühlte er sich im Einflussbereich der ostfriesischen Polizei sicherer.
Niemand kannte dieses Versteck. Das Haus gehörte einem Klinikleiter aus Norden. Dr. Ernest Simmel.
Weller war bei Ann Kathrin und verstärkte dort die Ermittlungstruppe.
Als Ruperts Handy sich meldete, wusste er gleich, dass nun eine entscheidende Wende eintreten würde. Er hoffte nur, dass es nicht die Botschaft von Beates Tod war.
Er hatte Glück. Frederico Müller-Gonzáles war am Apparat und lobte seinen Doppelgänger sehr: »Das ist ein genialer Schachzug, mein Freund. Eure Pressearbeit ist phantastisch!«
»Äh … ja … was? Wie?«
»Wir stehen plötzlich als Helden da. Meine ganze Familie und ich selbst natürlich auch. Dass so etwas möglich ist! Du machst uns von Gangstern zu Freiheitshelden. Menschen, die gegen die Finanzmafia kämpfen. Das ist klasse! Mein Vater und meine Mutter haben mich zum ersten Mal seit Jahren gelobt. Ach, was sage ich – seit Jahrzehnten! Mein Vater hat mir gesagt, er sei stolz auf mich. Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet, Rupert? Äh, ich meine, Frederico …« Er schluckte und fuhr fort: »Wie lange habe ich mich dafür abgestrampelt und doch immer nur die Verachtung meiner Eltern gespürt, weil ich nicht so geworden bin, wie sie mich gerne gehabt hätten.«
Er hörte gar nicht auf zu reden. Rupert nahm ein Glas Wasser und hörte einfach zu, während er Holger Bloem über die Schulter sah, der einer spanischen Zeitung ein schriftliches Interview gab. Eine Übersetzerin war zwischengeschaltet. Bloem schwitzte und arbeitete konzentriert.
Ich suche Gerechtigkeit in einer korrupten Welt … tippte Holger Bloem gerade.
Rupert las auf dem Bildschirm mit: Was heißt hier Drogenkrieg? Gut, meine Verwandten haben vielleicht ein paar Drogendealer etwas robust daran gehindert, ihren Heroindreck auf Schulhöfen zu verkaufen. Das wäre eigentlich die Aufgabe der Polizei gewesen.
Rupert konnte nicht alles gleichzeitig schaffen. Einerseits hörte er dem bis zur Weinerlichkeit gerührten Frederico Müller-Gonzáles zu, andererseits faszinierte Holger Bloem ihn, und er begriff, was man mit Sprache alles machen konnte. Vom Saulus zum Paulus, so eine Geschichte kam immer gut an. Die Menschen liebten solche Erzählungen und wollten sie nur zu gern glauben.
Rupert lauschte weiter Fredericos Worten, klopfte Holger aber auf die Schultern und flüsterte ihm ins Ohr: »Du bist ein Meister!«
Frederico Müller-Gonzáles bat Rupert: »Bitte schaff uns jetzt den verrückten Willi Klempmann vom Hals. Sorg dafür, dass wir alle wieder in Frieden leben und unsere Geschäfte machen können. Töte sie meinetwegen, töte sie alle oder schließ mit ihnen einen Friedensvertrag – Hauptsache, es herrscht Ruhe und niemand bringt mehr unsere Ehefrauen oder Mütter um. Du kannst das! Wer, wenn nicht du!«
»Und dann?«, fragte Rupert.
»Wie, was dann?«
»Übernimmst du dann wieder, oder was? Glaubst du, ich will ewig Gangsterkönig sein? Ich habe ein Leben, in das ich zurückmöchte!«
»Im Ernst? Okay, wir werden ab jetzt ganz normale Geschäfte machen, mein Freund«, versprach Frederico. »Krankenhäuser, Banken, Hotels – mit all der Kohle, die wir eingesackt haben, werden wir zu Stützen der Gesellschaft werden. Ich werde eine Galerie eröffnen und moderne Kunst …«
»Glaubst du, ich weiß nicht, dass euer Kunsthandel auch nur eine Form der Geldwäsche ist?«, behauptete Rupert.
Holger drehte sich zu ihm um. »Frederico?«, fragte er tonlos, indem er den Namen nur mit den Lippen formte, und deutete auf Ruperts Handy.
Rupert nickte.
»Hilf mir, dass ich meine Beate lebend zurückbekomme. Den Rest erledige ich.«
»Das kann ich nicht. So gern ich es tun würde. Mein Informantennetz existiert praktisch nicht mehr. George hat unsere besten Singvögel gegrillt. Aber ich würde mir an deiner Stelle George, also Willi Klempmann, vornehmen. Der weiß, wo deine Frau ist. Geier ist nur sein Werkzeug.«
»Erzähl mir was Neues, Bruder«, forderte Rupert ungehalten.
Das Gespräch brach ab. Hatte Frederico beleidigt aufgelegt? War er so eine Mimose?
Holger sagte: »Wir haben den Geier verdammt gereizt.«
»Ja«, stimmte Rupert zu. »Er muss mich jetzt erledigen. Lass uns ein Foto machen, damit er uns findet.«
»Häh? Was willst du?«
»Ins Savoy wäre er nicht gekommen, Holger. Er ist doch nicht blöd. Unsere Leute stehen schon im Foyer und am Fahrstuhl. Die Polizei observiert das Hotel. Zumindest, wenn die Kollegen vom BKA nicht völlig verblödet sind. Es ist eine erkennbare Falle, da läuft er sicher nicht rein. Aber hier, in Bensersiel, ist nichts. Hierher wird er kommen. Den Ort kann er leicht checken. Keine Hochhäuser mit guten Positionen für Scharfschützen. Kein großer Autoverkehr. Glaub mir, er wird kommen.«
»Aber niemand weiß, wo wir sind, Rupi. Höchstens dieser Dr. Simmel, der uns sein Haus zur Verfügung gestellt hat. Du hast ja sogar deine Leibwächter ausgetrickst. Wir sind praktisch vor ihnen geflohen. Weller ist in Norden und die anderen …« Holger schwieg nachdenklich. Die Sache erklärte sich ihm jetzt von selbst. »Du gerissener Sauhund, du«, sagte er anerkennend.
Er ging mit Rupert auf den Balkon.
»Wenn du mich hier fotografierst und darauf achtest, dass der Hintergrund einigermaßen scharf ist …«
»Dann«, ergänzte Holger, »weiß er, dass wir in Bensersiel sind. Ich krieg sogar die letzte Fähre mit drauf, wenn wir uns beeilen.«
Rupert grinste triumphierend.
Holger holte seine Kamera. »Jeder wird das Bild bringen, Rupi, weil es praktisch keine Fotos von Frederico gibt.«
»Es reicht mir, wenn du es bringst, Holger. Online. Und zwar sofort. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Holger fotografierte Rupert. Im Hintergrund die Fähre und eine Ahnung von Langeoog.
»Ich fasse es nicht«, sagte Holger kopfschüttelnd. »Wir tun alles, um den Killer zu uns zu locken, und vorher tricksen wir unsere Leibwächter aus und sorgen dafür, dass auch kein Polizist in der Nähe ist … Wir machen uns praktisch selber schutzlos?«
»Und wehe, du verrätst es meinen Kollegen. Sie würden den Geier nur abschrecken.«
»Wir werden uns ihm also ganz alleine stellen?«, fragte Holger vorsichtig nach.
»Nein. Nur ich. Du verschwindest auch.«
»Aber ich kann dich doch nicht alleine deinem Schicksal überlassen, Rupi.«
»Glaub mir«, orakelte Rupert, »es ist besser so. Für uns alle.«
Es ließ Weller keine Ruhe, warum Kevin Janssen nicht in der Lage war, die Standorte der Handys herauszubekommen, die seine neue App benutzten. Er lud Kevin ins Smutje zum Essen ein, um mehr herauszubekommen. Einerseits wollte Weller endlich wieder einen Krabbenburger, andererseits wusste er, dass der Geheimniskrämer Kevin in der Inspektion immer sehr mundfaul war, außerhalb aber, nach ein paar Schluck Bier, sehr geschwätzig wurde.
Weller hatte einen Tisch draußen reserviert. Es war ein lauer Abend. Es gab einige Bierspezialitäten im Smutje , zum Beispiel ganz regional Ostfriesenbräu vom Fass, aber auch Bio Übersee-Pils und Kellerbier von der Brauerei Störtebeker .
