15. Kapitel – Corey
Corey zitterte vor Anspannung. Alles in ihm drängte danach, Raul zu berühren. Ihn zu spüren. Seinen Duft einzuatmen. Doch er durfte nichts davon tun. Das hatte Raul ihm eben nur allzu deutlich zu verstehen gegeben. Ob es nun daran lag, dass er viel zu sehr an Mick hing oder ob er Corey einfach nicht attraktiv fand - das Ergebnis war dasselbe. Er hatte Corey abgewiesen.
Peinlicherweise war ihm auch noch aufgefallen, dass Corey ihn falsch verstanden hatte. Ja, zugegeben, Corey war von seiner Nähe ausreichend benebelt gewesen, um diese Sache mit der Bedingung als Einladung auszulegen. Wie hatte er nur so falsch liegen können! War er wirklich so schlecht darin, das Verhalten eines Alphas zu deuten? Ein paar Sekunden hatte er sich eingebildet, dass Raul deutliche Signale aussendete, nur um kurz darauf festzustellen, dass er sich nicht schlimmer hätte täuschen können. Und Raul hatte es bemerkt. Wie unangenehm musste es für ihn sein, dass sich ein Omega, dem er nicht mal ausweichen konnte, an ihn heranmachte. Je länger Corey darüber nachdachte, desto mehr schämte er sich. So war er doch gar nicht!
Oder doch?
Er kannte sich selbst nicht mehr. Aber war das wirklich nur sexuelle Anziehung, die ihn so unwiderstehlich zu Raul trieb? Schließlich hatte er anfangs nichts davon gespürt. Erst, nachdem er Raul kennengelernt hatte. Er wusste jetzt, was für ein humorvoller, freundlicher, großherziger und einfühlsamer Mann hinter der ruppigen Fassade steckte. Anfangs war Raul überhaupt nicht anziehend für ihn gewesen, er hatte sich ja nicht mal wohl gefühlt in seiner Gegenwart. Doch jetzt ...
... konnte er nur noch daran denken, wie sehr er sich wünschte, ihn zu küssen, von ihm geküsst zu werden, ihm nahe zu sein.
Diesmal drängte er die aufsteigenden Erinnerungen an Tanner nicht zurück, sondern umarmte sie. Tanner war es doch, dem sein Herz gehörte. Naja, gehört hatte, bis Tanner es gebrochen hatte. Unsicher horchte er in sich hinein. Da war Schmerz, Enttäuschung über Tanners Verhalten, Ärger darüber, dass er so lange nicht hatte sehen wollen, was ihre Beziehung wirklich darstellte. Er hatte nicht Tanner geliebt, sondern die Vorstellung, die er sich von ihm gemacht hatte. Er war verliebt gewesen in eine Zukunftsvision, in der er an Tanners Seite Teil einer glücklichen großen Familie geworden wäre. Ja, einer reichen Familie, aber das war ihm nie wichtig gewesen.
Raul klapperte beim Spülen mit dem Geschirr und Corey schielte zu ihm hinüber. Eigentlich sollte er ihm helfen, aber er brachte es nicht über sich, zu ihm zu gehen. Er müsste so dicht neben ihm stehen, dass ihm wieder sein verlockender Duft in die Nase steigen würde und er fürchtete sich davor, endgültig die Beherrschung zu verlieren. Er hatte sich schon genug blamiert.
Die an ihm nagende Scham wurde allzu rasch von glühender Sehnsucht verdrängt. Er schaffte es nicht, den Blick von Raul abzuwenden. Hilflos starrte er auf seine langen Beine, die breiten Schultern. Raul hatte fürs Spülen die Ärmel seines Shirts bis über die Ellenbogen hochgeschoben und das Muskelspiel an seinen Unterarmen, als er die Pfanne abtrocknete, brachte Coreys Herz zum Rasen. Hitze ballte sich in seinem Bauch zusammen.
Tanner. Er musste an Tanner denken. Doch ihm fiel lediglich auf, dass sein Körper niemals so auf Tanners Nähe reagiert hatte. Er hatte gerne Sex mit ihm gehabt, es genossen, bei ihm zu sein, aber er hatte nie dieses tiefe Begehren verspürt wie jetzt, als er beobachtete, wie Raul sich mit einer lässigen Kopfbewegung eine Haarsträhne aus der Stirn schleuderte und sich bückte, um die Pfanne in einer Kiste zu verstauen. Die weite Jogginghose straffte sich über seinem Hintern und Corey wusste, er sollte wegsehen, doch er konnte nicht. Wie festgelötet blieb sein Blick an Rauls verführerischer Rückansicht kleben. Peinlich berührt merkte er, dass sein Atem stoßweise kam und sein Gesicht glühte. Da half kein Leugnen, er begehrte diesen Mann. So sehr, wie noch nie einen Alpha zuvor. Kein Grund, verlegen zu sein. Nur, dass sein unerwarteter Ausbruch von Leidenschaft hier und jetzt völlig unangebracht war. Vor allem, weil Raul ihn nicht wollte.
