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er Kerl sieht auch noch gut aus, schießt es mir durch den Kopf, als Peter mit einem Fremden an seiner Seite den Weg zu uns hinaufschlendert. Wir sind zwischen den Rebstöcken verstreut und ernten fleißig Traube für Traube. Ich selbst gehe in Deckung und hoffe unentdeckt zu bleiben.
Mir ist klar, dass dieser Mann keiner unserer Freiwilligen sein kann. Ich verfüge über ein gutes Gesichtergedächtnis. Auch wenn ich mir nicht alle Namen merken kann, weiß ich aber, ob ich jemanden schon einmal gesehen habe oder nicht. Und das ist hier definitiv nicht der Fall.
Davon abgesehen hatte Peter ja gestern erwähnt, dass William Powell heute hier auftauchen würde. Also kann das nur der Mann sein, den Peter ruft und der dann sofort alles liegen und stehen lässt und springt, womöglich noch fragt, wie hoch. Verdammte Eifersucht!
Der gestrige Abend war gelinde gesagt Scheiße. Als ich auf meiner Couch saß, war ich so wütend auf mich, auf Peter, auf die Situation an sich, dass ich beinahe irgendetwas an die Wand gefeuert hätte.
Okay, nicht beinahe. Es traf die arme Fernbedienung, die ich eben in diesem Moment in der Hand hielt, um durch das Programm zu zappen. Ich landete bei einem regionalen Nachrichtensender aus San Francisco. Der Sprecher berichtete über eine Schlagzeile im Chronicle, die hinter ihm eingeblendet wurde. Das reichte für mich aus, um überzukochen.
In der nächsten Sekunde schoss die Fernbedienung im hohen Bogen durch die Luft und fand an der Wand zwischen Bildern meiner Familie ein jähes Ende. Sie zersprang in tausend Stücke, die sich gleichmäßig über Schrank und Fußboden verteilten. Man hätte glauben können, sie wäre explodiert. Das arme Ding. Sie liegt heute noch dort.
Nachdem ich mir ein Sandwich reinquälte und eine halbe Flasche Wein, verschwand ich nach einer kalten Dusche ins Bett. Nein, der Alkohol reichte nicht, um meine Gedanken zu beruhigen. Ich schlief natürlich nicht sofort ein. Es muss irgendwann gegen zwei Uhr gewesen sein, als ich in einen unruhigen Schlaf sank, der um sechs von meinem Wecker beendet wurde. Die Nacht brachte keinerlei Veränderung mit sich. So stinkig, wie ich eingeschlafen bin, wachte ich auch auf. Und bin es immer noch.
»Und das ist Chase Romero. Der Sohn von Enzo, den du ja vorhin bereits kennengelernt hast.«
Das Versteckspiel ist also vorbei. Bis eben hatte ich angenommen, Peter geht mit dem Schönling einfach weiter. Aber nein, das wäre auch zu viel verlangt gewesen. All die Mühe der letzten Stunden, Peter aus dem Weg zu gehen, war somit für die Katz.
Ich atme einmal tief durch, richte mich langsam auf, lege in aller Seelenruhe die Rebschere zu Seite und ziehe meine Handschuhe aus, um dem blonden, geschniegelten Fatzke meine Hand zu reichen. Verdammt ja, das ist unfair von mir. Powell ist sicher kein schlechter Kerl. »Sie müssen Mr. Powell sein. Herzlich willkommen und danke, dass Sie Ihre Zeit opfern.
«
Powell erwidert meinen Handschlag, wirft Peter einen vielsagenden Blick zu und flüstert verschwörerisch in seine Richtung: »Ich sage nur rosa Elefant.«
Keine Ahnung, was er damit meint.
Meine Hand weiterhin in seiner, lächelt er mich aufrichtig an. »Nicht doch. Es ist mir ein Vergnügen.« Hat er mich gerade angezwinkert? Flirtet er etwa mit mir? Scheiße, er ist attraktiv und weiß es womöglich auch noch. Aber hey, nur weil Powell sich für die queere Community einsetzt, heißt das nicht, dass er auf Männer steht. Ich muss es mir also eingebildet haben.