Sie suchten lange aus. Weller entschied sich dann für das regionale Bier aus Bagband. Er nahm ein helles Ostfriesenbräu , Kevin ein dunkles Störtebeker .
Weller stellte seine Frage, noch bevor Kathi die Burger brachte. Es war Kevin peinlich. Er druckste herum und sprach so leise, dass Weller ihn kaum verstand: »Also … das ist wegen der App … Das Ding ist doch nicht legal. Es verstößt gegen …« Er guckte nach unten und schluckte.
Weller gab nicht nach: »Ja, das weiß doch jeder. Natürlich ist das nicht legal. Aber wo ist der Haken? Funktioniert sie nicht richtig, oder was?«
Gekränkt protestierte Kevin: »Doch! Wir haben inzwischen mehr als zwanzigtausend Nutzer. Ich wette, die kommen alle aus dem kriminellen Spektrum. Da verbreitet sich das Ding rasend.«
»Ja, ist doch prima«, freute Weller sich. »Wir bekommen alle Infos über die Szene, die wir brauchen. Wir müssen sie nur noch auswerten und …« Weller grinste. »Wahrscheinlich werden bald neue Gefängnisse gebaut werden müssen.«
Kevin wischte Wellers Worte gestisch vom Tisch. »Für die Ortung brauchen wir einen richterlichen Beschluss. Aber den können wir nicht beantragen.«
»Wieso nicht?«, fragte Weller empört. »Es geht um Kapitalverbrechen. Mord, Entführung und …«
Kevin schüttelte den Kopf. »Die machen mich fertig, Weller. Die haben mich sowieso auf dem Kieker. Die Leitende Staatsanwältin Jessen …« Er verdrehte die Augen, als er den Namen aussprach. »Und von dem zuständigen Richter will ich erst gar nicht sprechen. Ich bin für die der Buhmann. Ich verstoße aus deren Sicht doch täglich gegen den Datenschutz. Denen reicht es schon, wenn ich tief durchatme, dann hab ich gleich ein Disziplinarverfahren am Hals. Nichts von dem, was ich tue, ist für die wirklich legal. Die sehen das alles sehr kritisch. Ich verliere meinen Job, wenn das mit der App rauskommt …« Er wiegte den Kopf hin und her und fuhr fort: »Falls ich nicht im Knast lande. Und da treffe ich dann auf die Typen, die wir bespitzelt haben. Nee, Weller. Ich hab schlicht Schiss. Am liebsten würde ich alles ungeschehen machen.«
Weller ballte die rechte Faust und schlug heftig auf den Tisch. Kevin zuckte zusammen. Ihm war das peinlich. Er befürchtete, dass sie die anderen Gäste auf sich aufmerksam machten. Genau das wollte er nicht.
»Bitte«, raunte er fast unverständlich leise.
»Soll«, fauchte Weller, »Beate sterben, weil wir ein Problem haben, die richtigen Papiere abstempeln zu lassen, mit so einem Hottehüh-Pferdchen drauf vom Land Niedersachsen? Oder brauchen wir gar einen Bundesadler?«
»So kann man das nicht sagen, Weller. Du vereinfachst das alles. Es ist aber viel komplizierter … Die Netzbetreiber dürfen uns nur helfen, wenn wir …«
Mit einer schneidenden Bewegung forderte Weller: »Namen! Gib mir Namen! Wer macht das da für uns?«
Kevin nahm einen großen Schluck Bier, um Zeit zu gewinnen. »Du willst es mit Tricks versuchen?«
Weller hatte eine klare Antwort: »Uns steht die Scheiße bis zum Hals, Lisbeth. Ich würde mich auch mit dem Teufel verbünden, um aus dieser Lage wieder rauszukommen. Geier hat die Frau von unserem Kollegen Rupert. Wenn wir sie nicht retten, fliegt uns die ganze Dienstelle auseinander. Dann haben wir alle professionell und menschlich total versagt.«
Kathi brachte die Burger. Die beiden aßen schweigend, ja verbissen. Kevin war schneller fertig als Weller. Er stürzte den Rest seines Bieres runter und schrieb Namen auf eine Serviette. Die schob er Weller rüber.
Kevin stand auf. »Mach damit, was du willst, Weller. Aber bitte halte meinen Namen da raus.«
Weller sah Kevin hinterher. Der junge Mann tat ihm leid. Er war auf seine Art hochbegabt. Ein großes Talent. Ausgebremst von Bürokratie, Gesetzen und Richtlinien.
Auf dem Zettel standen drei Namen. Weller fotografierte die Serviette und schickte ein Foto an Rupert und eins an Ann Kathrin. Dazu schrieb er: Haben wir auf diese Figuren Einfluss?
Ann Kathrin gefiel das gar nicht. Es las sich für sie wie die Vorbereitung eines Erpressungsversuchs. Sie wusste noch gar nicht, worum es ging. Sie schrieb an Weller: Das sind keine Figuren, das sind Menschen, Frank.
Er begriff, dass sie – was immer sie gerade tat – unter mächtigem Druck stand.
Rupert antwortete Minuten später: Die Gaby Susemihl kenne ich. Wir hatten mal einen One-Night-Stand oder zwei, wenn ich mich nicht irre. Warum? Was willst du von der?
Weller tippte nicht länger. Er rief Rupert einfach an und bestellte sich gestisch bei Kathi noch ein Bier. Er ging zum Telefonieren auf den Parkplatz. Zwischen den Autos lief er auf dem Kiesweg hin und her.
»Glaubst du, sie würde uns helfen oder ist sie eher noch immer sauer auf dich?«
»Sauer auf mich? Wieso das denn?«
»Na ja, so eine verflossene Liebschaft, das kann schon belastend sein.«
»Ach, du Spinner«, lachte Rupert, »das war keine Liebschaft. Das war einfach Sex. Guter Sex. Befriedigend für beide. Wo soll jetzt das Problem sein?«
Weller atmete durch und hörte die Kiesel unter seinen Schuhen knirschen. Eine schwarze Katze huschte unter ein Auto.
»Du könntest sie also um etwas bitten?«
»Zur Sache, Weller. Ich habe keine Zeit für Smalltalk.«
»Wenn wir Glück haben, kann sie für uns den angeblich toten Willi Klempmann oder gar den Geier ausfindig machen. Sie kann deren Handys orten, allerdings ohne richterlichen Beschluss.«
Rupert war sofort elektrisiert. »Ruf sie an. Schöne Grüße von mir. Das wird schon reichen.«
»Im Ernst? Warum rufst du sie nicht an?«
»Nein, Weller, besser nicht. Sie hat mir geschrieben: Ein Wort von dir, und ich verlasse meinen Mann. Die Sache wurde mir zu heiß, verstehst du? Ich habe hier schon Probleme genug. So eine Klette, die sich an mich dranhängt, brauche ich jetzt nicht.«
»Verstehe«, sagte Weller. Er ging zu seinem Tisch zurück. Dort wartete ein frisches Bier auf ihn.
Die Tote in Beates und Ruperts Schlafzimmer hieß Birte Jospich. Anhand ihrer Fingerabdrücke war die Sozialarbeiterin aus Oldenburg identifiziert worden. Sie hatte mehrere Jahre lang Junkies betreut und war mehrfach beschuldigt worden, Leute gedeckt und Hehlerware verkauft oder bei sich zu Hause untergebracht zu haben. Daher führte das Bundeskriminalamt sie noch in ihrer AFIS -Datenbank. Das automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungssystem hatte Namen und Adresse sofort ausgespuckt.
Ann Kathrin saß schon im Auto, um nach Oldenburg zu fahren. Sie informierte Weller aber noch. Sie tat so, als wolle sie es ihm nur rasch mitteilen, doch in Wirklichkeit hoffte sie darauf, dass er vorschlagen würde, sie zu begleiten. Sie waren verheiratet und als Paar manchen Belastungsproben im Dienst ausgesetzt, da sie gemeinsam in der Mordkommission arbeiteten. Sie ließ es nicht raushängen, aber sie war seine Vorgesetzte.
Er reagierte, wie sie erhofft hatte, und bat sie, vorbeizukommen und ihn abzuholen. Er war gerade erst vom Smutje zurückgekommen und hatte sich eigentlich auf einen ruhigen Feierabend gefreut.