Der bittere Geschmack der Zurückweisung brannte auf Coreys Zunge und konnte auch von den Resten des Ahornsirups nicht verdrängt werden. Vielleicht war es doch besser, wenn er so schnell wie möglich ins Tal zurückkehrte. Diese Station, und damit Raul, verließ. Doch allein der Gedanke, Raul nie wiederzusehen, jagte ihm einen Stich durch die Brust, der ihn nach Luft schnappen ließ. Lieber setzte er alles daran, sich zu beherrschen, um noch ein paar kostbare Stunden, mit Glück Tage, an seiner Seite verbringen zu dürfen. Und vielleicht ... nur vielleicht ... fand Raul ja doch noch Gefallen an ihm. In einem Liebesroman wäre das so. Nur war Coreys Leben leider kein Liebesroman.
Immer noch völlig versunken in Rauls Anblick hätte er fast verpasst, was der tat. Er zog sich nämlich seine Jacke und Stiefel an.
»Was hast du vor?«, fragte Corey alarmiert.
»Werd doch mal nach dem Lift sehen«, brummte Raul. »Es hat aufgehört zu schneien.«
Corey sprang auf. War es das? Hatte er vorhin alles verdorben? Wollte Raul ihn nun doch loswerden? Verdenken könnte er es ihm nicht ...
Raul sah ihn endlich an. Der durchdringende Blick ließ Coreys Atem stocken. »Hab doch gesagt, dass du bleiben kannst.«
Erleichtert stieß Corey die Luft aus. Oder hatte Raul doch nichts bemerkt? »Kann ich dir helfen?«
»Hm.« Raul kratzte sich am Kinn, musterte Corey forschend, als wollte er seine Kältetauglichkeit einschätzen. »Gut, aber du musst dir wärmere Sachen anziehen. Ich such dir was raus.«
Während Raul in seinen Reisetaschen herumwühlte ertappte sich Corey bei dem Gedanken, dass ihm das Gegenteil von Rauls Bemühungen viel lieber wäre. Er wünschte sich, dass Raul ihn auszog, und nicht an! Doch natürlich schlüpfte er gehorsam in einen dicken Pullover und zog die warme Jacke an, die Raul ihm gab.
»Handschuhe stecken in den Taschen. Und hier noch ...« Raul trat an ihn heran und einen seligen Moment bildete sich Corey ein, er würde ihn nun doch küssen. Nahe genug stand er vor ihm. Mit klopfendem Herzen sah Corey zu ihm auf. Er war groß. Und von nahem sah er einfach wundervoll aus. Schneekönig.
Raul wickelte einen Schal um Coreys Hals und setzte ihm tatsächlich auch noch eine Fellmütze mit Ohrenklappen auf den Kopf.
»Ist das wirklich nötig?«, fragte Corey. Seine Stimme klang seltsam rau und er konnte den Blick mal wieder nicht von Raul lösen, sah in seine sanften Augen.
»Hm«, brummte Raul. Um seine Lippen spielte ein Lächeln, das sah Corey, und auch, dass Raul versuchte, es zu verbergen. »Schließlich sollen dir deine Ohren nicht abfrieren. Und du siehst wirklich gut aus so.« Nun grinste er doch und seine Augen blitzten schelmisch auf.
Corey schmolz dahin. Seine Knie verwandelten sich in Pudding und um ein Haar wäre er mit einem sehnsüchtigen Seufzen an Rauls Brust gesunken.
Rasch trat Raul einen Schritt zurück und räusperte sich. »Ich hole den Werkzeugkasten.«
Draußen war es kalt. Richtig kalt. Jede Stelle Haut, die nicht von Stoff bedeckt war, fing erst an zu schmerzen und wurde dann unangenehm taub. Also, Coreys Nase und Wangen. Sonst war er so dick eingepackt, dass er sich vorkam wie das Michelin-Männchen. Raul hatte ihn auch noch mit einer Sonnenbrille ausgestattet, trotzdem tränten seine Augen von der gleißenden Helligkeit. Der blendend weiße Schnee reflektierte die Sonnenstrahlen. Halbblind stolperte Corey hinter Raul her zu der Liftkabine, die wie ein vergessenes Riesenspielzeug unter dem überdachten Stationsbahnsteig hing. Bei dem Anblick fiel Corey wieder ein, wie er hinter dem verschrammten Fenster gekauert hatte und mitansehen musste, wie Tanner Victor küsste. Hatte er das mit Absicht gemacht, um Corey zu zeigen, was wirklich los war? Nachdem er ihm kurz vorher noch beteuert hatte, dass sich gar nichts ändern müsste ... Ha!
