8. Kapitel – Raul
Raul stand nach vorn gebeugt über dem Waschbecken und stützte sich mit den Händen links und rechts vom Spiegel an der Wand ab. Einatmen. Ausatmen. Immer weiter, bis der rote Nebel, der vor seinen Augen waberte, sich auflöste. Ein. Aus. Klang zwar eher wie wütendes Schnauben als Atmen, aber für den Anfang war das in Ordnung. Er brauchte nur ein paar Minuten. Ein. Aus.
Langsam hob er den Kopf. Der Blick in den Spiegel ernüchterte ihn mehr, als es jede Atemtechnik vermocht hätte. Rote Flecken zierten sein aufgedunsenes Gesicht. Die Haut zwischen den Bartstoppeln sah entzündet aus. Sein linkes Auge triefte und das Haar stand ihm wild vom Kopf ab. Er sah aus wie ein Höhlenmensch. Und er hatte sich auch so benommen. Sein Gesicht wurde noch röter, nun vor Scham. Wie hatte er Corey nur so anbrüllen und in Angst und Schrecken versetzen können? Der Ärmste hatte sich fast in die Hose gemacht. Dabei hatte er nichts getan, außer eine unbedachte Bemerkung über die von Straatenfelds fallen zu lassen. Sie zu verteidigen. Er konnte ja nicht wissen, dass er damit genau den wunden Punkt bei Raul traf, der ihn in ein tobendes Monster verwandelte. Und dann noch Heiligabend. Der schlimmste Tag des Jahres, an dem schon ein kleiner Funke reichte, um Raul in die Luft gehen zu lassen.
Er war schon immer ein Choleriker gewesen und wahrhaftig nicht stolz darauf. Mick hatte gewusst, wie er mit ihm umgehen musste. Hatte nie Angst vor ihm gehabt. Bei Rauls Wutanfällen hatte er nur die Brauen hochgezogen und ihn toben lassen, bis er sich nach einer Weile von selbst beruhigte. Mick hatte immer gewusst, dass Raul ihm nie etwas antun würde. Und nachdem
Chester in ihr Leben gekommen war, hatte Raul zur Ruhe gefunden. Allein der Gedanke, seinen kleinen, lieben Sohn zu ängstigen, hatte gereicht, um jegliche aufflammende Wut zu ersticken. Er hatte wirklich geglaubt, es im Griff zu haben.
Doch seit Mick und Chester fort waren, ging es bergab mit ihm. Er war schon zwei Mal wegen Vandalismus im Knast gelandet. Und noch öfter hatte er Geldstrafen zahlen müssen. Vor fünf Jahren war er an Heiligabend mit einem Baseballschläger bewaffnet sturzbetrunken zum Chalet gefahren und hatte drei der schicken Autos demoliert, bevor sie ihn aufhalten konnten. Die Schulden zahlte er jetzt noch ab. Die Befriedigung, die er nach der Tat verspürt hatte, war allzu schnell in Scham umgeschlagen. Er wollte nicht so sein. Wenn er sich wie ein Berserker aufführte, machte er nichts ungeschehen und er wusste, dass Mick das gar nicht gefiel. Zu deutlich sah er sein vorwurfsvolles Gesicht vor sich, wie jetzt, als er sich im Spiegel nicht in die Augen schauen konnte.
Er schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht und atmete noch einige Male tief durch. Klang schon fast normal und nachdem er sich das Haar mit Wasser halbwegs ordentlich zurückgestrichen und geglättet hatte, sah er nicht mehr wie ein ungehobelter Brutalo aus. Hoffte er zumindest. Nur noch wie ein verlotterter Schlunz mit müdem Blick und schlaffer Haut.
Nützte nichts, er konnte sich nicht ewig hier im Bad verstecken. Eine Entschuldigung war fällig. Worte würden da wohl nicht reichen. Irgendwie musste Raul Corey davon überzeugen, dass er im Grunde genommen harmlos war und auch, wenn er die Beherrschung verlor, höchstens herumbrüllte und sich relativ schnell wieder beruhigte. Doch würde er das schaffen? In Coreys Gesicht hatte ein Ausdruck echter Panik gestanden. Bestimmt hatte er miese Erfahrungen hinter sich. Nicht nur mit diesem Dreckskerl Tanner ... Raul kämpfte die erneut aufsteigende Wut nieder. Es ging jetzt nicht um Tanner
oder den Rest der verabscheuten Familie. Es ging um Rauls mangelnde Selbstbeherrschung und die üblen Auswirkungen, die er nicht auf die von Straatenfelds schieben konnte. Er musste selbst dafür eintreten, dass er Mist gebaut hatte.