Natürlich hätten sie die Kollegen in Oldenburg anrufen können, doch diese Sache war so brisant, da wollte Ann Kathrin sich auf jeden Fall einen eigenen ersten Eindruck verschaffen. Wie wohnte die Frau, die in Beates Bett gefunden worden war? Hatte der Mord etwas mit ihren ehemaligen Klienten zu tun?
Weller ging mit dem Handy am Ohr vor dem Haus im Distelkamp auf und ab, als Ann Kathrin vorfuhr. Er telefonierte mit Rupert.
»Von wegen, die hilft uns, Alter! Die hat wutentbrannt aufgelegt, als sie deinen Namen gehört hat. Gaby Susemihl ist ganz schön sauer auf dich. Ich hab’s noch zweimal bei ihr versucht. Sie nannte dich einen Windhund, und ich glaube, sie hat auch was von Versager im Bett genuschelt.«
»Das hast du erfunden!«, verteidigte Rupert sich.
»Jedenfalls kommen wir so nicht weiter. Deine guten Beziehungen nutzen uns einen Dreck. So, ich muss Schluss machen. Ann muss ja nichts davon erfahren.«
Weller wollte auf keinen Fall mit dem froschgrünen Twingo nach Oldenburg fahren. Sie nahmen stattdessen den Citroën Picasso.
»Du riechst nach Burger und Bier«, kommentierte Ann Kathrin und ließ an der Fahrerseite die Scheibe herunterfahren. Sie hielt den Kopf ein wenig aus dem Auto und öffnete ihren Mund. Der Fahrtwind blähte ihre Wangen.
»Ist ja gut«, kommentierte Weller, »so schlimm ist es nun auch nicht. Ich war im Smutje und hatte ein Bier.«
Sie setzte sich wieder gerade hinters Lenkrad und betonte: »Nicht alles, was ich mache, hat etwas mit dir zu tun, Frank. Ich liebe einfach den Wind, und ich war heute etwas zu viel in geschlossenen Räumen.«
»Klar«, nickte Weller, »und wenn du schon nicht an den Deich kannst, hältst du wenigstens bei hundert Stundenkilometern den Kopf aus dem Auto.« Leise fügte er hinzu: »Eigentlich müsste man dir dafür ein Strafmandat verpassen.«
Sie redeten wenig während der Fahrt. Am liebsten hätte Weller das Lenkrad übernommen. Ann Kathrin wirkte auf ihn versunken. Er kannte das von ihr. Wenn ein Fall sie sehr beschäftigte, schien die Alltagswelt sie nicht mehr zu erreichen. Ann Kathrin funktionierte dann noch, aber wie eine ferngesteuerte Marionette ohne jede innerliche Beteiligung. Manchmal war das für ihn nur schwer zu ertragen. Genau das, was sie zu einer so erfolgreichen Ermittlerin gemacht hatte, erschwerte das Zusammenleben und kostete manche Freundschaft.
Er lehnte sich zurück und sah auf die Straße. Er schaltete das Radio nicht ein. In solchen Situationen fand sie Musik manchmal unerträglich, dann war auch das schönste Konzert für sie nur Lärm.
Er überprüfte ein paar Nachrichten auf dem Handy und tat so, als sei für ihn alles in Ordnung.
Das eingeschaltete Navi sprach mehr als die beiden und führte sie sicher zur Edewechter Landstraße, zum Haus der Jospichs.
Ann Kathrin ging nicht direkt zur Haustür, sondern sah sich das Gebäude an. Ihre Lippen zuckten. Am liebsten hätte Weller einen Arm um sie gelegt. Sie sah aus, als würde sie in der warmen Abendluft frieren.
Sie spürte etwas, nahm etwas wahr, das Weller entging. Er merkte nur an ihrer Reaktion, dass für sie etwas nicht stimmte.
»Soll ich es übernehmen, ihnen die Nachricht zu überbringen?«, fragte er. Ihm fiel es immer besonders schwer, die Botschaft vom Tod eines Angehörigen zu übermitteln.
Ann Kathrin schüttelte kaum merklich den Kopf und raunte: »Da ist etwas Schreckliches passiert, Frank. Wir werden nicht den psychologischen Dienst brauchen, sondern die Spusi.«
Weller fragte sich, woraus sie das folgerte. Er ging jetzt forsch zur Tür. Als er auf der Treppe stand, sah er bereits durchs Fenster einen umgekippten Stuhl, Scherben und Blut.
»Gefahr im Verzug«, sagte er wie zu sich selbst und öffnete die Tür gewaltsam. Kaum jemand war darin besser als er. Normalerweise musste ein Schlüsseldienst gerufen werden, doch so viel Zeit hatten sie nicht. In der Polizeiinspektion hatte sich die Mär verbreitet, einige Türen würden aus lauter Respekt vor Weller aufspringen, sobald er sich ihnen näherte.
Sie fanden den toten Hansjörg Jospich im Wohnzimmer. Offensichtlich hatte ein Kampf in der Wohnung stattgefunden. Der Teppich war blutgetränkt. Wenn ein Mensch normalerweise fünf bis sechs Liter Blut hatte, so kam es Weller vor, als hätte Herr Jospich mindestens zehn Liter Blut vergossen.
Weller wollte alles Notwendige in die Wege leiten, die Kollegen rufen und einen Arzt, doch Ann Kathrin stoppte ihn. »Der Sohn. Wo ist der Sohn?«
Sie rannte die Treppe hoch.
»Ann!«, rief Weller. Sie war einfach zu leichtsinnig. Sie sicherte sich nicht. Er wusste nicht einmal, ob sie ihre Dienstwaffe bei sich trug.
Er nahm seine jetzt in die Rechte und das Handy in die Linke. Er kontrollierte unten jeden Raum und hielt dabei Kontakt zu Ann Kathrin. »Alles o.k. bei dir?«, rief er.
»Der Junge ist nicht hier«, brüllte sie. Schon war sie wieder unten bei ihrem Mann Frank Weller. Sie zog gleich ihre Schlüsse. »Ich vermute, sie kannten den Mörder. Auf jeden Fall haben sie ihn arglos hereingelassen. Die Außentür ist nicht beschädigt. Die Fenster sind zu.«
Weller gab Ann Kathrin recht: »Sie haben dem Killer freiwillig aufgemacht.«
Ann Kathrin zog sich Gummihandschuhe an. »Warum«, fragte sie, »warum diese Familie? Wieso liegt die Frau in Ruperts Bett? Was haben die miteinander zu tun?«
Während sie gemeinsam auf die Spurensicherung warteten, nahm Ann Kathrin das Festnetztelefon und drückte auf Wahlwiederholung. Nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben. Eine abweisende weibliche Stimme meldete sich mit: »Ja. Wirths. Was willst du denn noch, verdammt nochmal?«
»Ich bin Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen. Ich befinde mich in der Wohnung der Familie Jospich. Von diesem Apparat aus wurde mit Ihnen telefoniert. Darf ich fragen, wer Sie angerufen hat, Frau Wirths?«
»Willst du mich jetzt verarschen?«
»Nein, dies ist kein Telefonscherz. Sie haben an der Nummer erkannt, dass ich vom Apparat der Jospichs aus anrufe. Darf ich davon ausgehen, dass Sie nicht das beste Verhältnis zu Frau Jospich hatten? Haben Sie sich im Streit getrennt?«
»Das kann man wohl sagen. Und ich will mit der blöden Schnepfe auch nichts mehr zu tun haben!«
»Was wollte Frau Jospich von Ihnen, als sie Sie angerufen hat?«
Bärbel Wirths stöhnte übertrieben: »Irgendwas wegen diesem Rupert. Ist doch ein Kollege von Ihnen, oder nicht?«
Ann Kathrin winkte Weller herbei. Ihr wurde ganz anders.
Weller schaute sie groß an. Sie suchte am Telefon die Funktion, es lauter zu stellen, schaffte es aber nicht. Stattdessen drückte sie versehentlich das Gespräch weg.
»Es ging um Rupert«, raunte sie Weller zu.
