11. Kapitel – Corey
»Dieses Wort gibt es nicht«, brummte Raul und musterte Corey über den Rand seiner Lesebrille. Ja, eine Lesebrille. Die war Corey vorhin schon aufgefallen, als sie friedlich in ihren Thrillern geschmökert hatten. Nun, aus der Nähe betrachtet, sah die gar nicht so schlecht aus. Sie machte Raul irgendwie ... sexy.
Coreys Ohren wurden heiß und er richtete seine Aufmerksamkeit rasch auf das Spielbrett. »Natürlich.«
»Knörtscheln? Was soll das sein?«
»Das ist das Geräusch, das eine Vinylplatte macht, wenn sie auf einem Plattenspieler abgespielt wird. Was man da so im Hintergrund hört.«
»Du hörst Vinylplatten?«
»Klar! Ich hab eine Menge Scheiben aus den Achtzigern.«
»Dann solltest du mich mal besuchen kommen, meine Sammlung kann sich auch sehen lassen.«
Corey musste Raul nun doch wieder ansehen. Wollte der sich über ihn lustig machen? Er grinste schief, sah aber aus, als meinte er es ernst.
»Wirklich?«
Das Grinsen verschwand so plötzlich, wie es aufgetaucht war. Raul räusperte sich und sah zur Seite. »Naja, nein. Wohl keine so gute Idee. Vergiss es. Noch Bier?«
»Ich dachte, wir müssten sparsam sein?«
»Das sind wir ja. Mit etwas Glück kannst du morgen oder übermorgen mit dem Lift nach unten fahren. Die Tür ist kaputt, die geht nicht mehr zu, und ich werde morgen zusehen, dass ich sie reparieren kann. Wenn das Wetter mitspielt, aber als ich vorhin draußen war, sah es nicht allzu schlecht aus.«
Eine lange Rede für den sonst eher wortkargen Raul. Corey hob die Schultern. »Na dann.«
Raul stand auf, um das Bier aus seinem Schneekühlschrank zu holen, und Corey versuchte, sich mit dem Gedanken anzufreunden, schon am nächsten Tag die Station zu verlassen. Eigentlich sollte er sich darüber freuen. Schließlich war er vor wenigen Stunden noch bereit gewesen, sein Leben zu riskieren, um von hier wegzukommen. Außerdem gab es nicht mal eine Dusche, dafür aber einen cholerischen Alpha.
Der besonders gut kochen konnte und sich als würdiger Scrabble-Gegner entpuppt hatte. Und der faszinierende whiskyfarbene Augen hatte, die Corey viel zu sehr verwirrten beim Spielen. Unfair.
Was dagegen wartete im Tal auf Corey? Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als ins Chalet zurückzukehren. Sein Gepäck befand sich noch in dem Gästezimmer. In der Dachkammer, in die man ihn abgeschoben hatte, damit er aus dem Weg war, wenn Tanner mit Victor anbandelte. Coreys Brust krampfte sich zusammen. Was, wenn er das Zeug einfach dort ließ? Aber er brauchte wenigstens Geld. Fuhren an Weihnachten überhaupt Züge? Oder war der Zugverkehr ohnehin wegen des Schneesturms eingestellt worden? Und wie kam er zum Bahnhof? Sonst hatte Tanner ihn immer mit zurück nach Hause genommen. Die gemeinsame mehrstündige Rückfahrt hatte Corey jedes Mal als verspätetes Weihnachtsgeschenk angesehen. Nur Tanner und er allein im Auto, viel Zeit zum Reden.
Worüber hatten sie eigentlich geredet? Es war so lange her ... Corey erinnerte sich an Tanners ausführlichen Bericht zu seinem Studium, Beschreibungen der Reisen, die er unternommen hatte, dem neuen Auto, das er sich zulegen wollte. Nun, als Corey daran zurückdachte, fiel ihm auf, dass sich ihre Gespräche immer nur um Tanner gedreht hatten. Und
in ihrer Beziehung, wenn man sie denn so nennen konnte, war es immer nur um Tanners Wünsche und Bedürfnisse gegangen. Tanners Terminplan hatte bestimmt, wann sie sich trafen. Tanner hatte ausgesucht, was sie zusammen unternahmen. Meist nicht viel, sie hatten sich in einem Hotel getroffen und Sex gehabt, wobei sie niemand zusammen sehen durfte. Und es war Tanner gewesen, der ihn während der letzten Monate immer wieder vertröstet hatte, der vorgegeben hatte, so viel lernen zu müssen. Jetzt fiel es Corey schwer, auch nur einen von Tanners vorgeschobenen Gründen zu glauben.