Peter räuspert sich und zieht Powell zurück an seine Seite. »Komm mit, ich stell dich dem Rest der Bande vor, vielleicht kannst du den einen oder anderen im Zuge dessen nach Informationen ausquetschen.«
Ach, und ich wäre wohl keine zuverlässige Quelle?
»Geh du nur schon vor. Ich glaube, ich habe soeben den perfekten Interviewpartner gefunden.«
»Hast du nicht«, brummt Peter kaum hörbar.
Mein Blick huscht überrascht zu ihm und trifft auf seinen, der sich wie todbringende Laserstrahlen in mich hineinbohrt. Du liebe Güte, ich kann mich glücklich schätzen, nicht zu einem Häufchen Asche zu zerfallen. Was hat der Mann für ein Problem?
Ich wende mich an Powell und setze mein strahlendstes Lächeln auf. »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen eine kleine Privatführung gebe? Währenddessen können Sie mich alles fragen, was Sie wollen.« Klang das zweideutig genug? Ein kurzer Blick auf Peter. Jupp, Treffer, versenkt.
»Das klingt grandios. Lassen Sie uns gehen.«
Powell legt seinen Arm um meine Schultern und dirigiert mich um Peter herum, der die Augen zusammenkneift und dessen Wangenmuskeln verdächtig zucken. Ich muss mir ein hämisches Grinsen verkneifen. In einem Comicfilm würden ihm jetzt Rauchschwaden aus den Ohren kommen. Er kocht innerlich und steht eindeutig unter Druck.
Als Powell und ich außer Sichtweite sind, zumindest hoffe ich,
dass wir das sind, denn ich will mich ungern umdrehen, um das zu kontrollieren, löse ich mich aus seiner Umarmung und gehe auf Abstand.
»Ich denke, das hat gesessen«, kommentiert Powell meine Aktion.
Mist, das kam jetzt falsch rüber. »Entschuldigen Sie, es ist nicht …«
»Ach, dann wollten Sie Peter keinen Denkzettel verpassen? Muss ich wohl was missverstanden haben.«
»Ähm …«
Powell lacht. »Also doch. Ich wusste es. So wie mein alter Freund reagiert hat, muss ihm etwas an Ihnen liegen.«
Ich bin eindeutig im falschen Film gelandet.
»Ich wüsste nicht, was Sie das anginge«, erwidere ich schnippisch.
»Nicht? Hm, und ich dachte, wenn ich schon als Lustobjekt herhalte, hätte ich vielleicht eine Erklärung verdient.«
»Also Lustobjekt ist dann doch ein bisschen weit hergeholt, finden Sie nicht auch?«
Powell schürzt beleidigt die Lippen. »Och, das kränkt mich jetzt aber.«
Ob ich will oder nicht, ich muss einfach lachen. Er ist tatsächlich witzig und wie ich bereits befürchtet habe, ein netter Kerl.
Er grinst zufrieden und schlägt mir kumpelhaft auf die Schulter. »Na also.«
»Sorry. Ich weiß auch nicht, was da eben in mich gefahren ist.«
»Na ja, ich hätte da so eine Idee.«
Ein verzweifeltes Stöhnen meinerseits.
»Okay, okay, bin schon ruhig. Und übrigens, es muss Ihnen nicht leidtun. Es war mir ein Vergnügen. Ich habe Peter noch nie so erlebt. Eine echte Premiere. Ich schulde Ihnen was.«
»Damit scheinen Sie ja Erfahrung zu haben«, kontere ich.
Powell bleibt abrupt stehen und sieht mich verwundert an. »Wie meinen Sie …« Er unterbricht sich und winkt ab. »Ich denke, wir si
nd an einem Punkt gelangt, an dem wir diese Höflichkeiten vergessen können, oder?«
Ich zucke mit den Schultern. »Von mir aus.«
Er deutet auf sich. »William.«
Ich grinse. »Ich weiß.« Daraufhin verbeuge ich mich, als wären wir am königlichen Hof. »Chase.«
William klopft erneut auf meine Schulter. »Chase, du gefällst mir. Aber zurück zum Thema. Wie kommst du darauf, ich hätte Übung darin, jemandem etwas zu schulden?«
»Peter erwähnte so was.«
»Ach, hat er das, hm?«
»Vergiss es einfach«, wiegle ich ab. »Und sorry für die dämliche Aktion eben.«
»Alles gut. Und ich frage auch nicht mehr nach, was da zwischen euch los ist.«
»Bitte nicht.« Ich seufze es beinahe, was William erneut zum Lachen bringt.
