14. Kapitel – Raul
War vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, sich zu rasieren. Raul hatte im Bad Rasierzeug gefunden und die Gelegenheit genutzt. So langsam nervten ihn die Stoppeln nämlich. Doch so entsetzt wie Corey ihn eben angestarrt hatte, hätte er das wohl lieber bleiben lassen. Der Achttagebart hatte zumindest einen großen Teil seines aufgedunsenen Gesichts gnädig verdeckt. Aber, was zur Hölle! Wieso machte er sich überhaupt Gedanken darüber, was ein fremder Omega von seinem Aussehen hielt? Ein Omega, den er nach dieser Sache hier nie mehr wiedersehen würde.
Mit jedem Schluck Kaffee kehrte mehr von seinen Lebensgeistern zurück und er konnte nur über sich selbst den Kopf schütteln. Immerhin hatte Corey keine Angst mehr vor ihm und machte nicht den Eindruck, als wollte er erneut vor ihm ihn den Schnee flüchten, ob er nun rasiert war oder nicht.
»Was hättest du gerne zum Frühstück?«, fragte er. »Ich könnte Pancakes machen.«
Corey antwortete nicht und er drehte sich zu ihm um. »Pancakes?«, wiederholte er.
Mit glasigem Blick starrte Corey ins Leere, den Kaffeebecher in den Händen. »Ja«, murmelte er, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. »Toll.«
»Gut, dann müsstest du mal Platz machen.«
»Was?« Mit großen Augen sah Corey zu ihm auf. Nein, keine Spur mehr von dieser flackernden Panik, die Raul am Vortag leider übersehen oder zumindest nicht richtig gedeutet hatte. Nur ein verträumtes Glitzern. »Ach so.« Coreys Wangen und Ohren leuchteten flammend rot und er huschte zu seinem Sessel
am Ofen, rollte sich darauf zusammen wie ein Kater. »Oder soll ich dir vielleicht helfen?«, stotterte er.
Was war los mit ihm? War es womöglich noch die Verlegenheit, da er nun von Rauls tragischem Schicksal wusste? Raul verzog das Gesicht. Naja, Mitleid war hier oben auf jeden Fall besser als Angst. »Nein, zu wenig Platz«, erwiderte er, ohne Corey anzusehen. Er konzentrierte sich auf die Zubereitung des Teigs. Es bereitete ihm erstaunlich viel Freude, für Corey zu kochen.
In den ersten Jahren ohne Mick und Chester hatte er sich nur von Tiefkühlpizza und Cornflakes ernährt, wenn er überhaupt ans Essen gedacht hatte. Irgendwann hatte sich sein trotz allem noch vorhandener Überlebenswille durchgesetzt. Und der Teil von Mick, der bei ihm geblieben war und ihm Vorhaltungen wegen seiner ungesunden Ernährung machte. Für Mick hatte er angefangen, zu kochen. Er hatte eine seltsame Art von Trost darin gefunden und sich vorgestellt, dass Mick und Chester ihm bei seinen einsamen Mahlzeiten Gesellschaft leisteten. Das ging sogar so weit, dass er sich manchmal einbildete, Chesters neue Nahrungsvorlieben und Abneigungen zu kennen und sich danach richtete. Eine Zeitlang hatte Chester keinen Käse gemocht, doch die Phase hatte er zum Glück überwunden. Wohl besser, dass dies niemand von Raul wusste ...
Pancakes waren jedenfalls die Art Frühstück, die Mick und Chester liebten. Schon geliebt hatten, als sie noch körperlich anwesend gewesen waren. Eigentlich leicht und schnell und mit wenigen Zutaten zuzubereiten, nur der ideale Bräunungsgrad der Pfannkuchen erforderte Aufmerksamkeit. Darüber war Raul froh, denn das akribische Wenden des Teigs in der Pfanne lenkte ihn von Corey ab.
Corey mit den klaren blauen Augen und dem lieben Lächeln. Warum hatte er ausgerechnet an ein Arsch wie Tanner geraten müssen?
Aber das ging Raul nichts an.
Er verteilte den ersten Schwung Pancakes auf zwei Tellern. Den übrigen Teig würde er nach dieser Portion verbacken, denn pfannenfrisch schmeckten die Pfannkuchen einfach am besten. Eine halbvolle Flasche Ahornsirup hatte er im ansonsten spärlich bestückten Schrank der Station gefunden. Kenneth stand auf das Zeug in seinem Tee, das wusste Raul von gemeinsamen Schichten.