»Vielleicht wollte Frau Jospich …« Weller sprach nicht weiter. Er fand die Situation sehr verwirrend. Ann Kathrin drückte noch einmal auf Wahlwiederholung. Diesmal hob Frau Wirths sofort ab. »Ja, was ist? Bringen wir es hinter uns.«
»Wann genau wurden Sie von Frau Jospich angerufen?«
»Herrjeh, keine Ahnung … Es war schon spät. Ich hatte bereits meinen Schlafanzug an, wenn Sie es genau wissen wollen.«
»Ich bitte Sie um Geduld, Frau Wirths. Hier ist ein schweres Verbrechen geschehen. Vermutlich wurde der Sohn entführt und Frau Jospich …«
Bärbel Wirths unterbrach scharf: »Sind das jetzt die neuen Telefontricks? Wird das hier so ’ne Art Enkeltrick? Wir haben jemanden entführt, geben Sie uns Geld, damit wir ihn freilassen? Da sind Sie bei mir echt an der falschen Adresse.«
»Frau Wirths, ich muss Sie das jetzt fragen: Hatten Sie oder Ihre Freundin eine nähere Beziehung zu Rupert?«
»Ach, hat er Sie auch flachgelegt, Frau Kommissarin?«, keifte Bärbel Wirths.
»Frau Wirths, Sie schweben in großer Gefahr. Sind Sie allein zu Hause?«
»Das geht Sie einen Scheiß an!«
»Wenn Sie die Möglichkeit haben, begeben Sie sich umgehend zur nächsten Polizeiinspektion oder soll ich Ihnen lieber einen Wagen vorbeischicken? Die Kollegen werden dafür sorgen, dass Sie …«
»Jetzt reicht’s mir aber!«, brüllte Bärbel Wirths und legte auf.
Während Ann Kathrin die Nummer der Polizei in Gießen wählte, sagte sie zu Weller: »Rupert hatte mit beiden etwas. Wir haben es ganz klar mit dem Geier zu tun. Er holt sich Frauen, mit denen Rupert mal ein Liebesverhältnis hatte.«
Weller konnte sich den Kommentar nicht verkneifen: »Na, da hat er sich aber viel vorgenommen.«
»Damit will er ihn treffen, Frank. Die Frauen sind für Geier austauschbar. Er darf ihm keine lassen, verstehst du? Wenn er Beate tötet, könnte Rupert in seiner Adressenkartei nachgucken und hätte bestimmt noch ein paar Ersatzfrauen, so wie er eine Miet-Ehefrau hat. Diese Frauke.«
»Scheiße«, sagte Weller. »Sollen wir die jetzt alle beschützen? Sind die alle gefährdet?«
Der Kollege in der Dienststelle Gießen hieß Mettmann, und so meldete er sich auch. Ann Kathrin wies ihn zurecht: »Ich habe nicht in Mettmann angerufen, sondern in Gießen, und auch nicht bei Ihnen privat, sondern in der Polizeidirektion. Meldet man sich bei Ihnen jetzt neuerdings so?«
Weller zeigte Ann Kathrin gestisch, dass dies kein guter Anfang für ein Gespräch war, aber sie hatte auch nicht vor, mit einem Kollegen, der so unprofessionell telefonierte, über die Sache zu reden. Sie verlangte den Leitenden Polizeidirektor zu sprechen. Sie nannte seinen Vornamen und deutete damit an, dass sie beide sich gut kannten. In der Tat hatte sie bei mehreren Fortbildungen mit Horst Krämer abends ein Gläschen Wein getrunken. Kurze Dienstwege waren doch immer noch die besten.
Kommissar Mettmann fühlte sich plötzlich gar nicht mehr wohl mit seinem dämlichen Auftritt. Ihm wurde bewusst, dass er sich vor der berühmten Serienkiller-Jägerin Ann Kathrin Klaasen blamiert hatte. Er suchte nach einer Ausrede und machte es damit nur noch schlimmer: »Tut mir leid, dass ich mich vorhin am Telefon so … Ich hatte eine Zahn-OP . Das hat sauweh getan, jetzt lässt die Betäubung nach und eigentlich hätte ich mich krankschreiben lassen können, aber wir sind unterbesetzt und …«
Ann Kathrin unterbrach ihn: »Bitte verbinden Sie mich jetzt sofort mit Horst Krämer. Wir haben keine Zeit für ein kollegiales Gespräch. Es geht um Leben und Tod. Kapieren Sie das?«
Sekunden später konnte Ann Kathrin mit dem Leitenden Polizeidirektor sprechen. Sie hielt sich wie meist nicht mit Vorreden auf: »Moin, Horst. Hier Ann Kathrin Klaasen. Im Einzugsbereich eurer Dienststelle wohnt eine Bärbel Wirths. Die Frau schwebt in Lebensgefahr. Wenn unsere Informationen richtig sind, könnte es sein, dass ein Serienkiller, der bereits mehrere Frauen entführt und getötet hat, auf dem Weg zu ihr ist.«
»Na, das sind ja starke Geschütze, die du da auffährst, Ann.«
»Es reicht nicht, wenn ab und zu ein Polizeiwagen bei ihr durch die Straße fährt. Sie braucht richtigen Personenschutz.«
»Darf ich noch ein bisschen mehr erfahren? Wenn ich hier schon die Pferde scheu mache, dann …«
»Bitte, Horst, verlass dich jetzt einfach auf mein Wort. Später liefere ich alle Details nach.«
»Weiß die Frau, dass sie in Gefahr ist?«
»Ich habe versucht, es ihr zu vermitteln, aber sie weigert sich, es zu glauben.«
»Verstehe ich gut.«
»Horst, ich muss. Wir haben hier noch eine Menge zu tun. Ich stehe am Tatort. Der Ehemann ist tot, seine Frau ebenfalls. Wir haben es mit einem hochgefährlichen Mann zu tun.«
»Und der ist unterwegs zu uns?«
»Vermutlich.«
Horst Krämer sprach wie ein Ritter, der sich auf die Belagerung der Burg vorbereitet: »Wir werden ihm einen gebührenden Empfang bereiten.«
Draußen auf der Edewechter Landstraße hielten zwei Polizeiwagen. Ann Kathrin ging zur Tür, um die Kollegen zu begrüßen.
Weller machte mit seinem Handy Fotos von der Leiche und ein paar umgeworfenen Gegenständen. Auch der Tisch, auf dem noch Getränke standen, interessierte ihn. Aus der Situation am Tatort reimte er sich zusammen, was hier vermutlich geschehen war.
»Was für eine kranke Scheiße«, murmelte er.
Er, der sich nie besonders für das Weltgeschehen interessiert hatte, konnte plötzlich gar nicht genug Nachrichtensender empfangen. Was hatte er mit Politik zu tun? Was mit Sport? Auch Aktienkurse und Wirtschaftsdaten langweilten ihn nur.
Doch jetzt war er selbst zum Mittelpunkt des öffentlichen Interesses geworden. Frederico Müller-Gonzáles, ein in den Augen vieler Menschen vom Gangsterboss zum Robin Hood mutierter Volksheld, forderte ihn öffentlich heraus, überzog ihn mit Hass und Spott.
Er wurde Geier genannt, von einigen Zeitungen auch der Geier . Im Internet kursierten Karikaturen. Da es kein Bild von ihm gab, ließen die Zeichner ihrer Phantasie freien Lauf. Er fühlte sich gedemütigt, lächerlich gemacht, wie damals in der Schule. Er war immer ein Außenseiter gewesen. Gehasst, gemobbt. Ausgeschlossen. All das kam nun zu ihm zurück. Doch es stachelte nicht nur die Wut in ihm an, nicht nur die Lust, zu töten. Sondern da kam noch etwas. So eine Gleichgültigkeit, als sei ihm alles egal.
Er hatte mal in einer Talkshow einem ehemaligen Versicherungsvertreter, der dann Maler geworden war, zugehört. Der Mann hatte eine denkwürdige Aussage gemacht: »Als der Druck in der Firma immer größer wurde und ich nichts mehr richtig machen konnte, habe ich innerlich gekündigt. Ich fühlte mich damals innendrin wie tot. Erst als ich begann zu malen, ging es mir besser.«
Dieser Ausschnitt aus einer Talkshow im dritten Programm hatte sich in sein Gehirn gebrannt und wurde immer wieder neu abgespielt. Er kannte jede Geste, die der Maler, der sich Autodidakt nannte, beim Sprechen gemacht hatte. Und dieser Glanz in seinen Augen, als er von seiner Malerei sprach … da waren seine Bilder wie zum Greifen nah, ohne dass eins von ihnen gezeigt wurde.
