12. Kapitel – Raul
Raul putzte sich die Zähne und starrte sich im verkratzten Badezimmerspiegel an. Auch wenn es schwer zu glauben war, dies war der beste Heiligabend seit langem. Er hatte einen Wutanfall bekommen, die Tür demoliert, einen Omega so verängstigt, dass der keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als in einen Schneesturm zu fliehen. Er hatte besagten Omega mit einer erschreckenden Portion Glück gefunden und aufgewärmt, ein gutes Essen gekocht und es sogar essen können und Scrabble gespielt. Er hatte nach zwei Bier aufgehört zu trinken und nicht den Drang verspürt, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu besaufen. Er hatte sich nicht die ganze Zeit dazu zwingen müssen, sich nicht umzubringen. Aufzugeben. Das war ihm während der letzten Jahre zwar immer leichter gefallen, doch es gab immer wieder Phasen, in denen er nicht wusste, wie er es auch nur einen einzigen Tag ohne Mick und Chester aushalten sollte. Tage, an denen der Schmerz so überwältigend groß war, dass er ihm die Luft abschnürte und es leicht erscheinen ließ, Schluss zu machen. Der Qual ein Ende zu setzen.
Doch an diesem schlimmsten Tag des Jahres hatte diese Gefahr nicht bestanden. Der Schmerz war da, wie immer, das dumpfe Pochen, an das er sich irgendwann gewöhnt hatte, sodass er es ab und zu gar nicht mehr richtig wahrnahm. Doch die scharfen Spitzen waren ausgeblieben. Er hatte sogar gelacht. Mehrmals. Das Essen hatte ihm geschmeckt. Und er hatte sich lebendig gefühlt. Sah er nicht sogar lebendiger aus?
Quatsch. Er spülte sich den Mund aus und verließ das Bad. »Du kannst rein«, sagte er zu Corey, der neben dem Ofen am Fenster stand und in die Dunkelheit spähte. Dachte er an Tanner? An die von Straatenfelds, die jetzt ach so idyllisch unter
ihrem protzigen Weihnachtsbaum saßen und noch protzigere Geschenke auspackten?
Er dachte an einen anderen Baum, den er geschmückt hatte, während Mick mit Chester spazieren gegangen war, denn die Weihnachtstanne sollte wie jedes Jahr eine Überraschung für ihn sein. Die Geschenke hatten noch im Schrank gelegen, die wollten sie später darunterlegen. Doch dazu war es nie gekommen. Sie lagen noch immer im Schrank. Raul hatte es nicht über sich gebracht, sie auch nur anzusehen.
Wie magnetisch angezogen ging er zu dem gerahmten Foto, nahm es vom Regal und strich sacht mit den Fingerspitzen über Micks Lächeln, über Chesters zahnlückiges Grinsen. »Ich vermisse euch«, flüsterte er. »Frohe Weihnachten.«
»Raul, hast du ...«
Der Rahmen glitt ihm aus den Fingern, landete klirrend auf dem Boden.
»Entschuldigung!«, rief Corey erschrocken und bückte sich sofort, um ihn aufzuheben. Raul konnte nur wie gelähmt zusehen, wie er das Bild mit dem gesplitterten Glas aufhob und natürlich betrachtete er es. Langsam hob er den Blick und sah Raul fragend an. Er sagte nichts, überließ es Raul, ob er eine Erklärung zu dem jungen Mann und dem kleinen Jungen abgeben wollte. Raul wusste, wenn er jetzt nichts sagte, würde Corey nicht nachfragen. So gut kannte er ihn inzwischen. Er mochte ab und zu ein Plappermaul sein und auch neugierig, doch er besaß eine große Portion Empathie. Vielleicht zu groß. Doch Raul wollte es ihm sagen. Wie könnte er ihm Mick und Chester nicht vorstellen? Sie gehörten zu Raul, waren seine Familie. Familienmitglieder stellte man stolz vor und versteckte sie nicht verlegen oder verleugnete sie gar.
Dennoch musste sich Raul räuspern und als er sprach, klang seine Stimme rau, als hätte er mehrere Tage nicht gesprochen. »Das sind mein Mann Michael, Mick, und unser Sohn Chester.«
Ein Schatten flog über Coreys Gesicht. Er wandte den Blick nicht von Raul und Raul konnte in seinen Augen lesen, dass er schon vermutete, was er gleich sagen würde. Es befürchtete.