Ohne besondere Einladung saß Corey bereits am Tisch und strahlte Raul vorfreudig entgegen. Er sah tatsächlich aus, als wäre er gerne hier. Noch. Nach ein paar Tagen würde garantiert der Lagerkoller einsetzen und sie würden sich gegenseitig an die Kehle gehen ... Unwillkürlich haftete sich Rauls Blick auf die Haut an Coreys Hals, die Wölbung seines Adamsapfels, die sich nach oben und unten bewegte, als Corey schluckte. Genau genommen würde er Corey jetzt schon ganz gerne an die Kehle gehen, und genau diese Stelle küssen, den Puls unter der warmen Haut spüren. Wie Corey wohl schmeckte?
Hastig drängte er jeden Gedanken in diese Richtung zurück und stellte den Teller vor Corey ab, holte auch noch die Kaffeekanne und schenkte nach.
»Das ist so lieb von dir«, sagte Corey und schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. Ob er überhaupt wusste, was für fatale Auswirkungen das auf Raul hatte? Dass es sein Herz zum Stolpern brachte und seine Knie zum Zittern?
Raul setzte sich schnell und beugte sich über seinen Teller. Er vergaß sogar den Ahornsirup, bis Corey ihn verwundert fragte, ob er keinen wollte. Wie das Kochen zuvor beruhigte ihn nun auch das Essen. Jedenfalls, solange er nicht in Coreys Richtung blickte, vor allem nicht, wenn der sich gerade Sirup von der Unterlippe leckte. Eine Geste, die derart unschuldig wirkte, dass Raul sich für seine überhaupt nicht unschuldigen Wünsche schämte, die sie auslöste. Schon im Weinkeller war
ihm aufgefallen, was für absolut küssenswerte Lippen Corey hatte, doch damals war auch das nur eine neutrale Feststellung gewesen.
Ja, klar. Konnte er sich ruhig weiter einreden.
»Lust auf eine zweite Portion?«, erkundigte er sich pro forma.
»Och, wenn du mich schon so fragst ...« Wieder dieses Lächeln.
Während sie den nächsten Teller verzehrten, erklärte Raul, dass er sich nach dem Frühstück um die Liftkabine kümmern wollte. »Kann sein, dass die Tür nur vereist ist. Ich schau mir das mal an.«
»Aber ist das nicht zu gefährlich?«, fragte Corey. »Bei dem Schneesturm, und der Kälte ... Mir ist das gestern nicht so gut bekommen, dieses Gebäude zu verlassen.« Er zog schaudernd die Schultern hoch.
»Heute ist das Wetter besser«, behauptete Raul. Zum Teil stimmte das. Vor allem aber brauchte er mal eine Pause von Coreys Nähe. Er bildete sich ja viel auf die Kontrolle seiner Alpha-Triebe ein, doch irgendwann war auch seine Grenze erreicht. Auf keinen Fall wollte er Corey unbeabsichtigt zu nahe treten, ihm falsche Signale senden, die ihn erneut in Alarmbereitschaft versetzen würden.
»Ich finde, du solltest damit noch einen Tag warten«, schlug Corey vor. »Mindestens.«
»Ich mache es heute.«
Corey legte seine Gabel so heftig auf den Tisch, dass es schepperte. »Willst du mich loswerden?«
»Was?« Verblüfft sah Raul ihn an.
Corey erwiderte seinen Blick trotzig. »Du kannst es ja gar nicht erwarten, den Lift wieder fahrtüchtig zu machen, damit du mich ins Tal schicken kannst.«
»Also ...«
»Verstehe schon«, sagte Corey kühl und stand auf. »Du bist ja nicht extra hier auf den Berg gestiegen, damit dich jemand wie ich nervt. Und außerdem reichen deine Biervorräte länger, wenn ich nicht mehr mittrinke und ...«
Seine Stimme brach, er wandte sich ab und stampfte zurück zum Ofen, allerdings setzte er sich nicht in den Sessel, sondern blieb steif vor der Fensterfront stehen, mit dem Rücken zu Raul, die Arme um sich geschlungen.
Raul unterdrückte ein Seufzen. Er war nicht gut in sowas. Er hatte schon nicht gewusst, wie er am Vorabend mit Coreys Tränen umgehen sollte.
Jetzt geh schon zu ihm!
Micks Stimme klang ihm so deutlich in den Ohren, als stünde er neben ihm. Amüsiert, mitfühlend, mit leisem Vorwurf. Genau wie Mick immer mit ihm geredet hatte, wenn er sich mal wieder mit Abigail wegen einer Kleinigkeit gestritten hatte und sie beide zu trotzig waren, um einzulenken. Nur war Corey nicht seine Schwester und er hatte keine Ahnung, was er gesagt haben könnte, um ihn zu verletzen. Denn dass er verletzt war erkannte er.
