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enn mir vor vier Tagen jemand erzählt hätte, ich würde mit meiner Mutter, Meddy und Chase auf dem Weg nach San Francisco sein, um dort Dr. Lance Brown einen Besuch abzustatten, der sich seit über zwölf Stunden im Gewahrsam des FBI befindet, ich hätte es niemals geglaubt, sondern lauthals gelacht. Aber so ist es nun mal und uns ist bei Gott nicht zum Lachen zumute.
Vor knapp vierzig Minuten saß ich mit Chase nach einem aufwühlenden Gespräch einträchtig unter den Palmen, als Mom wild gestikulierend mit dem Telefon in der Hand zu uns gerannt kam. Wir wussten erst gar nicht, worum es ging, bis der Name Lance fiel und Mom die Mithörfunktion aktivierte. Chase und ich schauten uns nur an und seufzten kellertief. Denn wir ahnten beide, was folgen würde.
Lance klang zutiefst bekümmert, als er Mom erklärte, er könne nicht kommen, da er einen unerwarteten Termin wahrnehmen müsse. Das schien nicht das erste Mal zu sein, dass er ihr das im Verlauf des Gespräches sagte, denn sie wiegelte unwirsch ab und glaubte ihm kein einziges Wort. Hätte ich ebenso nicht. Also bohrte
sie so lange nach, bis er halbwegs mit der Sprache rausrückte und er uns die schockierende, wenn auch erwartete Nachricht seiner Festnahme verkündete.
Mom war natürlich außer sich vor Empörung und bot ihm unsere sofortige Hilfe an, wie immer diese aussehen möge. Das wehrte Lance ab und erklärte, er wollte nur sicherstellen, dass sie sich keine Sorgen um ihn machte. Damit erreichte er jedoch das Gegenteil. Sie ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern forderte, er solle ihr endlich sagen, wo genau er stecken würde. Er knickte ein und erläuterte, er wäre in San Francisco beim FBI. Agent Vega hätte allerdings eine Ausnahme für ihn erwirkt, sodass er anrufen konnte. Mehr bekam Mom nicht aus ihm raus. Lance verabschiedete sich mit einem leisen »Bis irgendwann, meiner Liebe« und legte auf.
Die Trauerfeier fand ein jähes Ende. Aber wie Chase bereits feststelle, war eh so gut wie niemand gekommen. Die wenigen Leute, die da waren, hatten unglaubliches Verständnis, als wir ihnen erklärten, wir müssten aus einem extrem dringenden familiären Grund nach San Francisco. Einige stutzten, denn schließlich weilten alle Familienmitglieder auf Eagle Rock. Chase’ Eltern erkundigten sich, ob sie irgendwie behilflich sein könnten. Mom bedankte sich bei ihnen, übergab das Ruder aber an Pam, die sich um die verbliebenen Gäste kümmern sollte.
Innerhalb einer Viertelstunde saßen wir in meinem Auto und rasten in Richtung St. Helena, während bleierne Stille das Innere meines Wagens mit Angst und Verzweiflung füllte.
Wir sind bereits in Imola, am südlichen Ende von Napa Valley, als mir das Schweigen dermaßen auf die Nieren schlägt, dass ich das Erstbeste frage, das mir einfällt: »Wäre es nicht sinnvoller gewesen, wir hätten Meddy zu Haus gelassen?«
Wer denkt, Stille ist gleich Stille, der hat keine Ahnung, um wie viel ruhiger es noch werden kann, wenn man etwas sagt, das
offensichtlich das Falsche ist. Und dabei wollte ich nur unverfängliche Konversation betreiben.
Ich spüre Chase’ fassungslosen Blick auf mir liegen und höre, wie Mom und Meddy hinter mir entsetzt aufkeuchen.
Ich schaue sie über den Rückspiegel an. »Was?«
Mom atmet einmal tief durch, legt mir dann die Hand auf die Schulter und erklärt: »Lance ist seit vielen Jahren ein Freund der Familie.«
Ich kann mir meinen ironischen Blick nicht verkneifen, den ich ihr abermals über den Spiegel zukommen lasse. »Er war wohl immer mehr als das, Mom. Aber trotzdem wundert es mich.«
Jetzt ist es Meddy, die sich zwischen Chase und mir vorbeugt und leise verkündet: »Lance war mir mitunter mehr ein Vater als mein eigener.«
Sie lehnt sich zurück und mein Blick fällt auf Chase. Tja, wenn das keinen Grund zu weiteren Spekulationen bietet, dann weiß ich auch nicht. Sie hatte Derartiges in unserem vorherigen Gespräch angedeutet. Es aus ihrem Munde bestätigt zu bekommen … Wie ich bereits feststellte, habe ich keine Ahnung, wenn es um Meddy und Mom geht. Eine Sache, die ich dringend ändern muss.