Kann ich das auch, fragte Geier sich, einfach so kündigen?
Finanziell wäre das für ihn kein Problem. Er hatte einen Koffer mit Bargeld im Auto, und er konnte noch ein paar Verstecke ausheben. Das mit den Jospichs hatte doch super funktioniert.
Ja, er hatte durchaus den Impuls in sich, Pascal und Beate einfach in dem Haus in Westerstede zu lassen. Sollten sie doch verrotten!
Wie würde die Geschichte weitergehen, fragte er sich, wenn ich nun einfach verschwinde? Noch komme ich raus aus dem Land. Ich könnte irgendwo ein neues Leben anfangen.
Aber so wollte er nun doch nicht abtreten. Er hatte auch seine Klassenkameraden abgestraft. Niemand war schadlos aus der Sache herausgekommen. Wer ihn gemobbt hatte, musste leiden. Er hatte sie sich geholt. Nacheinander. Alle. Einzeln. Einige hatten nicht mal erfahren, dass er es war, der an ihrem Unglück schuld war.
Damals hatte er noch nicht getötet. Er hatte noch Häuser angezündet, während drinnen eine Party in der sturmfreien Bude lief. Wie sollte er daran schuld sein? Er war doch nicht mal eingeladen gewesen. Da musste ja wohl irgendein Halbstarker seine brennende Zigarette vergessen haben …
Er hatte harmlosen Strebern Drogen untergeschoben. Wege, sich zu rächen, fand er immer.
Er musste den guten Ruf des Geiers wiederherstellen. Das war er sich selbst und dem Mythos, den er geschaffen hatte, schuldig. Nein, er konnte nicht einfach verschwinden, sondern musste hart zuschlagen.
Er befürchtete, in der Auftragskillerszene bereits abgeschrieben zu werden. Da war die Konkurrenz groß, und es hatte sich längst herumgesprochen, dass Marcellus und Kleebowski nicht auf sein Konto gingen. Er wollte nicht so einfach kampflos das Feld räumen. Sein Name sollte Legende bleiben. Er hatte so lange daran gearbeitet, das durfte er sich nicht zerstören lassen.
Er beschloss, Pascal zu töten und ihn nach Dinslaken zu bringen. Er fand die Idee plötzlich genial, fühlte sich sofort besser, beschwingt, leicht, durchtrieben …
Ich werde ihn, dachte er, zu meinem alten Haus in Eppinghoven bringen. In den niedergebrannten Grundmauern werde ich ihn der Öffentlichkeit präsentieren. Dann weiß jeder, dass mein Rachefeldzug begonnen hat.
Ja, Pascal wollte er sowieso loswerden. Männer waren uninteressant für ihn. Kinder erst recht. Sie machten einfach keinen Spaß.
Mit Pascal wollte er seine Duftmarke deutlich setzen, wie ein Wolf, der pinkelnd sein Revier markiert.
Er sah auf dem Bildschirm, dass dieser Bloem schon wieder sein Gift verspritzte. Es gab ein Foto, auf dem war Frederico Müller-Gonzáles zu sehen. Im Hintergrund eine Fähre.
Pascal wusste, dass sein Tod beschlossene Sache war. Der Mann, dessen Gesicht er kannte, konnte ihn nicht laufen lassen. Er war diesem skrupellosen Menschen ausgeliefert. Mit jedem Versuch, sich selbst zu befreien, fügte Pascal sich nur noch mehr Schmerzen zu. Sein Peiniger verstand etwas von Fesselungskünsten.
Pascal suchte innerlich Halt. Er versuchte zu beten, stellte sich vor, was seine Mutter ihm raten würde oder sein Vater. Aber das machte ihn nur traurig. Er weinte und spürte seine Tränen wie ein Streicheln im Gesicht.
In der Schule, dachte er, hat man uns viel unnützes Zeug beigebracht. Aber es gab nie eine Unterrichtsstunde zum Thema: Was mache ich in der Gewalt eines sadistischen Killers?
Doch plötzlich, als er über seine Schule nachdachte, blitzte in ihm der Gedanke auf, seinen Lehrern vielleicht unrecht getan zu haben. Er griff, als er die Schritte hörte, zur letzten denkbaren Möglichkeit. Er stellte sich tot.
War es nicht eine beliebte Methode im Tierreich? Er erinnerte sich an eine Biologiestunde, in der Herr Vier, der nur ungern Fünfen verteilte, über die Totsteller im Tierreich gesprochen hatte. Damals hatte Pascal zum ersten Mal das Wort Opossum gehört. Herr Vier hatte ihnen Bilder von dieser nordamerikanischen Beutelratte gezeigt. Offener Mund, heraushängende Zunge, von sich gestreckte Gliedmaße – ja, so sah ein totes Tier aus. Herr Vier hatte den Schülern erzählt, es sei die letzte Methode, sich vor stärkeren, überlegenen Fressfeinden zu schützen. Kein Puma würde ein totes Opossum fressen. Er nannte es auch Schreckstarre .
Bei mir, dachte Pascal, ist wohl mehr Schauspielkunst gefragt. Ich kann mich nicht darauf verlassen, in eine Schreckstarre zu fallen. Aber wie soll ich es schaffen, ihn für lange Zeit zu täuschen? Er kennt sich garantiert mit Leichen aus. Klar kann ich den Mund öffnen und die Zunge raushängen lassen. Ich kann versuchen, nicht zu atmen. Aber ich kann schlecht meinen Herzschlag anhalten oder meinen Puls stoppen.
Wenn Pascal sich richtig erinnerte, konnten Schlangen sich totstellen, Hasen, Schildkröten, Hamster. Hatte Herr Vier nicht sogar von Fischen gesprochen, die so etwas machten?
Pascal hatte das Gefühl, dass viele Lebewesen dem Menschen weitaus überlegen waren. Trotzdem. Er wollte es versuchen. Es war seine letzte Chance.
Er streckte die Beine von sich.
Soll ich erschlaffen oder erstarren, fragte er sich. Er öffnete den Mund, ließ die Zunge heraushängen, wie er es vom Opossum gelernt hatte, dankte seinem Lehrer, Herrn Vier, und da er sich eh schon halb tot fühlte, hoffte er, das könne ihm helfen. Zumindest bot er mit seinen Verletzungen einen erbärmlichen Anblick.
Einige Tiere schafften es, mit offenen Augen und starrem Blick ihre Feinde vom Tod zu überzeugen. Das traute Pascal sich nicht zu. Er schloss die Augen lieber.
Die Tür wurde aufgestoßen. So öffnete jemand eine Tür, der gleich klarmachen wollte, dass er auf nichts Rücksicht nahm und bereit war, alles beiseitezufegen, was ihm im Weg stand.
Pascal konnte ihn riechen. Vielleicht gab es doch so etwas wie Schockstarre bei Menschen. Pascal wusste nicht mehr, ob er es gerade spielte oder ob es ihm wirklich geschah.
Wenn der Tod einen Geruch hatte, dann stieg der gerade Pascal in die Nase.
Bloß nicht bewegen. Bloß nicht bewegen. Nicht niesen. Nicht zucken. Nicht atmen.
»Die Jugend von heute verträgt nichts mehr«, spottete Geier und trat gegen Pascals rechtes Bein.
Was wird er tun, um festzustellen, ob ich wirklich tot bin, fragte Pascal sich. Wird er meinen Puls fühlen? Sticht er mir einfach mit dem Messer ins Bein? Lauscht er an meinem Herzen? Legt er zwei Finger auf meine Halsschlagader?
Geier griff ihm in die Haare und schlug seinen Kopf gegen die Heizung. Pascal biss sich dabei selbst auf die Zunge.
Eine Weile rumorte Geier im Badezimmer herum. Der Wasserhahn wurde aufgedreht. Pascal wagte es nicht, einen Blick zu riskieren. Er wusste nicht, was als Nächstes passieren würde. Er lauschte und roch. Er stellte sich vor, tot zu sein, und nichts, was geschehen würde, könnte ihm noch etwas ausmachen.
Diesmal näherte Geier sich ihm von der anderen Seite. Er stieß gegen Pascals linkes Bein und begann tatsächlich, die Fesseln loszuschneiden.