»Sie sind vor sieben Jahren gestorben.« Nach kurzem Zögern fügte Raul hinzu: »An Heiligabend. Es war ... ein Unfall.«
Corey wurde blass und seine Augen füllten sich mit Tränen. Verdammt, der würde doch nicht anfangen zu heulen? Wegen zwei fremden Leuten? Behutsam nahm Raul ihm das Bild aus den Händen. Sie zitterten.
»D... das tut mir so leid«, sagte Corey erstickt. »Ich wusste ja nicht ...«
»Nein, das konntest du nicht wissen.«
Corey sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann presste er nur die Lippen zusammen und zwinkerte krampfhaft. Er wollte wissen, wie es passiert war. Das sah Raul ihm an. Und zwar nicht aus Sensationsgier, sondern aus Mitgefühl. Aus Interesse an den beiden Menschen auf dem Bild, die er nie getroffen hatte. Mit plötzlicher Klarheit wurde ihm klar, dass es Corey nicht um diese Fremden ging, sondern um ihn, Raul. Dass er darum kaum die Tränen zurückhalten konnte.
»Sie sind spazierengegangen, während ich den Baum geschmückt habe«, sagte er leise. »Ein betrunkener Autofahrer hat sie auf dem Gehsteig erwischt.«
Corey gab den Kampf auf. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Das ist schlimm«, krächzte er. Und dann weiteten sich seine Augen. Raul konnte ihm förmlich ansehen, dass er begriff. Die Sekunde, in dem ihm klar wurde, was passiert war. »Die von Straatenfelds«, hauchte er. »Es war einer von ihnen, oder?«
»Einer von ihren Gästen jedenfalls. Er hat Fahrerflucht begangen. Chester und Mick einfach liegenlassen.« Nun fingen auch Rauls Augen an zu brennen. Er hatte gedacht, keine Tränen mehr übrig zu haben. Sein Kontingent für den Rest
seines Lebens ausgeschöpft zu haben. Da hatte er sich wohl getäuscht. »Es hat aber einen Zeugen gegeben, der sofort den Krankenwagen gerufen hat. Genützt hat es nichts mehr. Mick und Chester sind auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Aber der Zeuge hat sich das Nummernschild des Autos gemerkt und die Polizei hat den Wagen vor dem Haus der von Straatenfelds gefunden.« Raul hatte sich bemüht, sachlich zu erzählen, doch nun schlich sich Bitterkeit in seine Stimme. »Die Spuren an dem Wagen waren deutlich, doch der Besitzer hat alles abgestritten. Behauptet, er wäre nicht gefahren. Er war nachgewiesen alkoholisiert. Wie die meisten der Anwesenden.«
»Was ... ist dann passiert? Wurde er bestraft?«, fragte Corey kaum hörbar.
»Es gab eine Anklage und eine Verhandlung, doch der Besitzer des Autos wurde freigesprochen. Von Straatenfeld ist für alle Kosten des Unfalls aufgekommen. Auch für die Beerdigung. Mir war es egal. Auch eine Strafe hätte mir Mick und Chester nicht zurückgebracht.«
Und keine Strafe wäre hart genug gewesen für den Mistkerl, der sie auf dem Gewissen hatte. Dass Raul zwei Jahre später in einem Akt der Selbstjustiz mehrere Autos vor dem Chalet in Schrott verwandelt hatte, erwähnte er lieber nicht.
Corey wischte sich mit dem zu langen Ärmel über das Gesicht. Seine Nase leuchtete rot und in seinen Wimpern schimmerten Tränen. Er sah furchtbar jung aus. »Darum also«, flüsterte er. »Darum hasst du sie. Und ich hab sie auch noch verteidigt. Jetzt verstehe ich, warum du so ausgerastet bist. Bitte verzeih mir.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen«, sagte Raul barsch. »Du wusstest das nicht. Und wenn ich geahnt hätte, wie sehr dich das mitnimmt, hätte ich es dir gar nicht erzählt.«
»Ich bin froh, dass du es getan hast«, sagte Corey gefasst. »Danke für dein Vertrauen.«
In Rauls Brust schmolz etwas. »Geh Zähneputzen«, sagte er sanft.