»Mir ist klar, dass ich meinen Anspruch darauf verwirkt habe, mehr von euch zu erfahren, schließlich bin ich kein guter Bruder und sicherlich kein guter Sohn gewesen. Aber gibt es irgendwas, das ich noch wissen sollte, bevor wir ankommen? Ich will wirklich nicht in irgendein Fettnäpfchen treten und Lance womöglich damit schaden.«
»Da gibt es nicht viel mehr als das, was du nun weißt. Lance durchlebte schwierige Zeiten und traf dennoch die Entscheidung, für uns da zu sein. Was der Grund ist, warum wir zu ihm fahren. Das ist doch alles sicher nur ein riesiges Missverständnis, das sich bald aufklären wird. Ach, und du warst nie ein schlechter Sohn. Hör auf, so was auch nur denken.«
Erneut wechseln Chase und ich vielsagende Blicke. Wenn das FBI ihn festgenommen hat, liegen unter Garantie hinreichende Beweise vor, die ihn belasten und womöglich als Täter überführen.
Dass dem so ist, wage ich kaum infrage zu stellen. Allerdings bleibt immer noch die Sache des Motivs. Und zu allem Überfluss ist nicht klar, ob wir überhaupt mit Lance reden können. Was ich ernsthaft bezweifle. Aber Mom und Meddy waren nicht davon abzubringen, sofort nach San Francisco aufzubrechen, und das, ohne vorher mit Agent Vega zu sprechen.
»Ich bin weiterhin der Meinung, wir sollten Vega anrufen«, murmle ich bewusst leise, da ich mir nicht wieder den Unmut aller Anwesenden zuziehen will.
»Vielleicht hast du recht«, lenkt Mom unerwartet ein und ich atme das erste Mal durch, seit wir uns auf den Weg gemacht haben.
In der nächsten Sekunde hält sie ihr Handy ans Ohr und scheint darauf zu warten, dass Vega ihren Anruf entgegennimmt. Offensichtlich hat sie Glück.
»Hallo, Agent Vega. Hier ist Maggy Sullivan. Wir sind auf dem Weg, um … Ja, richtig. – Was soll das heißen? – Nach Folsom? Oh mein Gott. Aber …« Schlagartig verstummt sie und lauscht dem Mann am anderen Ende der Leitung. Hin und wieder hören wir ein kurzes, unzufriedenes Murren, ein unwilliges Bejahen, ehe sie erleichtert aufseufzt, sich euphorisch bei Vega bedankt und sich für den späten Nachmittag mit ihm verabredet. Nachdem sie das Telefon in ihre Tasche zurücksteckt, herrscht angespannte Neugier, die so undurchdringlich ist, dass man sie in Würfel zerschneiden müsste, um sie aus dem Wageninneren zu entfernen. Dennoch bekommen wir keine Auskunft. Mom sitzt einfach nur auf der Rückbank und starrt aus dem Fenster.
»Mom!« Meddy ergreift vor mir das Wort. »Was hat Vega gesagt? Erzähl!«
»Er empfängt uns ausnahmsweise in seinem Büro.«
Abermals eine Ausnahme? Das ist jetzt schon die zweite. Ich kenne keine Agenten, außer die Fernseh-Version natürlich. Dennoch denke ich, dieser Vega ist eine … Ausnahme. Er machte bereits bei seinen Besuchen auf Eagle Rock den Anschein, etwas Besonderes zu sein. Oder erliege ich da einem typischen Vorurteil? Schließlich sind auch Special Agents Menschen aus Fleisch und Blut
.
»Und was ist mit Lance? Du erwähntest Folsom«, höre ich Meddy fragen.
»Er wartet darauf, vor den Haftrichter zu treten. Der dann über eine eventuelle Kaution entscheidet. Wird diese abgelehnt, bringen sie ihn nach Folsom.«
Das Staatsgefängnis liegt nicht in San Francisco, sondern ungefähr dreißig Kilometer außerhalb von Sacramento. Was bedeutet, es ist durchaus möglich, dass Mom Lance heute nicht mehr zu Gesicht bekommt.
»Hat Lance einen Rechtsbeistand?«, erkundige ich mich.