Er nahm seinen Mut zusammen und stieß beherzt die Tür auf. Klirrend rutschte eine Türklinke über den Boden. Mist. Schon wieder hatte er etwas kaputtgemacht. Das passierte ihm leider oft, wenn er wütend war. Aber er ging nur auf Gegenstände los, nie auf Menschen. Wirklich nie. Nur wusste Corey das natürlich nicht. Er kannte ihn ja nicht. Und wenn er andere Erfahrungen hatte machen müssen ...
»Es tut mir ...«, begann Raul und merkte, dass er in einen leeren Raum sprach. Corey war fort. Diese Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Er war weg, kein Zweifel, in diesem kleinen Raum gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ein Blick zur Tür zeigte, dass seine Schuhe fort waren. Und Rauls Jacke. Verdammt! Dieser Vollpfosten war in den Schneesturm gerannt!
In fieberhafter Eile zerrte sich Raul die Stiefel über die Füße. Wie lange war er im Bad gewesen? Viel zu lange! Corey konnte wer weiß was passiert sein. Er konnte ... nein. Darüber durfte Raul jetzt nicht näher nachdenken. Er musste ihn finden, und das schnell. Aus einer seiner Reisetaschen zerrte er seine andere Jacke. Die war zwar nicht so warm, aber besser als nichts. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, trat er in den Sturm. Der Eiswind schien ihn in die Sicherheit der Station zurücktreiben zu wollen, doch er stemmte sich dagegen und brüllte: »Corey!«
Im Heulen des Sturms konnte er sich selbst kaum verstehen. Sinnlos, darauf zu hoffen, dass Corey ihn hörte. Weit konnte er bei dem Unwetter nicht gekommen sein. Nicht mit den Schuhen, nicht bei diesem hohen Schnee. Leider wusste Raul nur zu gut, dass er ihn in besagtem hohen Schnee kaum finden konnte, selbst wenn er nur wenige Meter von der Station
entfernt hingefallen war. Trotzdem versuchte er es. Er würde Kreise um die Station gehen und ... Was war das? Er kniff die Augen gegen den Wind zusammen. Da lag etwas, hangabwärts. Nun lobte er seine Sparsamkeit, denn er hatte damals die billigste Jacke im Sonderangebot gekauft, und die war nun mal knallig orange. Eine Farbe, die sich vom Weiß des Schnees gut abhob, selbst wenn nur ein Stückchen zu sehen war. Halb gehend, halb schlitternd bewältigte Raul den Hang, bis er an die Stelle kam, an der er den orangen Fleck zu sehen geglaubt hatte. Zuerst fürchtete er schon, er hätte sich getäuscht. In wilder Verzweiflung grub er im Schnee und rief wieder Coreys Namen. Endlich stießen seine Finger auf mehr Widerstand und im nächsten Moment konnte er Corey am Jackenärmel zu sich heranziehen.
»Corey! Corey! Hörst du mich?«, brüllte er in das bleiche, violettstichige schmale Gesicht. In Coreys Wimpern hing Schnee und sein Haar sah nicht länger blond und weich aus, sondern wie eine moderne Eisskulptur. »Corey!«
Was, wenn er abgestürzt war und sich etwas gebrochen hatte? Zum Beispiel den Hals? Dann durfte Raul ihn doch nicht bewegen. Andererseits konnte er ihn auch nicht hier liegen lassen. Er würde erfrieren. Mit den Zähnen zerrte sich Raul die Handschuhe von den Händen und tastete Coreys Hals ab, seinen Nacken, die Schultern, so gut das eben durch die Daunenjacke ging. Corey gab ein leises Wimmern von sich und Raul atmete auf. Immerhin war er bei Bewusstsein. Die Augen konnte er vermutlich nur nicht öffnen, weil ihm die Wimpern an den Wangen festgefroren waren. Musste er aber auch nicht. Raul sah genug für sie beide.
Er zog Corey in eine sitzende Haltung. »Ich bin da. Ich bring dich ins Warme«, sagte er und merkte, dass er selbst mit den Zähnen klapperte. Aber er hatte Corey gefunden. Das war das Wichtigste. Er griff in die Jacke und warf sich Corey über die
Schulter, kämpfte sich auf die Füße. Mehrmals rutschte er im tiefen Schnee aus und stürzte, doch er ließ Corey nicht los, versuchte es wieder und wieder, bis er schwankend stand und sein Gleichgewicht fand. Wacklig machte er sich mit seiner Last auf den Weg zur Station. Corey rührte sich nicht, was einerseits gut war, weil Raul ihn so besser transportieren konnte. Andererseits verstärkte es seine Sorge. Wie ein Mantra sagte er sich vor, dass Corey jung war. Jung und gesund. Jung und gesund. Ein paar Minuten in Kälte und Schnee schadeten ihm schon nicht. Er musste jetzt nur schnell ins Warme. Und dafür würde Raul sorgen. Kein Problem. Alles gut. Jung und gesund.
