3. Kapitel – Corey
... die Verlobung meines Sohnes Tanner mit Victor MacBarnaby ...
Victor MacBarnaby.
Victor MacBarnaby.
Wie Hammerschläge hallten die Worte in Coreys Kopf, brachten ihn zum Dröhnen. Blindlings rannte er durch das Haus, riss eine Tür auf. Weg, nur weg!
Kälte schlug ihm ins Gesicht, biss ihm eisig in die Wangen. Er rannte weiter. Durch das Rauschen in seinen Ohren drang das Knirschen von Schnee. Er rutschte aus, fing sich und rannte. Weg hier.
Er hörte seinen keuchenden Atem, das Hämmern seines Herzens. Und er sah das strahlende Gesicht des Omegas vor sich. Victor MacBarnaby.
Tanners Verlobter.
Alles daran war falsch, so falsch!
Aufschluchzend stolperte Corey weiter. Die Tränen gefroren auf seinen Wangen, doch sein Körper war so taub, dass er die Kälte nicht spürte. Vor ihm tauchte ein kantiges Gebäude in der Dunkelheit auf. Durch die wild in seinem Hirn rotierenden Gedanken erinnerte er sich daran, dass es sich dabei um die Talstation der Seilbahn handeln musste. Ein winziger, vernünftiger Teil von ihm sah ein, dass er nicht weiter durch den Schnee rennen konnte. Er hatte nicht mal eine Jacke an. Nur seine Kellneruniform und Schuhe, die ganz sicher nicht für Schneewanderungen geeignet waren. Zurück ins Chalet konnte er aber auch nicht. Dort waren Tanner und sein ... Verlobter. Corey hätte ihren Anblick keine Sekunde ertragen können. Lieber erfror er.
Er stapfte auf die Liftstation zu und fand die Tür des Kontrollraums angelehnt vor. Ohne weiter darüber nachzudenken wankte er hinein. Als hätte sein Körper nur darauf gewartet, dass er halbwegs Schutz fand, gaben seine Beine unter ihm nach. Er sank zu Boden und krümmte sich, würgte, stemmte die Hände auf den Boden und kniff die Augen zu. Unter seinen geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor.
... die Verlobung meines Sohnes mit Victor MacBarnaby ...
Höhnisch klang die Stimme von Herrn von Straatenfeld an sein Ohr, als stünde er direkt neben ihm. Er sah die weißen, ebenmäßigen Zähne von Victor MacBarnaby aufblitzen wie ein Raubtiergebiss.
Hatte Tanner das gewusst? Er musste es gewusst haben. Seit wann? War es also das, was er Corey hatte sagen wollen? Wie hatte Corey ihn nur so missverstehen können. Wie dumm er gewesen war.
Zitternd rollte sich Corey zusammen. Er wollte sich nie mehr bewegen. Er wollte gar nichts mehr, nur noch, dass der Schmerz aufhörte.
»Corey!«
Wie aus weiter Ferne hörte er jemanden seinen Namen rufen und zog die Knie enger an seine Brust, kniff die Augen noch fester zu.
»Corey! Verdammt ...«
Das war Tanners Stimme. Ganz nah. Hände umfassten Coreys Schultern, zogen ihn ins Sitzen. »Du bist ja eiskalt. Warte ...« Warm legte sich etwas um Corey und er öffnete nun doch die Augen. In der Notbeleuchtung des Kontrollraums schimmerte Tanners Gesicht rötlich. Er zog die Brauen zusammen. Seine vollen Lippen verzerrten sich. »Corey, es tut mir so leid. So leid.«
»Du wusstest es«, fuhr Corey ihn an. Jedenfalls wollte er das, brachte aber nur ein jämmerliches Krächzen heraus.