Dies war der kritische Moment. Pascal hätte am liebsten losgejubelt und wäre aus dem Haus gerannt. Er tat das alles nicht, sondern hielt weiterhin die Luft an. Es fiel ihm zunehmend schwerer.
Sein linker Arm war schon frei. Er ließ ihn schlaff herunterplumpsen. Jetzt nicht atmen, beschwor Pascal sich.
Dann waren beide Arme frei, und er rutschte an der Heizung ein Stückchen tiefer, bis die Füße irgendwo anstießen.
Wenn ich nach Luft schnappe, wird er mich töten, aber wenn ich nicht atme, werde ich auch sterben, dachte Pascal. Er spürte Geiers säuerlichen Atem in seinem Gesicht.
Pascal musste Luft holen. Er musste. Um es zu verhindern, schluckte er, aber auch das war verräterisch.
Er japste wie ein Ertrinkender, riss die Augen auf und sah direkt in Geiers Augen. Geiers Nase war keine zwanzig Zentimeter von seiner eigenen entfernt.
Instinktiv führte Pascal etwas aus, das er auf dem Schulhof gelernt hatte. Mehrfach war er Opfer eines Kopfstoßes geworden. Diesmal versuchte er diese Technik selbst. Er traf mit seiner Stirn Geiers Nase.
Geier richtete sich auf, griff sich ins Gesicht und schimpfte: »Du gottverdammtes Opfer, du!«
Pascal trat gegen Geiers Knie, raffte sich auf und rannte los.
»Bleib hier, du verfluchter Hund!«, brüllte Geier hinter ihm her.
Schon war Pascal bei der Treppe. Er stolperte herum wie ein schwer Betrunkener. Seine Körperkoordination funktionierte noch nicht wirklich. Es war, als würden seine Befehle bei den Beinen und Armen nur verspätet ankommen.
Er griff mit der linken Hand nach dem Treppengeländer, fasste aber daneben. Die Luft kam ihm zähflüssig vor, als müsse er gegen sie ankämpfen. Aber eine irre Angst und ein unbändiger Lebenswille trieben ihn vorwärts.
Das Gefühl, mehr zu schwimmen als zu laufen, verließ ihn bis in die obere Etage nicht. Er knallte die Tür hinter sich zu, wollte sie verriegeln. Der Schlüssel war herausgefallen und lag auf dem Boden.
Pascal bückte sich. Schon war Geier bei ihm.
Pascal schlug die Tür zu. Geier versuchte, sie aufzudrücken. Als Geier sich gegen die Tür warf, versuchte Pascal nicht, standzuhalten, sondern floh in die Küche. Die Tür knallte auf. Geier stürzte im Flur. Da seiner Gewalt kein Widerstand entgegengesetzt wurde, verlor er das Gleichgewicht. Noch auf dem Boden rief er: »Du kommst hier sowieso nicht raus! Du machst alles nur noch schlimmer!«
Pascal zögerte einen Moment, fragte sich, ob er zur Haustür rennen sollte, entschied sich dann aber dagegen, öffnete in der Küche ein Fenster über dem Waschbecken und kletterte über die Spüle nach draußen.
Es war ein unfassbares Gefühl, im Garten zwischen den Rhododendren zu stehen. Der Boden unter seinen Füßen war weich. Die Sonne versteckte sich hinter einer kleinen Schäfchenwolke. Er hörte Amseln. Hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter von hier entfernt stand ein Haus.
Pascal stürmte los.
Wenn es einen Gott gibt, dachte er, dann hat der mir gerade geholfen, aus dieser verdammten Situation herauszukommen. Danke, lieber Gott, und danke, Herr Vier, für Ihren tollen Biologieunterricht.
Er trat auf eine Scherbe oder eine Muschelschale. Der Schmerz war wie ein Weckruf. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er nicht nur barfuß war, sondern fast nackt.
Er hörte hinter sich Geier rufen: »Komm zurück! Ich habe gesagt, du sollst zurückkommen!«
Pascal drehte sich um. Die Haustür öffnete sich. Geier stand wutentbrannt im Türrahmen. Er streckte seine Hand nach Pascal aus, als könne er ihn mit magischen Kräften zurückholen. Und es gab tatsächlich etwas in Pascal, das wollte aufgeben, reumütig zurückkehren und um Gnade flehen. Aber etwas anderes war größer. Sein Widerstandsgeist trieb ihn vorwärts.
Er überquerte eine Straße. Ein schwarzer Audi mit offenem Verdeck näherte sich. Pascal entschied sich, statt den Wagen anzuhalten, lieber zu dem Haus zu rennen. Das erschien ihm ein sichererer Zufluchtsort zu sein.
»Hilfe!«, schrie Pascal, »Hilfe!«
Er hörte seinen eigenen Atem rasseln. Die Beine kamen ihm merkwürdig schwer vor, die Gelenke steif. Er ruderte weiter, als müsse er durch die Luft schwimmen.
Geier näherte sich mit schnellen Schritten. Er packte Pascal von hinten bei der Schulter.
Pascal fuhr herum und schlug um sich. Aber darin war er lange nicht so gut wie Geier, der ihm einen Boxhieb in die Magengrube verpasste. Dann einen Leberhaken.
Pascal wollte noch einmal um Hilfe rufen, aber es kam nur noch ein jämmerlicher Laut aus seinem Mund, kaum noch menschliche Sprache. Aus dem Haus meldete sich niemand. Hinterm Haus mähte jemand den Rasen.
Aber der Audi hielt an. Am Steuer saß eine Frau mit rotem Kopftuch und großer Sonnenbrille. Sie hätte vierzig, aber auch sechzig Jahre alt sein können. Der Mann neben ihr hatte weiße Haare und etwas Playboyhaftes an sich. Das Hemd offen bis zu den Brusthaaren. Er lehnte sich aus dem offenen Auto und rief: »Hey, hey, was ist los? Brauchen Sie Hilfe?«
Pascal schickte einen Dankesruf zum Himmel: Die Rettung, lieber Gott! Danke! Du schickst mir die Rettung!
Geier nahm Pascal in den Schwitzkasten.
»Das können Drogen aus Kindern machen«, rief Geier zum Audi rüber. »Es ist schrecklich! Man kann ihn keine Minute alleine lassen. Er baut nur Scheiß, Chrystal Meth ist eine furchtbare Droge.«
Der Playboy drehte sich um und sprach mit der Fahrerin des Wagens. Sie hatte schon ihr Handy in der Hand. Pascal hoffte, sie würde die Polizei rufen. Meine Mutter, dachte er, hätte es getan.
Doch der Playboytyp mit der Brustbehaarung rief nur zurück: »Wem sagen Sie das?! Ist das Ihr Sohn?«
»Ja«, rief Geier, »seit zwei Jahren abhängig!«
Pascal versuchte zu sprechen, doch Geier drückte ihm die Luft ab. Es gelang Pascal trotzdem, den Kopf zu schütteln, aber wer nahm schon die Äußerungen eines drogenabhängigen Jugendlichen wahr?
Jetzt guckte auch aus dem Haus jemand herüber und rief. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, danke für die Hilfe!«, rief Geier. »Jede Gesellschaft bekommt die Jugend, die sie verdient hat …«
Pascal riss sich los und brüllte: »Ich bin nicht drogenabhängig! Ich wurde entführt!«
Schon schnappte der Geier ihn wieder.
Das Audi-Cabrio fuhr weiter. Der Mann lehnte sich noch hinten raus und rief: »Viel Glück, Kumpel, und starke Nerven! Die wirst du brauchen!«
Geier hatte Pascal wieder im Griff. Er bedankte sich freundlich und zog den weinenden Jungen zurück in das Haus, aus dem er gerade versucht hatte, zu fliehen.