Nur ungünstig, dass Raul alles andere als jung war und besonders fit war er leider auch nicht mehr. Die Zeiten, in denen er mit Mick aus Spaß an Jedermann-Triathlons teilgenommen hatte, waren lange vorbei. Nur Kraft hatte er noch. Kam vom Bierkastenschleppen und sonstigen Handwerks- und Hilfsarbeiten, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdiente. Ein Leichtgewicht wie Corey konnte er auch bei einem Orkan die paar Meter bis zur Station schleppen. Kein Problem, auch wenn sein Rücken da anderer Meinung zu sein schien. Raul ignorierte die Stiche in seinen Bandscheiben und stapfte unbeirrt weiter.
Bei dem Wetter konnte er die Station schon gar nicht mehr sehen. Kein Wunder, dass Corey, der sich hier nicht auskannte, die Orientierung verloren hatte. Raul fand das Gebäude selbst nur mit mehr Glück als Verstand, und dabei war es nicht weit entfernt. Aufatmend legte er die letzten Meter zurück, stieß die Tür auf und stolperte in die Liftstation, die ihm heiß wie eine Sauna vorkam.
Ohne sich die Zeit zu nehmen, die Stiefel auszuziehen, marschierte er gleich durch zum Ofen und legte Corey dort ab. Er zögerte nicht und fing an, ihn auszuziehen. Dies war nicht die passende Situation für Rücksicht auf Schamgefühle. Corey
musste aus den nassen, halbgefrorenen Sachen raus, und zwar schnell. Er wehrte sich nicht, half aber auch nicht mit, lag nur da wie eine schlabbrige Puppe. Sobald er nackt war, untersuchte Raul ihn erneut auf Verletzungen. Nichts zu sehen und soweit er es als Laie beurteilen konnte, gab es keine Knochenbrüche. Sämtliche Gelenke ließen sich gut bewegen, aber auch nicht zu gut. Raul schnappte sich die erstbeste Decke und begann, Corey grob abzurubbeln. Er war eiskalt und seine Haut marmorweiß. Seine Durchblutung musste angeregt werden, besonders die in Armen und Beinen.
Nach einer Ewigkeit regte sich Corey und fing an zu jammern. Musste schmerzhaft sein, wenn das Leben zurück in die unterkühlten Gliedmaßen kehrte. Raul wickelte ihn in die Decke ein, sodass er wie ein Burrito aussah. Er füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein, wartete nicht, bis das Wasser kochte, sondern nur, bis es lauwarm war. Mit einem feuchten Tuch kniete er sich neben den sich windenden Corey-Burrito und wischte ihm das Gesicht ab. Sein Haar taute allmählich, Schmelzwasser tropfte auf den Boden und schließlich gelang es Corey, die Augen einen Spalt weit zu öffnen.
Er bewegte die Lippen. Dauerte etwas, bis Raul sein Gemurmel verstand.
Tanner.
»Tanner ist nicht hier«, knurrte er. Der hockte im Chalet unterm Weihnachtsbaum und feierte und verschwendete vermutlich keinen Gedanken an Corey.
Corey fing an zu schlottern, die Zähne schlugen ihm aufeinander. Raul wickelte ihn in mehr Decken ein. Am liebsten hätte er ihn unter eine heiße Dusche gestellt, doch damit konnte er hier nicht dienen. Stattdessen legte er mehr Holz in den Ofen, bis das Ding geradezu glühte.
Wieder fing Corey an zu murmeln. Raul beugte sich über ihn, sah besorgt in sein bleiches Gesicht. Sacht wischte er ihm mit dem warmen Tuch über die Stirn.
»... mir leid«, stieß Corey hervor und zwinkerte krampfhaft. »Es ... tut mir leid.«
Fürchtete er, Raul könnte ihm böse sein, weil er in den Schnee gerannt war? Raul spürte nur eins, und das war unendliche Erleichterung und Dankbarkeit dafür, dass er Corey rechtzeitig gefunden hatte. »Ist schon gut«, sagte er möglichst sanft. »War keine deiner besten Ideen, bei diesem Wetter einen Spaziergang zu machen, was?«
Corey gab ein hustendes Geräusch von sich, das wohl ein Lachen darstellen sollte. Klang wie Musik in Rauls Ohren.
Er schob ihm ein weiteres Kissen unter den Kopf, stand auf und kochte Tee.