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achdem Mom mich gestern Abend nach einer langen und überfälligen Unterhaltung verließ, folgte eine schlaflose Nacht. Ständig wirbelten mir tausend Dinge im Kopf herum. Die Situation um Golden Dreams, die Sache mit Banks und dem FBI, Meddy, Moms Vergangenheit mit Lance und vieles mehr. Obendrein verfluchte ich mich für meine grenzenlose Dummheit in Bezug auf Chase. Jede Faser meines Körpers sehnte sich nach ihm.
Meine Laune befand sich auf dem Nullpunkt, als William eintraf. Ich versuchte mich zusammenzureißen, was mir offensichtlich nicht gelang. Denn William spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Seiner Meinung nach hatte dieses Etwas jedoch nichts mit meiner Familie, dem Weingut oder der Tatsache zu tun, dass ich nicht in San Francisco bin. So waren zumindest seine Worte. Ich wiegelte die Einwände ab und legte ihm ans Herz, weniger zu kiffen, da er langsam anfangen würde weiße Mäuse zu sehen. Mein langjähriger Freund lachte nur hämisch und meinte darauf: »Weiße Mäuse? Du meinst wohl eher rosarote Elefanten. Und ich freue mich schon deinen kennenzulernen.«
Wie gesagt war ich mehr als mies gelaunt. Zu allem Überfluss dann auch noch mit ansehen zu müssen, wie William vor meinen Augen mit Chase flirtete, ihm den Arm umlegte und sie anschließend
einträchtig davonschlenderten, brachte mich an den Rand des Wahnsinns.
Eigentlich hatte ich geplant sofort zurück ins Haus zu gehen, da Mom mich kurz zuvor darum gebeten hatte, noch mal über die Gedenkfeier zu reden, die morgen stattfindet.
Aber ich konnte einfach nicht. Die ganze Zeit fauchte eine besitzergreifende Stimme in mir, dass ich das nicht zulassen darf, ich William und Chase folgen solle, um wer weiß was abzuwenden. Der vernunftbegabte Teil in mir riet, mich zusammenzureißen, schließlich kenne ich William lange genug, um zu wissen, er würde niemals etwas tun, das mir schaden könnte.
Also griff ich mir Chase’ Rebschere und Handschuhe und machte mich daran, seine Arbeit fortzusetzen. Diego zeigte mir, worauf ich achten sollte, und überließ mich meiner schlechten Laune.
Insgeheim hoffte ich, William und Chase würden hierher zurückkehren. Die Hoffnung schwand von Minute zu Minute. Als sie dann nach gut einer Stunde doch wieder auftauchten, wäre ich am liebsten sofort zu ihnen gegangen und hätte mir Chase geschnappt. Gott sei Dank hielt ich mich so lange zurück, bis William weg war. Sein eindringlicher und zugleich provokanter Blick, den er mir über Chase’ Schulter hinweg zuwarf, während er ihm etwas ins Ohr flüsterte, brachte mich erneut zum Zähneknirschen. Wie konnte er nur?
Ohne mein Zutun stehe ich plötzlich neben Chase und frage blöd, wohin William will. Als würde mich das interessieren. Nicht die Bohne. Ich wollte nur eins, Chase in die Arme nehmen und küssen. Und ich Idiot sage das auch noch laut.
Sein überraschtes Gesicht wirft mich fast aus der Bahn. Als er dann aber meint, er würde nach den Portweinfässern sehen müssen, brauche ich doch tatsächlich einen Moment, um seine Intention dahinter zu begreifen. Gott, ich könnte ihm auf der Stelle vor Freude um den Hals fallen.
»William ist ein feiner Kerl«, lässt Chase verlauten, als wir den Weinberg hinunterfahren.
»Ist er.«
Mehr sagen wir beide nicht, bis wir zur Kelterei einbiegen und Enzo wild mit den Händen gestikulierend herangeeilt kommt. »Peter, ihre Mutter sucht Sie. Ich glaube, es ist ziemlich dringend.«
Chase schaut mich besorgt an und ich krame sofort nach meinem Handy.
»Verdammt!«, brumme ich, da mir ein Anruf in Abwesenheit angezeigt wird.
»Scheiß Funklöcher!«, flucht Chase und bestätigt so meine Annahme, keinen Empfang gehabt zu haben. Ich hätte den Klingelton gehört, den ich Mom schon vor Jahren zugewiesen habe.
