13. Kapitel – Corey
Der Schnee leuchtete rosa wie auf einem kitschigen Gemälde.
Corey stand am Fenster und konnte sich nicht von dem Anblick losreißen. Er hatte sich zwar eine der Decken um die Schultern gelegt, doch allmählich wurde ihm kalt. Um sich etwas anzuziehen hätte er sich aber von der Fensterfront abwenden müssen und er wollte keinen kostbaren Moment des Sonnenaufgangs verpassen. Die Farben und die Stimmung veränderten sich nämlich von Sekunde zu Sekunde. Corey war noch nie um diese Uhrzeit auf einem Berg gewesen, hatte noch nie zuvor in die verschneite Bergwelt geblickt und zugesehen, wie sich die ersten Sonnenstrahlen über die Gipfel tasteten, alles in unwirkliches Licht und tausend Farben tauchte.
Ob Tanner das schon mal beobachtet hatte?
Der Gedanke an Tanner verursachte nicht mehr dieses schmerzhafte Stechen in seiner Brust, nur noch einen unangenehmen Druck. Corey hatte die halbe Nacht wachgelegen und darüber nachgedacht, was Raul ihm erzählt hatte. Sieben Jahre. Vor sieben Jahren war auch er im Chalet zu Gast gewesen, wie jedes Jahr Weihnachten. Er kannte den Gast, der Rauls Familie getötet hatte, auch wenn er nicht wusste, wer es war. Oder wusste er es? Die Angst, es könnte Tanner gewesen sein, nagte an ihm, wühlte mit den Klauen der Furcht in seinen Eingeweiden. Er wusste, dass sich Tanner ab und zu betrunken hinter das Steuer setzte. Er prahlte sogar damit, dass er dann besonders gut fahren konnte. Das war es auch, was Corey beruhigte, denn wenn Tanner wirklich unter Alkoholeinfluss Menschen überfahren hätte, wäre er doch nicht mehr so locker damit umgegangen.
Warum hatte Corey das damals nicht mitbekommen? Gehörte das zu den Dingen, die er einfach nicht hatte sehen wollen? Die er wie so vieles ignoriert hatte, um sich die schöne Zeit nicht zu verderben? Die Tatsache, dass er am Abend vor Heiligabend als billige Servierkraft eingesetzt worden war, gehörte dazu. Und seine Ausquartierung aus seinem gewohnten Zimmer wohl auch. Vor allem aber Tanners Verhalten ihm gegenüber. Die ständige Heimlichtuerei. Zu lange hatte er sich eingeredet, das sei romantisch. Ein Dreck war das gewesen! Tanner hatte nie vorgehabt, zu ihrer Beziehung zu stehen. Selbst wenn sein Vater ihm nicht diesen fruchtbaren Verlobten aufs Auge gedrückt hätte, wäre es einfach immer so weitergegangen, hätte Tanner ihn nur ständig neu vertröstet.
Corey hatte ewig gebraucht, um das einzusehen, und selbst jetzt ertappte er sich ab und zu bei der Hoffnung, dass er sich vielleicht doch täuschte. Nein, tat er nicht. Und er würde sich nicht wieder so belügen. Reichte schon, wenn Tanner das tat.
Trotz allem klammerte er sich aber daran, dass Tanner mit dem Unfall nichts zu tun hatte. Denn wenn doch ... hatte Corey ihn niemals gekannt. Dann hätte es den Tanner, in den er verliebt gewesen war, gar nicht gegeben. Denn der hätte niemals feige die Flucht ergriffen, nicht geholfen, die Verantwortung nicht übernommen. Sein Tanner hätte für seinen Fehler geradegestanden. Sein Tanner wäre aber vor allem am Boden zerstört gewesen und hätte nicht Weihnachten feiern können, als wäre nichts geschehen.
Sein Tanner ... es war niemals sein Tanner gewesen.
Corey schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der sich auf seiner Zunge gesammelt hatte. Hinter ihm erklang ein schnorchelndes Röhren und ohne sein Zutun hoben sich seine Mundwinkel. Raul schnarchte wieder. Wie er herausgefunden hatte passierte das nur, wenn Raul auf dem Rücken lag. Er war ein unruhiger Schläfer, wälzte sich ständig unruhig hin und her,
vom Rücken auf die Seite und auf den Bauch. Dann schnarchte er nicht. Und jetzt lag er mal wieder ausgestreckt da, ein Arm hing seitlich von dem schmalen Feldbett auf den Boden und die Decke war verrutscht. Corey ertappte sich dabei, dass er Rauls selbst in entspanntem Zustand beachtlichen Bizeps bewunderte und wandte rasch den Blick ab, um wieder aus dem Fenster zu sehen.