»Das ist nicht fair«, jammerte Pascal, »einfach nicht fair!«
»Das Leben ist nicht fair«, bestätigte Geier und streichelte ihm über den Kopf. Dann warf er Pascal wie einen Sack Kohlen in den Flur, schloss die Tür und trat nach ihm. »Du verdirbst alles, du kleiner, aufsässiger Idiot, du. Jetzt müssen wir diese gastliche Stätte verlassen. Oder glaubst du, ich warte darauf, bis einer von denen es sich anders überlegt und doch noch die Polizei anruft oder das Jugendamt? Ich bin ja eigentlich echt ein ruhiger Mensch, aber dir ist es gelungen, mich sauer zu machen, Kleiner. So richtig sauer.«
Die Fallbesprechung fand in der Polizeiinspektion Aurich statt. Polizeichef Büscher saß am Tisch, als würde er gar nicht dazugehören oder wisse nicht, was er auf dieser Veranstaltung sollte. Er hatte etwas Mitleiderregendes an sich. Er sah aus wie ein Mann, der wusste, dass er besiegt war. Ein geschlagener Held, der sich wehmütig an vergangene Zeiten erinnerte, während die jungen Recken heiß darauf waren, sich zu beweisen.
Normalerweise lag die Ermittlungshoheit dort, wo die Leiche gefunden wurde. Jetzt gab es die tote Frau Jospich in Norden und ihren toten Ehemann in Oldenburg. Dazu den höchstwahrscheinlich entführten Sohn.
Trotz der verwirrenden Lage gab es kein Kompetenzgerangel. Selbst Klatt vom BKA hielt sich zurück. Das hatte mit Ann Kathrins Persönlichkeit und ihrem Auftreten zu tun. Büscher kapierte, dass sie so etwas wie eine natürliche Autorität war. Dafür brauchte sie weder einen Dienstgrad noch eine Genehmigung von oben. Die Menschen hörten ihr einfach zu, wenn sie sprach. Man vertraute ihr. Selbst wenn sie ihre Zweifel äußerte, ihre eigenen Fragen und Unsicherheiten offenmachte, verlor sie dadurch nicht an Respekt, sondern gewann stattdessen noch dazu.
Büscher gestand sich ein, sie zu bewundern. So, dachte er, bin ich nie gewesen, so kann ich auch nie sein. Ich habe immer versucht, den Chef zu spielen, weil ich es eben sein sollte. Aber es war nie echt. Das haben sie immer gespürt.
Er konnte sich Ann Kathrin auch auf einer Rednerbühne vor Volksmassen vorstellen. Als Rädelsführerin, die Streikenden ihre Verhandlungsstrategie mit der Geschäftsführung erklärte.
Er wusste, dass sie sich selbst gar nicht so sah. Sie galt als wenig teamfähig, wobei gerade sie in der Lage war, Teams um sich zu scharen. Sie hatte allerdings Schwierigkeiten damit, sich selbst in ein Team einzuordnen. Wenn es Alphatiere gab, dann war sie eins. Aber sie wollte keins sein. Er ahnte, dass er nur so lange Kripochef war, wie sie seinen Entscheidungen zustimmte. Im Zweifelsfall würden die Kollegen ihr folgen und nicht ihm.
Jetzt überließ er ihr gleich das Spielfeld. Aus Oldenburg war Hauptkommissar Tjark Oetjen angereist. Er stimmte Ann Kathrin erstaunlich oft zu. Wenn zwei Dienststellen an einem Fall saßen und der von großer öffentlicher Bedeutung war, dann versuchten oft Dienststellenleiter, sich zu profilieren, ihren Anteil an der Arbeit besonders hervorzuheben oder das Ganze an sich zu reißen.
Hier gab es ein kollegiales Miteinander, denn Oetjen kannte Frank Weller und Ann Kathrin gut und hatte in seiner Wilhelmshavener Zeit auch schon mit Rupert zu tun gehabt. Er war stolz darauf, in diesem Fall mit Ann Kathrin zusammenzuarbeiten. Niemand in Deutschland hatte so viele Serienmörder geschnappt wie sie. Ostfriesland galt schon als Endstation für Serienkiller. Immer wieder hatte man versucht, sie nach Wiesbaden zu holen. Doch sie war Ostfriesland treu geblieben. Sie wusste genau, dass sie nur in der Zusammenarbeit mit ihren Kolleginnen und Kollegen hier wirklich gut war. In der Presse war sie oft mit einem Spürhund verglichen worden, der schnüffelnd witterte, wo es langging. Büscher erlebte sie stattdessen als ganz konkrete, faktenorientierte Frau, die erst mal alles sammelte, damit sich daraus ein Bild ergab.
In Klatts Weltbild gehörten Frauen eigentlich nicht zur Kripo, und wenn, dann sollten sie sich um Familienstreitigkeiten und Kinder kümmern. Vielleicht noch um Fahrraddiebstähle. Bei den richtig harten Jobs in der Mordkommission hatte er immer das Gefühl, Frauen sahen hier nicht richtig hin. Oder es zerstörte sie am Ende. Er wusste, dass seine Meinung nicht mehr zeitgemäß war. Er sprach es nicht aus, aber manchmal spürten die anderen genau, was er verschwieg.
Weller sah seiner Frau zu und lauschte ihren Ausführungen. Er ahnte, dass sie gerade über ihre Grenzen ging. Wenn sie sich ganz in einen Fall vertiefte, vergaß sie sogar zu essen und zu trinken. Er schob ihr dann immer wieder ein Glas Wasser hin, prostete ihr zu und animierte sie, ein paar Happen zu sich zu nehmen. Er hatte von ten Cate ostfriesischen Käsekuchen mitgebracht und drum herum ein paar Törtchen drapiert. Das Tablett, von Jörg Tapper für seine Freunde zusammengestellt, stand unangetastet in der Mitte des runden Tisches, während Ann Kathrin an einem Flipchart stand und auf weißes, unkariertes Recyclingpapier Kreise malte, in die sie Namen schrieb und mit bunten Pfeilen verband.
»Wir überprüfen sämtliche Überwachungskameras der Umgebung. Bis jetzt erfolglos. Rupert hat an seinem Haus und Grundstück fünf Kameras installiert, aber die Anlage ist alt und kaputt. Die Wartungsfirma gibt es nicht einmal mehr.«
»Heißt das«, fragte Tjark Oetjen, »die Kameras waren gar nicht intakt?«
Weller antwortete und gab zähneknirschend zu: »Ja, es war ihm wohl zu teuer, alles neu zu machen. Er war der Meinung, dass man den Kameras ja von außen nicht ansieht, dass sie nicht mehr funktionieren und sie hätten auch so eine abschreckende Wirkung.«
Marion Wolters hatte bisher geschwiegen. Lediglich ihr Magen gab knurrende Geräusche von sich. Sie flüsterte jetzt in Rieke Gersemas Ohr: »Außerdem dachte er wahrscheinlich, bei ihm sei sowieso nichts zu holen.«
»Unser Hauptaugenmerk muss jetzt darauf liegen, Pascal zu finden. Und Beate, die Frau unseres Kollegen. Hoffentlich noch lebendig«, sagte Ann Kathrin und schlug eine öffentliche Fahndung vor. Sie hielt ein Bild von Pascal hoch, das sie aus der Wohnung in Oldenburg mitgenommen hatte. »Lasst es uns veröffentlichen und über alle nur denkbaren Kanäle jagen. Vielleicht versteckt sich Geier mit dem Jungen irgendwo.«
Über den Bildschirm waren Fahnder aus Osnabrück und Wiesbaden zugeschaltet. Eine Kollegin, die eine Frisur hatte, als sei sie eine Filmdiva aus den fünfziger Jahren, ging offensichtlich davon aus, dass jeder sie kannte: »Was hat das alles mit diesen Presseveröffentlichungen zu tun, die Holger Bloem raushaut? Was ist das überhaupt für ein Typ? Wir werden mit Anfragen bombardiert.«
Ann Kathrin nahm Holger sofort in Schutz: »Dies ist ein freies Land mit einer freien Presse. Und wenn Frederico Müller-Gonzáles einem Journalisten ein Interview gibt, dann ist das seine Sache.«
Die Dame aus den Fünfzigern schüttelte den Kopf. Ihre mit Haarspray verklebten Haare wackelten, als sei die ganze Frisur aus einem einzigen Stück geschnitten. »Das erschwert unsere Ermittlungsarbeiten enorm. Wahrscheinlich wird der Täter dadurch erst so gereizt, dass er unverhältnismäßig überreagiert.«
Weller zeigte mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm und schimpfte: »Nein, das ist ganz sicher nicht so. Von wegen überreagiert! Wir haben es mit einem sadistischen Killer zu tun. Ihr habt den jahrelang gejagt, der hat Polizistinnen getötet, Verkäuferinnen … Der verspottet und spielt mit uns.«
Sie wehrte ab: »Sein Haus in Dinslaken ist niedergebrannt. Möglicherweise ist er sogar darin umgekommen.«
»Wieder falsch«, zischte Weller. »Dann hätten wir da DNA -Spuren von ihm gefunden. Er ist entkommen, und er macht weiter. Dazu braucht er keine Zeitungsinterviews und keine Artikel von Holger Bloem. Wenn Sie keine Ahnung haben, dann ersparen Sie uns Ihre Ratschläge!«
Ann Kathrin sah Weller an und bat ihn um Mäßigung. Er zog das Tablett mit der Torte zu sich heran und aß ein Stück Käsekuchen aus der Hand. Er biss zu, als könne er so den Mörder unschädlich machen.