»Ja, ich wollte es dir sagen, aber ... hör mal, es wird sich nichts ändern zwischen uns. Wir können weiter zusammen sein. Diese Sache mit MacBarnaby hat rein geschäftliche Gründe. Und familiäre.«
Familiäre? Corey brauchte etwas, um den Sinn hinter Tanners Worten zu begreifen. Und auch, als er glaubte, zu verstehen, weigerte er sich, es zu glauben. »Wie meinst du das?«
»Naja, du weißt schon.« Tanner verzog das Gesicht, als litte er Schmerzen. »Stammhalter und so. Mein Vater hat einen fruchtbaren Omega für mich ausgesucht, mit dem ich einen Erben zeugen soll. Es ist ein Geschäft, nichts weiter.«
»Fruchtbar?«, flüsterte Corey. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
»Ja, mein Vater hat darauf bestanden, dass er getestet wird und er hat seit mehreren Jahren stabile Hitzephasen. Mit etwas Glück wird er schnell schwanger und dann muss ich gar nicht mehr so oft ...«
»Hör auf!« Jetzt konnte Corey brüllen. Seine Stimme brachte sogar das Glas der Kontrollkabine zum Scheppern. Mit einem Anflug von Genugtuung sah er, dass Tanner zusammenzuckte. »Du wirst ihn heiraten! Mit ihm zusammenleben! Mit ihm Kinder haben! Und du redest, als wäre das nichts weiter als eine Pflichtveranstaltung!«
»Ja, aber, das ist es doch auch.« Tanner fuhr sich durch das Haar. »Es bedeutet mir nichts. Das ist alles nur pro forma.«
Coreys Augen brannten. »Dir bedeutet das vielleicht nichts«, flüsterte er erstickt. Ihm bedeutete es die ganze Welt. Die jetzt zusammengebrochen war. Er
hätte das sein sollen. Er
hätte vorhin an Tanners Seite stehen und strahlen sollen, nachdem ihre Verlobung verkündet worden war. Das war alles, was er sich je gewünscht hatte und erst in diesem Moment wurde ihm klar, wie lange er sich etwas vorgemacht hatte. Als ob
ein Niemand wie er, ein verwaister Omega aus ärmlichen Verhältnissen, sich anmaßen dürfte, auch nur an einen Mann wie Tanner zu denken. Das wäre doch wie im Märchen vom Prinz und Aschenbrödel gewesen. Nur, dass sie nicht in einem Märchen lebten, sondern in der Realität, in der Omegas vor einer Ehe auf ihre Fruchtbarkeit getestet wurden.
»Zwischen uns bleibt alles, wie es ist«, wiederholte Tanner.
»Wie es ist«, echote Corey. Meinte Tanner das ernst? In seinen Augen stand ein Ausdruck von Reue, aber vor allem las Corey Unverständnis in seiner Miene. Er wusste es nicht. Ahnte nicht, dass sich Corey Hoffnungen gemacht hatte, mehr für ihn zu sein, als ein heimliches Techtelmechtel.
»Wir treffen uns also weiterhin ab und zu, wenn es dir gerade in den Kram passt, für einen schnellen, bedeutungslosen Fick«, brach es aus Corey hervor.
Tanner starrte ihn an. »Wie redest du denn?«
»Wie ich rede? Ich sage, wie es ist. Die Wahrheit, die ich viel zu lange nicht gesehen habe. Nicht sehen wollte.« Ein bitterer Geschmack breitete sich in Coreys Mund aus. »Du hast nur mit mir gespielt. Mich ausgenutzt.«
»Nein!« Tanner streckte die Hand aus, als wollte er ihn berühren, doch irgendetwas in Coreys Gesicht ließ ihn zögern. »Corey. Bitte. Sei doch nicht so. Du weißt, wie sehr ich dich mag.«
»Du meinst wohl, wie praktisch es für dich ist, bei Bedarf jemanden zu haben, der dir einen bläst und den du ficken kannst!« Corey genoss es, Tanner bei seinen derben Worten zusammenzucken zu sehen. Das kannte Tanner nicht von ihm. Er kannte es ja selbst nicht von sich. Das war nicht er. So redete er nicht. So dachte er nicht mal. Und doch brachen die bitteren Worte nun unaufhaltsam aus ihm heraus.
»So ist das doch gar nicht«, stotterte Tanner und diesmal zeigten seine feingeschnittenen Gesichtszüge eindeutig
Verlegenheit und Schuld. Der Anblick versetzte Corey einen Stich, zeigte er ihm doch, wie richtig er lag. Ein Teil von ihm wollte es immer noch nicht glauben, wünschte sich so sehnlichst, dass dies alles nur ein Albtraum war, aus dem er bald aufwachen würde. Oder ein riesengroßes Missverständnis, das Tanner aufklären könnte.
»Wir können ...«, fing Tanner an und erstarrte. Lauschend legte er den Kopf schief und selbst jetzt konnte Corey sich nicht davor verschließen, wie schön er war. »Mist«, murmelte Tanner und stand auf.