Die Sonne war bereits hinter Wolken verschwunden und es schneite. Sah ganz danach aus, als könnte Corey auch heute nicht den Weg ins Tal antreten. Was ihm mehr als gut gefiel. Er hatte am Vorabend nicht gelogen. Er war froh, hier oben zu sein. Alles, was ihn so verstört und in die Verzweiflung getrieben hatte, schien so weit weg zu sein. Als hätte er nicht nur Tanner, Victor und die von Straatenfelds im Tal zurückgelassen, sondern sein altes Leben. Sein neues lag woanders, nicht hier auf dem Berg. Dies hier fühlte sich an wie eine Zwischenstation, wertvoller Raum und Zeit zum Innehalten, Durchatmen. Um mit dem, was gewesen war, abzuschließen und neue Pläne zu schmieden.
Für neue Pläne fühlte sich Corey allerdings noch nicht bereit. Es reichte ihm, noch ein paar Tage hier oben herumzuhängen, sich von Raul bekochen zu lassen und abends mit ihm Scrabble zu spielen und das gute Bier zu trinken. Um in seinen Whiskyaugen zu ertrinken und ...
Nein, daraus wurde nichts. So sehr sich Corey auch von Raul angezogen fühlte, denn das tat er, wie er sich längst eingestanden hatte, so deutlich spürte er auch, dass Raul keineswegs mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte. Wie sollte er auch. Dieser Blick, mit dem er das Bild bedacht hatte. So voller Liebe. Der Tod seines Mannes und seines kleinen Sohnes hatte sie nicht zerstören können. Sie strahlte so hell und klar, dass sie ihn beinahe wie einen Heiligenschein umgeben
hatte. Er hatte so jung ausgesehen und gleichzeitig so alt, als wäre ein großer Teil von ihm Mick und Chester bereits gefolgt.
Aber ein Teil von ihm war noch hier. Und der fühlte sich auch von Corey angezogen. Dieser seltsame Moment, als sie sich in die Augen geschaut hatten ... den hatte er doch auch mitbekommen. Und später, als Corey die Beherrschung verloren und ihn umarmt hatte - da hatte Raul zumindest körperlich eindeutig auf seine Nähe reagiert.
Corey wusste, dass er hübsch war. Er mochte zwar nicht diesen verlockenden Duftstoff aussenden wie Omegas, die regelmäßig in Hitze gerieten, aber er war für die meisten Alphas dennoch attraktiv. Wenn er es darauf anlegte, könnte er Raul womöglich verführen. Eine heiße Affäre in einer einsamen Liftstation auf einem verschneiten Berg - der Stoff für die Liebesromane, die Corey gerne las. Aber dies war keine seiner rosaroten Romanzen, auch wenn der Sonnenaufgang genau darauf hingedeutet hatte. Dies war keine schnulzige Geschichte, in der sich der verbitterte Alpha natürlich in den süßen Omega verliebte und sie gemeinsam neues Glück fanden. Dies war die Realität und Raul war nicht bereit, eine neue Beziehung einzugehen. Nicht jetzt und vermutlich sogar nie. Und Corey war niemand, der Gefallen an einer nichtssagenden Affäre fand.
Ein raues Lachen kratzte in seiner Kehle. Ach nein? Und wer war denn jahrelang das schmutzige Geheimnis eines reichen Alphas gewesen? Er mochte sich ja eingeredet haben, dass Tanner und er eine Beziehung hatten, doch für Tanner hatte er nichts weiter bedeutet als eben das - eine Affäre.
Nach einem wüsten Schnarchlaut ertönte ein dumpfes Poltern. Corey fuhr herum. Raul hatte sich im Schlaf oder zumindest im Halbschlaf aus dem zum Glück niedrigen Feldbett gewälzt und lag nun in seine Decke verknotet auf dem Boden. Fluchend.
»Guten Morgen«, sagte Corey amüsiert und näherte sich ihm vorsichtig. »Brauchst du Hilfe?«
Raul kämpfte gegen die Decke, das Gesicht verquollen, die Augen halbgeschlossen. Das Haar stand ihm in wilden Strähnen vom Kopf ab und Corey widerstand der Versuchung, glättend darüber zu streichen. Tatsächlich erinnerte Raul ihn an einen Pirat, der gegen einen Riesenkraken kämpfte. Auch wenn es sich bei dem fürchterlichen Untier in Wahrheit um eine simple Wolldecke handelte.
Heroisch gelang es Raul, sich zu befreien und aufzusetzen. Er rieb sich über das Gesicht und gähnte ungeniert.
»Du hast einen wundervollen Sonnenaufgang verpasst«, teilte Corey ihm mit.
»Hmpf«, machte Raul. »Schon mal gesehen.«
Seine Stimme klang dunkel und rau vom Schlaf und so sexy, dass sie ein sehnsüchtiges Vibrieren durch Coreys Körper jagte. »Ich nicht«, sagte Corey leise.
»Hmpf«, machte Raul noch mal und stemmte sich hoch. Er trug nur eine Pyjamahose. Auf seiner breiten Brust lockte sich dunkles Haar, und ein schmaler Haarstreifen zog sich von seinem Bauchnabel bis zum Bund der Hose und darunter. Coreys Blick folgte dieser Bahn unwillkürlich und sein Mund wurde trocken. Bisher hatte er nicht gewusst, dass ihn sowas anmachte. Tanner hatte sich immer einer Ganzkörperrasur unterzogen, auch im Intimbereich. Und er war schmal und drahtig, völlig anders als Rauls eher bärenhafte Statur. Corey erschauerte wohlig bei der Vorstellung, mit dem kuscheligen Raul in einer gemütlichen Bärenhöhle zu überwintern ...