Enzo wuselt um den Laster herum und beginnt diesen abzuladen, während Chase mich außer Hörweite seines Vaters auf die Seite zieht. »Ich hoffe, es ist nicht wieder irgendwas Schlimmes.« Leise und zögerlich fügt er hinzu: »Meldest du dich?«
Ich werfe Enzo einen kurzen Blick zu. Er scheint zu beschäftigt, als dass er auf sein Umfeld achten würde. Ansonsten sehe ich niemand in der Halle. Sie sind offensichtlich anderweitig eingeteilt. Vielleicht an der Abfüllanlage, die in den hinteren Räumen zu finden ist. Ich beuge mich vor und drücke Chase einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.
Dennoch kann ich nicht einfach so gehen, ohne etwas zu sagen. Die ganze Fahrt über habe ich hin und her überlegt, wie ich am besten anfange. Aber außer »Ich will dich küssen« ist mir partout nichts Geistreiches eingefallen. Ich war so darauf fixiert, mit ihm im Weinkeller zu verschwinden, um ihn dort ungesehen in die Arme schließen zu können, mein Hirn brachte keinen vernünftigen Satz zustande. Also hoffte ich, wenn wir allein wären und ich meine Sehnsucht nach ihm fürs Erste gestillt hätte, würden sich schon die richtigen Worte ergeben. Aber Fehlanzeige. Es soll wohl nicht sein
.
Chase blickt mich immer noch an und wartet, dass ich etwas erwidere. »Ich melde mich.« Das war nicht, was ich sagen wollte.
Ein hoffnungsvolles Lächeln erhellt Chase’ Miene, ehe er nickt. »In Ordnung. Oh, und wegen gestern …«
Ich hebe meine Hand und lege sie ihm sanft auf den Mund. »Nicht. Lass uns später drüber reden, bitte.«
Seine braunen Augen blicken mich über meine Hand hinweg an und er nuschelt: »Nordnung.«
Mit einem amüsierten Lächeln gebe ich ihn widerwillig frei und verschwinde im Schnellschritt, bevor ich es mir doch noch anders überlege und etwas ganz Dummes tue. Zum Beispiel ihn an die Wand zu drücken und seinen Mund zu plündern.
Hinter mir höre ich ihn über den Lärm der Abbeermaschine hinweg seinem Vater zurufen: »Dad, wenn wir hier fertig sind, fahre ich gleich wieder hoch. Oder brauchst du mich hier noch?«
»In der Abfüllung gibt es Probleme, Chico.«
Auf dem Weg nach draußen seufze ich in mich hinein und denke: Reicht es nicht langsam mit den Hiobsbotschaften?
Schon von Weitem sehe ich vor dem Haus einen schwarzen SUV stehen. Im Vorbeilaufen bemerke ich einen Anzugträger auf dem Beifahrersitz. Bei genauerer Betrachtung kommt er mir bekannt vor. Als dieser meine Anwesenheit registriert und aufschaut, werde ich von oben herab gemustert und mir wird klar, wer das Arschloch ist. Dunbar.
Das FBI ist also hier? Deswegen wird Mom mich angerufen haben. Ohne Dunbar eines weiteren Blickes zu würdigen, sprinte ich die Stufen hinauf und ins Haus. Kaum dass ich drin bin, rufe ich: »Mom? Wo bist du?«
Die Wohnzimmertür fliegt auf und meine Mutter kommt völlig aufgelöst auf mich zugerannt. »Oh mein Gott, da bist du ja endlich.«
Während ich Mom tröstend in die Arme schließe, werfe ich
einen Blick ins Wohnzimmer. Agent Vega ist soeben im Begriff, von der Couch aufzustehen und Mom zu folgen.
»Was ist hier los?«, will ich wissen.
»Es ist schrecklich«, jammert meine Mutter. Indes gesellt sich Vega zu uns und Meddy folgt ihm mit hängendem Kopf. Scheiße!
Mein Freund fällt mir ein. »Wo ist William?« Stand sein Auto überhaupt noch vor der Tür?
Meddy deutet zur Küchentür. »Bei Pam.«
William ist nicht dumm und wird eins und eins zusammengezählt haben, sobald er das FBI hier vorgefunden hat. Somit weiß er, dass wir viel größere Probleme haben als hässliche Gerüchte, die unsere Arbeiter vergraulen. Verdammt! Ich kann nur auf seine Loyalität mir gegenüber hoffen. Denn eine fette Schlagzeile, die etwas anderes als die Hilfsaktion beinhalten würde, käme zu keinem schlechteren Zeitpunkt.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Vega und frage erneut: »Was ist los?«
»Lassen Sie uns doch ins Wohnzimmer gehen, Mr. Sullivan.« Er ist die Ruhe in Person.