Nun hörte auch Corey, dass jemand seinen Namen rief. »Tanner! Tanner, wo bist du?«
Tanner warf einen Blick aus dem großen Fenster des Kontrollraums und wandte sich zu Corey um. »Los, versteck dich!«, zischte er.
Corey sah ihn ungläubig an. Er war zu verblüfft, um sich zu wehren, als Tanner ihn am Arm packte und hochzog. Hektisch sah Tanner sich um und schubste Corey vor sich her aus dem Kontrollraum und weiter auf die Liftkabine zu, deren Umriss sich dunkel vor dem helleren Winterhimmel abhob. »Rein da!«
Ehe Corey sich versah, zog Tanner die Tür der Kabine auf und schob ihn hinein. »Ich wimmele ihn ab und danach reden wir weiter«, flüsterte Tanner ihm zu. »Keinen Laut!« Nach kurzem Zögern fügte er noch ein flehentliches »Bitte!« hinzu.
Er lief zurück zum Kontrollraum. Durch die verkratzte Scheibe der Kabine sah Corey, wie er sich übertrieben lässig dagegen lehnte und musste beinahe lachen. Ja, das hier war lächerlich und entwürdigend und er würde auf keinen Fall ...
Eine trotz der dicken Daunenjacke zierlich wirkende Gestalt stapfte durch den Schnee auf Tanner zu. Die Person trat in das Licht der Notbeleuchtung und Corey knirschte mit den Zähnen. Victor MacBarnaby. Und er lächelte, so süß und unschuldig,
dass sich Corey der Magen umdrehte. »Hey! Was machst du hier?«
»Och, musste mal frische Luft schnappen«, behauptete Tanner.
Lügner. Elender Lügner. Er besaß ja Übung darin, anderen etwas vorzumachen.
Victor schaute sich um. Warum musste er auch noch so hübsch sein? Reichte es nicht, dass er reich und unglaublich fruchtbar war? Sein liebes, zartes Gesicht war von der Kälte sanft gerötet. »Schön hier! Können wir morgen mit dem Lift auf den Berg fahren?«
»Äh, nein. Der Lift ist außer Betrieb. Nächstes Jahr erst wieder. Komm, lass uns zurückgehen. Ist kalt.«
Victor schenkte Tanner ein neckendes Lächeln. »Von mir aus können wir gerne noch ... frische Luft schnappen.«
Er trat nah an Tanner heran und hob ihm erwartungsvoll das Gesicht entgegen. Corey hielt den Atem an. Sie würden doch nicht ... bitte nicht ...
Doch.
Tanner neigte den Kopf und küsste Victor MacBarnaby. Die beiden schmolzen geradezu ineinander und küssten sich auf eine Art, die mehr als deutlich zeigte, dass sie das nicht das erste Mal machten.
Nur ein Geschäft.
Noch eine Lüge.
Endlich wich die Taubheit aus Coreys Körper und machte Platz für einen wilden Schmerz, der ihn nach Luft schnappen ließ. Alles in ihm wollte schreien, seine Wut und Qual herausbrüllen, doch er stand nur reglos da und sah zu, wie Tanner, sein Tanner, der Mann, den er liebte, einen anderen küsste, als gäbe es kein Morgen.
Der Anblick zog ihm den Boden unter den Füßen weg, ließ die Welt so heftig schwanken, dass er das Gleichgewicht verlor und
stürzte. Er landete auf etwas Weichem und als er das Rattern und Quietschen hörte, begriff er, dass er nicht vor Schreck umgefallen war. Der Boden unter ihm bewegte sich wirklich. Die Liftkabine fuhr los, schwankend und ruckelnd, aber sie fuhr. Hatte Tanner nicht vorhin gesagt, der Lift wäre außer Betrieb? So fühlte sich das aber nicht an.
Hatte Corey versehentlich einen Mechanismus ausgelöst? Eine Bremse deaktiviert? Er rappelte sich auf und griff blindlings nach Halt, als die Kabine schaukelnd Fahrt aufnahm. Den Plan, noch schnell herauszuspringen, gab er auf, sobald er einen Blick durch das Fenster warf. Erschreckend weit unter ihm leuchtete die Bodenstation wie ein von einem Teelicht beleuchtetes Weihnachtshäuschen im Schnee. Er sah zwei dunkle Gestalten, die davor standen. Tanner und Victor. Hatten sie die Kabine in Bewegung gesetzt? Nein, die waren viel zu sehr in ihren Kuss vertieft gewesen.