»Ja, sie haben ihm einen Pflichtverteidiger gestellt. Alles andere erfahren wir nachher.«
»Er hat dir nicht erzählt, was sie ihm vorwerfen, oder?«
Mom schnaubt. »Das liegt wohl auf der Hand, Schatz. Aber bevor du fragst, Vega hat nichts weiter gesagt, außer dass er uns später über alles informiert. Bis dahin sollte Lance dem Haftrichter vorgeführt worden sein. Der Termin ist in einer Stunde. Verdammt, ich hoffe nur, wenn sie eine Kaution ansetzen, dass diese nicht zu hoch ist.«
Ich bin mit diesem Thema nicht vertraut. Hat mich bisher nie interessiert. Aus den Medien weiß ich allerdings, dass die Summe horrend sein kann. Und dass bei Tötungsdelikten ziemlich häufig die sofortige Inhaftierung bis zur Hauptverhandlung angewiesen wird, da das Fluchtrisiko immens ist. Ich kann mir Lance einfach nicht in einem Knast vorstellen. Der Mann ist so ein liebenswerter Kerl, er würde dort in kürzester Zeit zugrunde gehen. Aber wenn er tatsächlich der Täter ist … Himmel, ich möchte mir gar nicht ausmalen, was mit Mom wird. Außerdem ist mir schleierhaft, wie sie die Kaution auftreiben will. Meine Gedanken behalte ich natürlich für mich. Ich mag ihr nicht den Mut nehmen. Sie wirkt so kämpferisch. So habe ich sie bisher nur erlebt, wenn es um uns Kinder ging.
Es ist gegen fünf Uhr nachmittags, als wir beim FBI eintreffen. Chase ist sein Unbehagen anzusehen und er hat mehr als einmal zu
verstehen gegeben, dass er sich, derweil wir mit Vega sprechen, irgendwo die Zeit vertreibt.
Davon abgesehen, dass ich ihn gern an meiner Seite habe, da mir Übles schwant, lässt Mom sich gar nicht auf eine Diskussion ein, sondern sagt rundheraus: »Du hast uns all die Jahre die Treue gehalten und wenn es nach mir geht, gehörst du zur Familie. Das wollte ich dir schon immer sagen. Es ist natürlich deine Entscheidung, ob du mitkommen möchtest oder nicht. Ich wäre froh, wenn du es tätest.« Sie blickt erst mich an, anschließend wieder Chase. »Da ich davon ausgehe, dass meine Kinder mich begleiten werden …« Sie zuckt mit den Schultern. »Wenn nicht für mich, dann vielleicht für meinen Sohn, der im Moment so aussieht, wie ich mich fühle.« Sie zwinkert uns beiden zu und hakt sich bei Meddy unter, um die Stufen zum Hauptgebäude des FBI hinaufzusteigen.
Ich kann nur hinterherblicken und erstaunt den Kopf schütteln.
»Geht’s dir gut?«, fragt mich Chase, der ebenso wie ich den zwei Damen hinterhersieht.
»Ich könnte mir sicher Besseres als das vorstellen. Dennoch bin ich froh, hier zu sein.«
Ich spüre Chase’ Hand in meinem Rücken. »Dann lass uns gehen.«
Erleichtert blicke ich ihn an. »Du willst das mit uns durchziehen?«
»Ich habe zwar keinen Blassen, was da auf uns zukommt, aber ja, ich bin hier.«
Mir rast das Herz im Leib vor Aufregung, aus vielerlei Gründen. Da sind Mom und Meddy. Was wird aus ihnen, sollte Golden Dreams nicht gerettet werden können? Wie werden sie all das verkraften? Dann die Ungewissheit, was mit Lance ist, und ein weiterer, nicht zu unterschätzender Punkt ist der Mann an meiner Seite. Chase. Mein Gott, womit habe ich ihn nur verdient?
»Schau mich nicht so an«, wispert Chase und mir wird klar, dass wir uns immer noch nicht vom Fleck bewegt haben.
»Sorry, ich kann nicht anders.
«
Er lächelt. »Ich weiß, was du meinst. Jetzt komm, sonst wissen wir nicht, wohin die Ladys verschwinden.«
Ich drücke sanft seine Hand und flüstere: »Egal, wie das hier ausgeht – Danke. Ich werde es wiedergutmachen, versprochen.«
Ein verschmitztes Grinsen erhellt Chase’ Gesicht. »Ich hab da so eine vage Ahnung.«
Die Situation ist mehr als surreal und dennoch schafft es dieser wundervolle, uneigennützige Mann, mich zum Lachen zu bringen, sodass ich leichtfüßig die Stufen hinaufeile, um Mom und Meddy nicht aus den Augen zu verlieren.