Meddys zutiefst bestürzter Blick, der zu Mom huscht, bedeutet nichts Gutes. Sie sieht mich an und flüstert: »Ich bin bei Pam und Mr. Powell, falls ihr mich braucht.«
Verwirrt schaue ich ihr hinterher, wie sie in die Küche verschwindet, und konzentriere mich dann wieder auf Mom, die haltlos an meiner Brust schluchzt. Sanft streiche ich ihr über den Rücken, bevor ich sie zurück ins Wohnzimmer führe, wo Agent Vega bereits am Kamin auf uns wartet. »Mom, ganz ruhig. Komm, setz dich.«
Ich helfe ihr in den Sessel und baue mich direkt neben ihr auf. »Also, was ist passiert?«
»Wollen Sie es Ihrem Sohn erzählen?«, fragt er Mom behutsam, die sofort den Kopf schüttelt und einmal mehr schnieft. Sie ist im Moment gar nicht in der Lage, ein klares Wort herauszubringen.
»In Ordnung. Also, es sieht folgendermaßen aus. Wir konnten Banks gestern in Las Vegas aufspüren und haben ihn vorsorglich
zur Befragung in Gewahrsam genommen. So ärgerlich es auch für uns ist, mussten wir ihn wieder laufen lassen. Er hielt sich nachweislich die letzten vier Tage durchgehend im Casino vom Caesars Palace auf. Lückenlose Videoaufnahmen des Betreibers bestätigen sein Alibi. Daher fehlt uns jedweder Anhaltspunkt, Banks mit Mr. Sullivans Ableben in Verbindung bringen zu können. Was nicht heißt, wir würden ihn nicht weiterhin observieren, da immer noch der Verdacht auf Erpressung in mehreren Fällen im Raum steht. Zeitgleich zu Banks Vernehmung beendete der Coroner die Autopsie an ihrem Vater. Er fand keinerlei Indizien für äußerliche Fremdeinwirkung, die darauf schließen lassen, dass Mr. Sullivan eines unnatürlichen Todes gestorben wäre.«
Dann ist doch alles in Ordnung. Zumindest in dieser Hinsicht. Ich deute auf Mom. »Ich verstehe nicht.«
»Gedulden Sie sich bitte einen Augenblick. Das war leider noch nicht alles.«
Meine Mutter seufzt kellertief und schnäuzt sich die Nase. Ihr Blick ist so unglücklich, als hätte sie einen über alles geliebten Menschen verloren. Und ich meine nicht meinen Vater damit, denn nach seinem Tod weinte sie zwar auch, wirkte aber bei Weitem nicht so untröstlich wie jetzt. In seinem Fall lag es wohl eher am Überraschungsmoment und daran, dass ausgerechnet sie ihn gefunden hat.
Nachdem ich mich in den anderen Sessel setze, blicke ich zu Vega auf. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Reden Sie bitte weiter.«
Er lächelt verständnisvoll. »Kein Problem. So eine Situation ist für niemanden leicht zu verkraften. Wo war ich? Ach ja, die Obduktion ergab also keine Anhaltspunkte für einen tätlichen Angriff.« Er schaut meine Mutter an, die sich mittlerweile ein wenig beruhigt hat, und erkundigt sich: »Ma’am, geht es?«
»Sicher.«
Dann fährt Vega fort: »Leider ist der Fall damit nicht abgeschlossen. Wir haben etwas anderes herausgefunden und …«
»Was zum Henker kommt denn noch?«, platzt es mir unwirsch heraus
.
Vega überhört meinen ruppigen Einwurf und erklärt in ruhigem Tonfall: »Die Forensik konnte keinerlei fremdartige Substanzen im Blut Ihres Vaters nachweisen. Was an sich ein Ding der Unmöglichkeit ist, wenn man bedenkt, dass er ja seit Jahren regelmäßig Medikamente einnahm. Es liegt also somit eine bisher unerklärliche Diskrepanz diesbezüglich vor.«
»Eine Diskrepanz?«
»Tja, wie gesagt, im Fall ihres Vaters konnte nicht die erwartete Menge Wirkstoff nachgewiesen werden.« Er blickt zu Mom. »Wie uns Ihre Mutter jedoch vorgestern in unserem ersten Gespräch berichtet hat, nahm Mr. Sullivan jeden Morgen zum Frühstück seine Betablocker nach Vorschrift ein. Demnach auch am Tag seines Todes. Das passt aber nicht zu den vorliegenden Werten.«
»Und was bedeutet das jetzt?«
»Aufgrund des Laborbefunds wurden die von uns bereits beschlagnahmten Pharmazeutika untersucht. Wie sich herausstellte, nahm Ihr Vater seit unbestimmter Zeit anstelle des eigentlichen Medikaments Placebos ein.«
»Was?! Aber wer …?«
»Sie denken in die richtige Richtung. Irgendjemand muss die Tabletten Ihres Vaters ausgetauscht haben. Dieser Jemand hat ihn damit mutwillig einem ungleich höheren Risiko ausgesetzt, einen Herzinfarkt zu erleiden.«
»Mein Vater war sicher kein netter Mensch, aber warum sollte jemand auf so etwas kommen? Und vor allem wer? Ich kenne niemanden hier auf Eagle Rock, der dazu fähig wäre.«
»Da es sich um eine laufende Ermittlung handelt, kann ich Ihnen hierüber nicht viel mehr sagen.«
»Verdächtigen Sie etwa uns? Das ist lächerlich!«
»Mr. Sullivan, ich verstehe Ihren Unmut. Wir müssen allerdings jedem Hinweis nachgehen und das schließt Sie und Ihre Familie ein. So leid es mir tut.«
»Selbstverständlich«, lenke ich sofort ein. »Ich mache Ihnen doch gar keinen Vorwurf. Es ist nur so ungeheuerlich, wenn ich mir vorstelle, eine nahestehende Person hätte das getan.