Hektisch schaute Corey sich um. Gab es hier eine Notbremse? Doch was würde geschehen, wenn er sie jetzt zog? Musste er dann Weihnachten auf halber Strecke zwischen Talstation und Bergstation verbringen, in einer eisig kalten Liftkabine, die bei jedem Windstoß erbärmlich schaukelte?
Er kämpfte gegen aufsteigende Panik an. Die Kabine ruckelte und beinahe wäre er erneut gestürzt. Durch den Spalt in der Schiebetür heulte der Wind. Mit klammen Fingern versuchte Corey, die Tür zuzudrücken. Das gelang ihm auch und nun hörte er zumindest das Quietschen und Surren, das der Liftmechanismus von sich gab, nicht mehr so laut. Er tastete sich zu der Bank, die an den Wänden befestigt war, und stolperte über einen Gegenstand. Es war zu dunkel, um deutlich zu erkennen, was das sein könnte. Corey ertastete die kantigen Umrisse einer Kiste, daneben etwas, das sich wie eine Reisetasche anfühlte. Seltsam, warum stand so viel Kram in
der Kabine? Waren das Dinge, die für die Wartung des Lifts benötigt wurden? Hier stimmte doch was nicht.
Corey setzte sich auf den Boden und versuchte, ruhig zu atmen. Er konnte jetzt ohnehin nichts ausrichten, nur warten, bis die Kabine hoffentlich die Bergstation erreichte. Hoffentlich blieb sie nicht unterwegs hängen. Hoffentlich unternahm Tanner etwas. Er konnte doch sicher unten in der Kontrollzentrale die Kabine zurückholen. Oder jemanden auftreiben, der wusste, wie man den Lift bediente. Er würde Corey doch nicht einfach hier hängenlassen, im wahrsten Sinne des Wortes? Schließlich war das seine Schuld, er hatte Corey in die Kabine geschubst, nur damit sein Verlobter ihn nicht sah.
Sein Verlobter, den er vor Coreys Augen geküsst hatte.
War ihm nicht klar gewesen, dass Corey sie sehen konnte? Oder war ihm egal, wie sehr er Corey verletzte?
Eigentlich wollte Corey die Antwort gar nicht wissen. Er lehnte sich an die Kiste hinter ihm und starrte in die Dunkelheit, spürte das Ruckeln und Schaukeln der Liftkabine. Er war schon mehrmals mit dem Lift gefahren, das letzte Mal vor zwei Jahren, doch da waren Tanner und seine Geschwister bei ihm gewesen. Sie hatten gescherzt und gelacht, die Skier geschultert und voller Vorfreude auf die Abfahrt. Die Sonne hatte den Schnee zum Glitzern gebracht und Tanners Augen zum Funkeln und Corey war glücklich gewesen. Die Fahrt war ihm viel zu kurz vorgekommen. Warum dauerte sie jetzt so endlos lange?
Die Kabine bockte und ruckelte unter ihm und er schrie auf, glaubte schon das Knallen der reißenden Drahtseile zu hören, doch dann wurde ihm klar, dass er nur den letzten Mast vor der Station überwunden hatte. Für seinen Geschmack ein wenig zu rasant sauste die Kabine nun abwärts und kam endlich schaukelnd zur Ruhe. Coreys Knie fühlten sich an wie zu lange gekochte Spaghetti. Er krabbelte auf die Tür zu und
zog sie auf. Sofort peitschte ihm Schnee ins Gesicht wie tausend Nadeln. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, sich zu orientieren.
Es war heller, als er erwartet hatte. Statt der dämmrigen Notbeleuchtung im Tal erstrahlte die Bergstation in vollem Licht. Wie ein leuchtender Kubus ragte sie aus dem Schnee, ein Palast aus Glas und Beton. Vermutlich hätte Corey den Anblick mehr genießen können, wenn ihm nicht weiter Eisschnee ins Gesicht geprasselt wäre und ihm die Sicht genommen hätte. Der Wind riss derart heftig an ihm, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Mühsam hob er die Hand und wischte sich über die Augen. Eine dunkle, massige Gestalt bewegte sich durch das Schneegestöber auf ihn zu. Viel zu groß und breit für einen Menschen.
Das musste der Yeti sein.