Zögernd stand er auf und ging zu ihm, stellte sich mit Abstand neben ihn, um auf keinen Fall bedrohlich oder übergriffig zu wirken. »Die Biervorräte sind unwichtig«, sagte er das Erstbeste, was ihm einfiel. Immerhin gab Corey ein Schnauben von sich und seine Schultern wirkten nicht mehr ganz so angespannt, auch wenn er Raul weiterhin nicht ansah.
»Ich will dich nicht loswerden«, fügte Raul unsicher hinzu. Zu aufdringlich wollte er auch nicht klingen, aber warum sollte er die Wahrheit verschweigen? »Stimmt, eigentlich bin ich vor meiner Schwester und ihrer Familie geflüchtet, weil ich Weihnachten wie immer allein verbringen wollte. Aber jetzt bin ich froh, dass du hier bist.«
Corey fuhr so plötzlich zu ihm herum, dass er einen Schritt rückwärts machte.
»Bitte lass mich noch ein paar Tage hierbleiben!«, stieß Corey hervor. »Bitte! Ich werde auch kein Bier mehr trinken und nichts mehr essen und nicht mehr red... naja. Das werde ich nicht schaffen. Aber ich werde weniger reden. Viel weniger. Nur noch das Wichtigste. Es ist nur ... ich will nicht zurück ins Tal. Da unten ist alles Scheiße und ich bin noch nicht bereit dazu, Tanner zu begegnen. Und Victor, dem Fruchtbaren. Ja, klar, irgendwann muss ich mich ihm stellen und das werde ich auch, aber ich brauche noch ein paar Tage Pause. Bitte, lass mich hierbleiben!«
Corey schnappte nach Luft und sah Raul so flehentlich an, dass sich seine Brust zusammenkrampfte. Raul räusperte sich. »Nur noch das Wichtigste also?«
Corey nickte eifrig, ein Hoffnungsschimmer glomm in seinen Augen auf.
»Hm.« Raul rieb sich das Kinn, geriet ins Stocken, weil die gewohnten rauen Stoppeln fehlten. »Na schön. Aber unter einer Bedingung.«
O nein. Das hätte er nicht sagen sollen. Zu spät erkannte er seinen Fehler, doch da konnte er die Worte nicht mehr zurücknehmen. Misstrauen legte sich wie ein Schleier über Coreys Blick und sein Gesicht verschloss sich. »Was denn?«, fragte er mit kippender Stimme.
»Dass du weiterhin isst. Ich koche nämlich sehr gerne für dich«, sagte Raul und kam sich unsagbar gedankenlos vor. Natürlich musste Corey annehmen, dass er sexuelle Gefälligkeiten von ihm verlangen würde. So lief das mit Alphas und Omegas. Jedenfalls wohl leider in der Welt, wie Corey und die meisten Menschen sie kannten. Er suchte nach dem erlösenden Ausdruck von Erleichterung in Coreys Miene und fand ... Enttäuschung? Das konnte nicht sein.
»Ah. Ach so«, sagte Corey und errötete. »Das ... dürfte kein Problem sein.«
Traute er ihm nicht? Dachte er, dass Raul sich wegen seiner abwehrenden Reaktion rausreden wollte?
»Corey«, sagte er. Er mochte es, wie Coreys Name auf seiner Zunge schmeckte. Er mochte es, wie Coreys Augen aufleuchteten, wenn er ihn aussprach. »Du kennst mich nicht und ich verstehe, dass du mir nicht vertraust. Aber ich verspreche dir, dass ich dich nicht anrühren werde.«
Das Leuchten verschwand. Corey senkte den Blick und rieb mit seinen Zehen auf dem Teppich herum. »Ja. Danke? Zur Not habe ich ja noch die Signalpistole.«
Das klang mehr als nur ein wenig sarkastisch. Raul bekam mehr und mehr das Gefühl, dass er hier etwas nicht verstand. Er war zu lange allein gewesen. Wusste nicht mehr, wie man mit Menschen umging. Darin war er sowieso nie sonderlich gut gewesen. Nur Mick hatte das nie gestört. Auch ihn hatte Raul oft nicht verstanden und er konnte gar nicht zählen, wie oft er Mick ohne Absicht verletzt hatte. Doch Mick hatte ihm immer verziehen, ihm erklärt, was schiefgelaufen war. Hatte gewusst, dass Raul ihm niemals mit Absicht weh getan hätte. Genauso wenig, wie er nun Corey verletzen wollte.
Doch Corey wusste das nicht. Konnte es nicht wissen.
Raul wusste nicht, wie er es ihm erklären sollte. Ob das überhaupt möglich war. Eine Weile stand er da und suchte nach Worten, während Corey sein Deckenlager sortierte, ohne ihn anzusehen.
»Ich geh dann mal spülen«, sagte er.