«
»Mrs. Sullivan?«, wendet sich Vega an Mom. Ihr Blick wirkt so kalt und düster wie der Kamin, auf dem er ruht.
»Hm?«, brummt sie abwesend.
»Ist Ihnen vielleicht noch etwas Wichtiges eingefallen? Sonst wären wir hier für heute fertig.«
»Mir? Nein.« Ihr Gesicht ist ausdruckslos und ihre Stimme klingt hohl. Bis eben war sie untröstlich, nun scheint sie mit ihren Gedanken auf einem anderen Planeten zu weilen.
»In Ordnung. Sobald sich irgendwelche neuen Erkenntnisse ergeben, melde ich mich persönlich bei Ihnen. Entschuldigen Sie, wenn ich das jetzt erneut erwähne, aber ich muss Sie darüber belehren, dass Sie sich bitte auch weiterhin zu unserer Verfügung bereithalten müssen. Sollten Sie irgendwohin reisen, geben Sie uns Bescheid, wie wir sie erreichen können. Mr. Sullivan?«, wendet er sich direkt an mich. »Gibt es von Ihrer Seite noch etwas, das Sie dazu sagen können? Und wann hatten Sie geplant abzureisen?«
»Nicht vor zwei Wochen. Andernfalls bin ich, wie Sie sicher wissen, in San Francisco zu finden. Entweder bei mir zu Haus oder in meiner Praxis.«
»Richtig, die Adressen sind uns bekannt.«
»Beizutragen hätte ich nichts mehr. Aber darf ich Sie was fragen?«
»Gern.«
»Sie haben mich jetzt gar nicht vernommen, warum?«
»Das ist nicht nötig. Da Sie seit vielen Jahren nicht auf Eagle Rock waren, sind Sie so weit entlastet. Alles andere hatten Sie ja bereits in unserem letzten Gespräch beantwortet.«
Hatte ich und er hat recht. Ich hätte gar nicht die Möglichkeit gehabt, meinem Vater andere Tabletten unterzujubeln.
»Wen werden Sie als Nächstes befragen?«, erkundigt sich Mom leise.
»Ma’am, wie ich eben Ihrem Sohn bereits erklärte, sind das Informationen, die eine laufende Ermittlung betreffen.«
»Schon klar.« Mom nickt und starrt anschließend wieder in den
Kamin. Irgendwas schwirrt ihr im Kopf herum. Und ich will wissen, was das ist.
»Kommen Sie, ich begleite Sie nach draußen«, biete ich Vega an.
Er verabschiedet sich von meiner Mutter und folgt mir hinaus zur Tür, wo er sich dann in aller Höflichkeit für die entstandenen Umstände entschuldigt und geht.
Als ich die Tür hinter Vega geschlossen habe, lehne ich mich von innen dagegen und atme einmal tief durch. Was für ein Chaos. Mein Blick gleitet durch das Haus und ich würde am liebsten sofort meine Sachen packen und verschwinden. Aber da ist Mom, die im Wohnzimmer sitzt und eigenartig wirkt. Dann ist da Meddy, die ihren Bruder jetzt mehr braucht als je zuvor. Golden Dreams steckt bis zum Hals in der Scheiße. Ob ich da etwas tun kann, steht in den Sternen. Ach ja, und dann ist da noch ein Chefredakteur, der sicher nur darauf wartet, dass ich ihm erzähle, was hier wirklich los ist.
Himmel, Arsch und Zwirn, ich will zu Chase! Sofort!
Erneut lasse ich meinen Blick umherschweifen und überlege, wo ich zuerst anfange.
Aber bevor ich eine halbwegs vernünftige Entscheidung treffen kann, muss ich zumindest Chase’ Stimme hören. Also hole ich mein Handy aus der Tasche und hoffe, dass er nicht wie ich vorhin in einem Funkloch steckt.