Corey nickte, blieb aber stehen, wo er war. Er schien mit sich zu ringen. Raul wartete irritiert. Unvermittelt trat Corey einen Schritt vor, sodass er dicht vor ihm stand und schlang heftig die Arme um ihn, drückte sich an ihn. Raul war zu verblüfft, um etwas anderes zu tun, als mit hängenden Armen zu verharren. Die Nähe von Coreys warmem, bebenden Körper überrumpelte ihn. Sein Duft stieg ihm in die Nase, Vanille und Erdbeeren, vermischt mit dem Waschmittel, das Raul benutzte, denn schließlich trug Corey seine Klamotten. Genau so schnell, wie Corey sich gegen ihn geworfen hatte, ließ er ihn auch wieder los, wandte sich ab und stolperte hastig ins Bad.
Raul stand da und schluckte mehrmals. Sein Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Er hielt noch das Bild in der Hand, betrachtete es erneut. Über die Scheibe vor dem Foto verlief ein Riss, verästelte sich. Teilte den blauen Himmel über Chester und Mick in ein zersprungenes Mosaik. Mit ihrem Tod war Rauls Leben in tausend Scherben zersprungen und nur mit äußerster Willenkraft war es ihm gelungen, ein paar Stücke wieder zusammenzufügen, gerade genug, um weiterleben zu können. Doch nun kam es ihm vor, als hätten sich einige der Risse in seinem Leben zusammengefügt. Als könnte er ein wenig freier atmen.
Mick hob mal wieder die Brauen und lächelte ihn an, vielsagend, und auch ermutigend. Schien leicht den Kopf über ihn zu schütteln. Und Chester strahlte vergnügt, wie üblich. Glücklich damit, bei ihm und Mick zu sein. Für immer der vierjährige Junge aus Rauls Erinnerung.
Corey blieb eine Ewigkeit im Bad. Zwei Kapitel, genau gesagt. Die hatte Raul in seinem Buch gelesen, als Corey wieder erschien. Raul hatte bereits das große Licht ausgeschaltet und
nur die Lichterketten, die kleine Stehlampe neben Coreys Lager am Ofen und die Leselampe über seinem Feldbett angelassen. Trotzdem sah er, dass Coreys Augen verquollen und gerötet waren. Zu viel Empathie. Er hatte es befürchtet.
Kam nicht oft vor, dass er von Mick und Chester erzählte. Wem auch? Abigail wusste Bescheid, seine Freunde auch. Ehemalige Freunde. Die hatte er alle vergrault, schon im ersten Jahr nach dem Unfall. Er konnte es ihnen nicht mal verübeln, dass sie sich von ihm abgewendet hatten. Leid war schwer zu ertragen und er hatte es ihnen nicht leichter gemacht mit seinen Wutanfällen, die sich mit apathischen Phasen und Zeiten, in denen er ständig betrunken war, abwechselten. Doch wenn das Thema doch mal aufkam, reagierten alle mit betretenem Schweigen, höflichen Beileidsbekundungen oder sofortigem panischen Rückzug. Niemand mit Trauer, wie Corey, der sich nun auf seinem Deckenlager niederließ.
»Gute Nacht«, sagte er mit belegter Stimme. »Danke für das tolle Essen und für das Spielen. Es war ... schön.«
»Das fand ich auch«, sagte Raul ernst. »Danke für deine Gesellschaft.«
Corey schenkte ihm ein zittriges Lächeln. »Hört sich zwar seltsam an, aber ich bin froh, hier zu sein.«
»Das klingt tatsächlich mehr als seltsam«, gab Raul trocken zurück. »Mit was für Zeug putzt du dir die Zähne?«
Corey lachte nicht, aber er lächelte ein wenig deutlicher. »Gute Nacht, Raul.«
»Nacht, Corey. Schlaf gut.«
Raul versuchte noch eine Weile zu lesen, doch irgendwann bemerkte er, dass er ein und dieselbe Seite schon mehrmals überflogen und kein Wort davon kapiert hatte, also gab er auf und knipste die Leselampe aus. Er lauschte Coreys ruhigen Atemzügen und bildete sich ein, einen Hauch seines Duftes wahrzunehmen. Wie jeden Abend vor dem Einschlafen galt
sein letzter Gedanke Mick und Chester, aber davor dachte er an Coreys schelmisches Lächeln, als er das Wort Knörtscheln gelegt hatte.