Früher war es anders gewesen. Als sie noch Kinder waren. Tanner war anders gewesen. Sie hatten Spaß zusammen gehabt, aber sie hatten sich auch ihre Ängste und Sorgen anvertraut. Corey wusste gar nicht mehr, wann das aufgehört hatte. Irgendwann hatte Tanner die Uni besucht und Corey eine Ausbildung gemacht und Tanner war fast nur noch mit seiner neuen Clique unterwegs gewesen. Reiche Kids, die schicke Autos fuhren und keine Geldsorgen kannten, für die der schöne Schein an erster Stelle stand. Ja, Tanner hatte immer viel von sich erzählt, aber das war nur oberflächlicher Kram gewesen. Corey hatte ihn auch nicht mit seinen Problemen belästigen wollen, so selten wie sie sich noch sahen. Und wenn er es mal versucht hatte, war es ihm vorgekommen, als wollte Tanner das nicht hören. Corey hatte an ihrer Freundschaft festgehalten, und Tanner wohl auch, auf seine Weise, doch es war nicht mehr dasselbe gewesen, nicht das innige Verhältnis, dass sie als Kinder und noch als Jugendliche aneinandergebunden hatte. Und dann war ja die Sache auf der Pferdekutsche passiert und ...
Ob alles anders gelaufen wäre, wenn sich Corey nicht in Tanner verliebt hätte? Wenn sie einfach so Freunde geblieben wären? Statt den sogenannten Friends with Benefits? Oder hätte das keinen Einfluss darauf gehabt, dass sie sich nun mal
auseinandergelebt hatten? Auseinandergelebt ... als hätten sie jemals zusammengelebt ...
»Trinkst du das, bevor es warm wird, oder soll ich es noch mal rausstellen?«, fragte Raul ihn und er merkte verlegen, dass er schon eine ganze Weile vor sich hingestarrt hatte. Er stieß mit Raul an und trank einen großen Schluck. »Hab über Freundschaften nachgedacht«, gab er zu. »Und wie sie zuendegehen.«
»Kann davon auch ein Lied singen. Gibt Leute, die wollen nur mit dir befreundet sein, wenn es dir gut geht und alles glatt läuft. Sobald es anstrengend wird, verschwinden sie.«
»Ist wohl manchmal besser so. Wenn man sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt und nur noch aus Gewohnheit an der Freundschaft festhält«, sinnierte Corey laut. »Und Freunde, die nur in guten Zeiten für dich da sind, kannst du sowieso vergessen.«
»Du bist ganz schön weise für dein Alter«, sagte Raul. Corey starrte ihn wohl so finster an, dass er rasch hinzufügte: »Vergiss das. Hab nicht nachgedacht. Weisheit ist keine Frage des Alters. Guck mich an.«
Wider Willen musste Corey lächeln. Er mochte Rauls trockene Selbstironie. »Du bist noch nicht so alt.«
»Aber weise?« Raul hob die Brauen und sie mussten beide lachen.
Corey wurde schnell wieder ernst. »Weise genug, um nicht raus in den Schnee zu rennen.«
»Tatsächlich habe ich ja genau das getan.«
»Aber nur, um mir das Leben zu retten. Danke noch mal. Ich kann mich gar nicht oft genug bedanken.«
Raul schob die Scrabblesteine auf dem Tisch herum. Corey fiel auf, dass er schöne Hände hatte. Groß, aber nicht grobschlächtig, mit langen, kräftigen Fingern. Unwillkürlich
musste Corey daran denken, dass Raul ihn mit diesen Händen ausgezogen hatte. Diesmal wurden nicht nur seine Ohren heiß.
Raul musterte die Spielsteine, als würde er einen Text von ihnen ablesen. »Weil ich mich wie ein Arsch benommen hab, bist du überhaupt erst rausgerannt.« Er hob den Kopf und sah Corey an, auf seine durchdringende, ein wenig finstere Art. Die eigentlich gar nicht finster war, wenn man sich daran gewöhnt hatte. Eher eindringlich. »Corey, ist dir mal was Schlimmes passiert?«
Corey verstand nicht, was er meinte. Das Schlimmste, an das er sich erinnern konnte, war im Moment die Verlobung von Tanner mit Victor, doch das meinte Raul bestimmt nicht.