Die Frau mit der gemeißelten Frisur gab nicht auf und betonte: »Dieses Interview hätte so nicht veröffentlicht werden dürfen. Man könnte es als Gewaltaufruf werten oder als Aufforderung zu einem Duell.«
Weller sprach über den Tisch zu Ann Kathrin, als seien die anderen gar nicht mehr im Raum. »Wir haben keine Zeit für solchen Kram, Ann. Wir verzetteln uns. Wir müssen Beate finden und diesen Jungen. Uns läuft die Zeit weg!«
Ann Kathrin gab Weller mit einem Wimpernschlag recht.
Die BKA -Frau mit den hochtoupierten Haaren verzog abfällig den Mund und zischte: »Dieser Holger Bloem muss gestoppt werden. Kriegt den denn niemand unter Kontrolle? Jetzt werde ich Ihnen mal erzählen, wie ich die Sache sehe …«
Weller unterbrach sie: »Können Sie das nicht Ihrem Friseur erzählen?«
Ann Kathrin deutete Weller an, er solle sich mäßigen. Er drehte sich um, machte einen Faustschlag in die Luft und stöhnte. »Ach, ist doch wahr, verdammt!«
»Den Artikel von Holger Bloem«, sagte Ann Kathrin so sachlich wie möglich, »und die Zitate aus dem Interview sind sehr hilfreich für uns. Möglicherweise verunsichern sie den Täter und zögern das eigentliche Verbrechen hinaus. Vielleicht glaubt er ja, die falsche Frau zu haben. So gewinnen wir Zeit.«
Marion Wolters stand auf und hantierte am Bildschirm herum. »Ich verstehe Sie nicht mehr richtig«, sagte Marion. »Was haben Sie gesagt?« Die Gesichter waren plötzlich verpixelt, dann wurde der Bildschirm zu einer schwarzen Fläche. Nur noch ein leichtes Nachleuchten an den Rändern war zu sehen.
»Eigentlich«, sagte Marion, »wäre genau das Ruperts Part gewesen. Aber weil er nicht bei uns ist, übernehme ich das mal für ihn.«
Büscher blickte zu Tjark Oetjen und zu Klatt. Oetjen lehnte sich im Stuhl zurück und schien völlig einverstanden damit zu sein. »Ja, bei uns ist die gesamte Technik auch veraltet, da kann so was schon mal passieren. Erst streicht man uns die Mittel zusammen, und dann wundert man sich, wenn nichts mehr funktioniert. Schönen Gruß an die Sparschweine – sollen sie doch an ihrem Geld ersticken«, kommentierte er.
Klatt wollte sich auch ins Gespräch bringen. Immerhin vertrat er hier das BKA , und Büschers Passivität nervte ihn. Klatt litt daran, wenn Ann Kathrin so sehr die Bühne überlassen wurde. Er beugte sich vor, als hätte er eine geheime Botschaft an alle und deutete an, sie sollten die Köpfe näher zusammenstecken. »Es gibt da«, sagte er, »noch ganz inoffiziell – eine Möglichkeit, die wir alle nutzen sollten. Ihr wisst ja bestimmt, wie unsicher WhatsApp, Signal und solche Messaging-Apps sind.«
Es sah zwar kaum einer den Zusammenhang zu diesem Fall ein, aber Klatt freute sich über das allgemeine Nicken. »Ermittlergruppen organisieren sich oft gleichzeitig in WhatsApp-Gruppen, und das ist ja für den Austausch auch klasse und schnell, aber …« er wedelte mit den Fingern herum, als müsse er Fliegen vertreiben, »wer weiß, wer da alles mitliest.«
»Interessiert die CIA wirklich, was wir hier treiben?«, fragte Marion Wolters leise ihre Nachbarin Rieke Gersema. Die grinste. Für sie war das alles nur ein Versuch von Klatt, sich mal wieder wichtig zu machen.
»Aber«, fuhr Klatt geradezu triumphierend fort, »es gibt jetzt eine Lösung – also, wie gesagt, nicht offiziell, von mir habt ihr das nicht. Aber ich benutze neuerdings«, er hielt sein Handy auf den Tisch und zeigte es herum, so dass es jeder sehen konnte, »die App Top Secret . Wie der Name schon sagt, ist das ein sicheres System und wird hauptsächlich von Geschäftsleuten genutzt, an der Wallstreet und so, habe ich mir sagen lassen. Es wird nicht offiziell dafür geworben. Es gibt über zwei Milliarden WhatsApp-Benutzer. Top Secret dagegen ist im Grunde«, er freute sich über seinen eigenen Sprachwitz, »noch top secret. Ich schlage vor, dass wir als Ermittlungsgruppe, gerade in diesem speziellen Fall, Top Secret nutzen …«
Während Tjark Oetjen bereits in seinem App-Store nach Top Secret suchte, biss Weller sich in den Handrücken, um nicht loszubrüllen. Er stand auf und ging zur Tür. Ann Kathrin sah ihn irritiert an.
»Ich muss mal für kleine Jungs«, behauptete er.
Da Geier sowieso vorhatte, diese Wohnung aufzugeben, nutzte er den WLAN -Anschluss, um per Computer eine kurze Filmaufnahme von Beate an die Polizeiinspektion zu schicken, so als wolle er eine schriftliche Anzeige machen. Immerhin hatte er sie aus Norden entführt, und ihr Mann war ganz klar Polizist.
Es kam Geier so vor, als würde er eine Weltmacht herausfordern. Die gesamte Polizei. Vermutlich würde das hier mit seinem Tod enden. Aber der Gedanke schreckte ihn nicht mehr. Er konnte sich jetzt vorstellen, wie sich Menschen fühlten, die glaubten, für eine große Sache zu sterben. Alles war jetzt so intensiv. Dieses Kribbeln auf der Haut. Er war voller Adrenalin.
Schöne Grüße , schrieb er dazu. Der Countdown läuft.
Nachdem er die E-Mail abgeschickt hatte, ging er zu Pascal, um ihn umzubringen. Er wollte sich nicht länger mit dem Jungen belasten.
Er hielt sein Messer an Pascals Halsschlagader und sagte: »So ist dein Vater gestorben. So sollst du ihm auch folgen.«
Pascal weinte und sagte den einzigen Satz, der ihm einfiel: »Ich bin zwölf.«
Geier hielt inne. Nein, es war kein Mitleid. Aber er sah durch Pascal eine Chance. Diese Beate musste auf jeden Fall sterben. Sollte die Polizei versuchen, ihn zu stoppen, wäre so ein Kind bei Verhandlungen ein guter Trumpf. Niemand würde den Tod eines Kindes riskieren. Bei Erwachsenen, vermutete er, taten sie sich leichter. Vielleicht war das Leben des Jungen für ein Fluchtauto gut oder sogar für freies Geleit.
Er hätte sich gerne noch ein bisschen mit Beate beschäftigt, doch es drängte ihn, aufzubrechen. Er rechnete damit, dass über kurz oder lang jemand das Jugendamt oder die Polizei verständigen würde.
»Okay«, sagte er zu Pascal. »Ich schenk dir noch ein bisschen Leben. Ich hoffe, du wolltest nicht Fußballer werden. Jungs in deinem Alter träumen doch oft davon.«
Pascal schluckte. »Nein, wollte ich nicht.«
»Dann ist ja gut. Ich muss dir nämlich ein Bein brechen, damit du mir nicht wieder wegläufst. Soll ich das linke nehmen oder das rechte? Oder meinst du, ich muss dir beide brechen? Nicht, dass du mir noch davonhumpelst …«