»Wobei …«
»Wir sollten uns auf den Weg machen, da ich nicht allzu viel Zeit habe.«
»Schon verstanden. Keine weiteren Fragen, versprochen.«
Er horcht mich über Golden Dreams aus, will jedes Detail über Weinanbau, Herstellung und Vertrieb wissen. Die Zeit verrinnt, ohne dass mir auch nur im Ansatz langweilig wird oder Williams Gesellschaft unbehaglich ist. Er ist ein ernsthafter und interessierter Zuhörer. Er macht sich hin und wieder Notizen oder zückt seine Kamera, die er in einem kleinen Rucksack auf dem Rücken bei sich trägt, um Bilder zu schießen.
Nachdem er mich das dritte Mal gebeten hat zu posieren und ich mich erneut standhaft weigere, belässt er es endlich dabei und gibt sich mit den Motiven zufrieden, die ihm Pine Valley bietet.
William hält sich an sein Versprechen, mich nicht bezüglich Peter auszufragen, und wir kehren nach einer Stunde an den Ort zurück, von dem wir zuvor losmaschiert sind. Erstaunt stelle ich fest, dass
Peter meinen Platz eingenommen hat und ein ganzes Stück vorangekommen ist. Ebenso wie der Rest der zehnköpfigen Truppe.
»Ich finde allein nach Eagle Rock. So weit ist es ja nicht. Auf dem Weg dorthin mache ich bei den anderen halt und löchere sie mit Fragen. Anschließend werde ich noch die Ladys interviewen und mich auf den Heimweg machen.«
Ich wende mich William zu und nicke in Richtung Peter. »Willst du dich nicht verabschieden?«
Ein gutmütiges Grinsen, bevor er erneut die Lippen schürzt, als würde er überlegen. Dann schüttelt er den Kopf. »Richte ihm einen lieben Gruß von mir aus und sag ihm, ich melde mich in den nächsten Tagen. Und ich freue mich, dich kennengelernt zu haben. Vielleicht sieht man sich mal in San Francisco?«
»Das wird sicher nicht so schnell passieren. Aber sollte es mich dorthin verschlagen, können wir uns gern auf einen Kaffee treffen.«
»Klingt vielversprechend.« Er beugt sich vor und flüstert: »Und nur, um es mal erwähnt zu haben. Solltest du dich fragen, ob zwischen Peter und mir je was gelaufen ist … Nein, ist es nicht. Wir sind nur alte Freunde, im wahrsten Sinne des Wortes.«
Ich setze eine neutrale Miene auf, um so gleichgültig wie möglich zu wirken. »Okay. Geht mich ja auch nichts an.«
Ein schiefes Lächeln. Williams Blick gleitet zielstrebig über meine Schulter hinweg und ich bin mir absolut sicher, dass er den von Peter kreuzt. Eine seiner Augenbrauen wandert provokativ in die Höhe, ehe er sich noch näher zu mir beugt und leise sagt: »Weißt du, aufkeimende Liebe ist wie einer deiner geliebten Weinstöcke, Chase, anfangs nicht viel größer als ein Setzling und so leicht zu zerstören wie eine Seifenblase. In diesem frühen Stadium sieht man ihr nicht an, wie kraftvoll und langlebig sie sein könnte, wenn man ihr nur ein wenig Zuwendung und Geduld entgegenbringt. Und nicht zu vergessen Mut.«
Sprachlos starre ich William an.
Sein ernster Gesichtsausdruck weicht einem spitzbübischen und er zwinkert mich erneut an. »Kaum zu glauben, wie tiefsinnig ich
manchmal sein kann, hm?« Daraufhin drückt er mir sanft die Schulter, dreht sich um und stiefelt pfeifend von dannen.
»Wo will er denn hin?«, fragt Peter direkt neben mir und lässt mich um ein Haar aus der Haut fahren.