»Hast du ... schlechte Erfahrungen mit Alphas gemacht?«, fragte Raul deutlicher nach.
»Vermutlich nur die, die jeder Omega kennt«, sagte Corey achselzuckend. Ihm dämmerte, worauf Raul hinauswollte. »Ach so. Du meinst, weil ich so in Panik geraten bin, als du auf mich losgegangen bist. Das heißt, das bist du ja nicht. Du bist nur ins Bad ... gegangen.«
»Und hab dabei die Badtür demoliert.«
»Du hast die Türklinke doch wieder angeschraubt.« Corey schluckte. »Nein, ich ... ich weiß es nicht. Ja, ich hatte schon einige unschöne Erlebnisse mit Alphas.« Und dann erzählte er das erste Mal von dem übergriffigen Verhalten, dem er während der Weihnachtsfeiern der von Straatenfelds ausgesetzt gewesen war. Er achtete darauf, den Namen nicht zu erwähnen, und sagte nur, es wäre bei einem Kellnerjob passiert. »Das hab ich noch nie jemandem erzählt«, murmelte er zum Abschluss. »Ein Kollege hat es mitbekommen und gesagt, ich sollte lieber die Klappe halten.«
Er wagte nicht, Raul anzusehen. Wieso hatte er ihn überhaupt damit genervt? Aus irgendeinem Grund wollte er sein Verhalten begründen. Wohl doch eine Entschuldigung dafür finden. Die
Vorstellung, dass Raul es persönlich nahm, gefiel ihm nicht. Und so war es ja auch nicht gewesen. Er verstand sich selbst nicht mehr.
»Du hast jedes Recht, dich vor Alphas zu fürchten«, hörte er Raul schließlich sagen. Er bemerkte die unterdrückte Wut in seiner Stimme, doch die galt nicht ihm, das spürte er. »Ich hätte nicht fragen sollen. Es geht mich nichts an. Es ist nicht deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ich mich besser fühle. Dass ich deine Angst vor mir auf irgendwelche Erlebnisse in deiner Vergangenheit schieben kann, damit ich mich nicht so verdammt schuldig fühlen muss. Es geht nicht um mich. Es geht darum, dass du dich hier nicht sicher fühlst, und meine Sache ist allein die, dafür zu sorgen, dass du die Zeit halbwegs gut herumbekommen kannst.«
»Das gelingt dir jedenfalls ziemlich gut«, flüsterte Corey. Seine Kehle schnürte sich zu. Er hatte noch nie erlebt, dass ein Alpha so mit ihm redete. »Und das stimmt nicht. Ich fühle mich sicher.« Er hob den Kopf. Raul sah ihn wieder auf diese eindringliche Art an und diesmal erwiderte Corey seinen Blick offen.
Etwas passierte. Er sah in Rauls Augen und mit einem Mal war alles klar und einfach und richtig. Er versank in dem goldenen Leuchten guten Whiskys, verlor den Boden unter den Füßen und fühlte sich gleichzeitig geerdeter als je zuvor in seinem Leben. Raul sah ihn nur an und er wusste, dass alles gut werden würde.
Der Moment dauerte nur Sekundenbruchteile und sobald er vergangen war, blinzelte Corey verwirrt, fühlte sich wie aus einem Traum erwacht, den er nach ein paar Minuten bereits vergessen würde.
»Knörtscheln also«, sagte Raul und senkte den Blick auf das Spielbrett. »Na schön. Das lasse ich mal gelten. Weil Weihnachten ist.«
»Danke«, erwiderte Corey. Er wollte es frech klingen lassen, doch er war noch zu benommen von diesem merkwürdigen Erlebnis. Sein Herz schlug schneller, als es das im Sitzen tun sollte und ein nervöses Flirren breitete sich in seinem Körper aus. Nun nahm er auch wieder Rauls Duft wahr und diesmal fand er ihn alles andere als unangenehm. Er erinnerte ihn an das Gefühl, von ihm gehalten zu werden. An Wärme und Geborgenheit und ein bisschen Zuhausemief. Dieses Kuschelkissengefühl.