Und wo kam das jetzt her? Corey war froh, dass Raul die Augen offenbar noch nicht ganz öffnen konnte, denn so entging ihm hoffentlich, wie heiß und garantiert knallrot Coreys Gesicht anlief. Er stapfte an Corey vorbei und das herbe Aroma seines Nachtgeruchs streifte Coreys Nase. Die hätte Corey nun am
liebsten an seiner Brust vergraben und den Duft ganz tief inhaliert.
Raul verschwand im Bad und Corey hörte Wasser rauschen. Benommen schüttelte er den Kopf, um wieder klar zu werden. Was war los mit ihm? Er hatte gedacht, dass er Tanner liebte und begehrte, aber das war mehr so ein flattriges, aufgeregtes Herzklopfen gewesen. Was er nun empfand ging tiefer. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein ganzer Körper brannte vor Verlangen und wenn er an Rauls nackten Oberkörper dachte, musste er beinahe stöhnen. Er hätte nichts lieber getan, als ihm ins Bad zu folgen, sich die Kleidung vom Leib zu reißen und sich an ihn zu drängen, um so viel wie möglich von ihm spüren zu können. Heiße, schwitzige, miefende Haut, Bartstoppeln, störrisches Haar unter seinen Fingern, Rauls Härte an seinem Bauch ...
Corey biss sich auf die Unterlippe. Er musste damit aufhören, sofort! Hatte er nicht tags zuvor noch über die triebgesteuerten Alphas nachgedacht? Was war er denn dann bitte jetzt? Triebhafter ging es ja wohl kaum noch.
Er brauchte Kaffee.
Eine kalte Dusche wäre noch besser gewesen, aber die gab es ja nun mal nicht. Er musste lachen. Was hätte er wohl gesagt, wenn ihm vor einem Tag jemand erzählt hätte, er würde sich nach einer Dusche sehnen, um sich abzukühlen, weil er heiß auf einen Alpha war? Flüchtig stellte er sich vor, raus zu rennen und sich nackt im Schnee zu wälzen. Nein, das war nun wirklich Quatsch und er hatte Raul versprochen, die Station nicht mehr zu verlassen, auch wenn es im Moment nicht sonderlich gefährlich draußen aussah. Der Schnee rieselte in dicken, flauschigen Flocken vom Himmel und der Wind heulte nicht mehr so wild ums Haus.
Kaffee. Genau.
Corey goss das Gebräu gerade aus der Kanne mit dem altmodischen Emaillefilter in zwei Becher, da kam Raul aus dem Bad. Fast ließ Corey die Kanne fallen, er konnte sie gerade noch zurück auf den Schrank stellen. War das ... wirklich der verkommene Pirat? Oder der heißeste Kerl, den Corey je gesehen hatte?
Raul hatte irgendetwas mit seinen Haaren gemacht. Sie hingen ihm nicht mehr wie ein Mopp ins Gesicht. Vermutlich hatte er sie einfach mit Wasser zurückgestrichen, doch der Unterschied war verblüffend. Nun sahen seine Augen noch atemberaubender aus. Die größte Veränderung bestand allerdings darin, dass er sich rasiert hatte. Wo vorher Stoppeln ein zerknautschtes Gesicht bedeckt hatten, gab es nun glatte Haut über markanten Wangenknochen, einem kantigen Kinn mit Grübchen und sinnlich geschwungene Lippen.
Corey merkte verlegen, dass er Raul mit offenem Mund anstarrte und heftig atmete. Fehlte nur noch, dass er anfing zu sabbern.
Mit einem schiefen Grinsen strich sich Raul mit der Handfläche über das Kinn. »Brauchte mal ne Veränderung«, brummte er und ging auf Corey zu.
In einem Liebesroman würde er Corey jetzt an sich reißen und leidenschaftlich küssen. Und, zugegeben, Corey hatte nicht vor, sich in dem Fall zu wehren. Natürlich trat dieser Fall aber nicht ein. Raul nahm sich nur einen Becher Kaffee und ging damit weg. Zu weit weg. Bis zur Tür. Dort blieb er stehen und starrte sinnend in den Schnee. Und ja, auch sein Profil hatte durch die Rasur eindeutig gewonnen und da ihm die Haare nicht mehr ins Gesicht fielen, konnte Corey nun auch seine gebogene Adlernase bewundern, die ihm etwas Aristokratisches verlieh.
Das war kein Yeti, das war ein Schneekönig.
Wie hatte Corey das anfangs nur entgehen können? Na gut, irgendwann war er ja sowieso Rauls unvergleichlichen Augen verfallen, und dem rauen Charme hatte er sich auch nicht entziehen können ... und nun dachte er schon selbst wie ein Autor dieser Liebesschmonzetten. Vermutlich gut, dass Raul hier nur Thriller als Lesestoff anzubieten hatte.