Ich wirbele zu ihm herum und kann nicht anders, als verzagt aufseufzen, da er mir viel zu nahe ist und mich sein sehnsuchtsvoller Blick mitten ins Herz trifft. Von seiner vormals abweisenden Art ist nichts übrig. Und mir scheint, seine Frage nach William ist lediglich ein Vorwand gewesen, mich anzusprechen, denn er schaut ihm überhaupt nicht hinterher. Er ist voll und ganz auf mich konzentriert und macht den Anschein, es könne ihn nichts und niemand von mir ablenken. Und verdammt, das fühlt sich viel zu gut an.
Räuspernd bringe ich ein wenig Abstand zwischen uns. »Er wollte noch mit Meddy und deiner Mutter reden, nachdem er ein paar der Helfer interviewt hat, und lässt dir ausrichten, er würde sich in den nächsten Tagen bei dir melden.«
Peter nickt, wirft jedoch zeitgleich einen vorsichtigen Blick in die Runde, als wolle er sich vergewissern, dass wir allein sind, ehe er die von mir geschaffene Distanz erneut überbrückt und flüstert: »Ich würde dich jetzt gern küssen.«
Mir fallen beinahe die Augen aus dem Kopf. Mein Gehirn rotiert und versucht zu analysieren, was hier passiert. Bevor ich allerdings zu irgendeiner Erwiderung ansetzen kann, fährt Peter kaum hörbar fort: »Ich weiß, das geht nicht. Und verdammt, du hast mit allem recht, was du gestern im Auto gesagt hast. Nur …«
Als würde ich nicht kurz davorstehen, ihn anzuspringen, um meinen Mund auf seinen zu pressen, unterbreche ich ihn leutselig: »Dad hat mich gebeten, einen Blick auf die Portweinfässer zu werfen.« Das ist natürlich totaler Blödsinn. Aber auch wenn sich niemand in Hörweite befindet und alle rings um uns herum mit der Lese beschäftigt sind, will ich kein Risiko eingehen. Wir müssen dem Chaos, das hier herrscht, nicht noch mehr Nahrung geben.
Peter runzelt für einen kurzen Moment verwirrt die Stirn, ehe
sich seine Augen verstehend weiten und er mir zunickt. Seine Erleichterung und ehrliche Freude ist nicht zu übersehen.
Ich deute auf den randvollen Kleinlaster, der hinter uns steht. »Der sollte geleert werden. Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst.«
»Das wäre nett, danke. Vielleicht erwische ich ja William noch.«
Ich weiß, er sagt das nur, um etwaige Zuhörer irgendeine Erklärung zu bieten. Aber schlussendlich ist das doch überhaupt nicht nötig. Er ist Peter Sullivan. Er kann hinfahren und sich aufhalten, wo und mit wem er will. Er ist niemand Rechenschaft schuldig. Plötzlich wird mir klar, dass wir durch unser seltsames Verhalten erst recht Aufmerksamkeit erregen. Ich schüttle entnervt den Kopf und trotte zum Laster.
»Warte!«, höre ich Peter rufen. »Ich muss noch die Geräte säubern und verstauen.«
Überrascht blicke ich zurück. Herrje, wie konnte ich das vergessen? In diesem Moment steckt Diego, Pams Sohn, seinen Kopf durch die Rebstockreihe links von uns. »Ich kümmere mich drum, wenn ihr wollt. Ich bin eh gerade mit meiner Reihe fertig geworden.« So viel dazu, dass uns niemand hört.
»Vielen Dank. Das ist wirklich nett«, höre ich Peter sagen.
»Klar, kein Problem.« Er wendet sich mir zu. »Wenn du meine Mutter siehst, sag ihr bitte, dass ich zum Kaffee nicht reinkomme.«
»Ich richte es aus. Und danke, dass du hier mit anpackst.«
Diego winkt ab. »Wir sitzen doch alle in einem Boot, oder?«
»Stimmt wohl. Also bis später dann.«
Peter und ich steigen ein und fahren zur Kelterei. Im Rückspiegel sehe ich, wie Diego auf den Feldweg hinaustritt, die Hände in die Hüften stützt und uns grinsend hinterherschaut.