Corey trat in den Schnee. Er stob in einer Fontäne hoch, funkelte in der Sonne. Schön! Corey trat gleich noch mal zu, stampfte und tanzte im wadentiefen Schnee herum und schwenkte aus einem Impuls heraus die Arme. Um ihn herum flirrte und staubte es, kalte Flocken trafen ihn im Gesicht, doch das störte ihn nicht, im Gegenteil. Vielleicht hätte er seit seinem letzten eher unrühmlichen Erlebnis, eigentlich sogar einer Nahtoderfahrung, nicht so viel Freude an Schnee haben sollen. Aber Raul war ja bei ihm und ...
... ihm konnte nichts passieren. Außer, dass er sich fürchterlich blamierte.
Corey ließ die Arme sinken, blinzelte ein paar Schneeflocken aus den Wimpern und hielt Ausschau nach Raul. Der stand neben der Liftkabine, die Werkzeugkiste hatte er abgestellt, und starrte Corey an. Auch von seinem Gesicht war kaum etwas zu sehen mit der Kapuze und der Sonnenbrille, doch Corey konnte sich nur zu gut vorstellen, was er von ihm dachte. Dass er sich einen total lächerlichen und albernen Omega in seine Station geholt hatte. Denn genau genommen hatte er das ja. Er hatte den Lift in Bewegung gesetzt. Und darüber war Corey froh. So froh, dass ihm die Blamage nichts mehr ausmachte. Er lachte nur und schlitterte auf Raul zu, kam leider nicht rechtzeitig zum Stehen und wollte sich an der Kabine abstützen, doch Raul breitete die Arme aus und fing ihn auf, als wäre er ein kleines Kind. Kannte er sicher von seinen Neffen.
Statt ihn sofort wieder loszulassen, hielt er ihn fest. Auch Corey hatte es nicht eilig. Er hielt sich an seinen Oberarmen fest, was mit seinen dicken Handschuhen nicht ganz leicht war, und schaute zu ihm auf, in sein markantes Schneekönig-Gesicht.
Raul grinste. »Was war denn das? Ein Freudentanz?«
»Ja!«, rief Corey. »Es ist so schön hier oben! Danke, dass ich bleiben darf.«
Das Grinsen verschwand. »Natürlich darfst du bleiben«, sagte er rau. »Solange du willst.«
»Für immer?«, fragte Corey scherzhaft.
Doch Raul nickte. Er ließ Corey los und wandte sich ab, beugte sich über den Werkzeugkasten und räusperte sich. »Dann fangen wir mal an. Sonst müssen wir wirklich für immer hierbleiben.«
»Aber ... wir können zu Fuß ins Tal, oder? Du bist zu Fuß hochgekommen. Es gibt hier doch Skipisten.«
»Ja, stimmt. Hast du deine Skier mitgebracht?«
»Oh! Ach so. Nein. Ich dachte, es gibt vielleicht Leihskier in der Station.«
Raul sah von dem Werkzeugkasten auf und musterte ihn. Wegen der Sonnenbrille konnte Corey leider seine Augen nicht sehen, was er sehr schade fand. »Könnte sein. Wie gut bist du? Traust du dir eine Abfahrt im Tiefschnee zu?«
»Nein«, gab Corey zu. »Ich bin eher Team Anfängerhügel im Tal.«
»Ist sowieso zu gefährlich. So, mal sehen.«
Raul begann, die Tür der Liftkabine zu untersuchen. Im Inneren der Kabine hatte sich ziemlich viel Schnee aufgetürmt. Corey wollte hineinklettern und ihn hinausschaufeln, doch Raul legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück.
»Lass das lieber. Ich weiß noch nicht genau, was mit dieser Tür nicht stimmt. Du willst doch nicht, dass die plötzlich zugeht, wenn du da drin bist.«
»Du würdest mich rausholen.«
Dass Raul die Brauen hob konnte Corey trotz Kapuze und Sonnenbrille sehen. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher! Bist du eigentlich ... Mechaniker oder sonst irgendein Handwerker? Das sieht echt profimäßig aus, was du da machst.«
»Bisher habe ich nur mit einem Hammer gegen die Scharniere geschlagen. Aus deinem Kommentar schließe ich daher, dass du kein Handwerker bist«, erwiderte Raul trocken. »Ich bin gelernter Schlosser, habe auch noch eine Ausbildung zum Elektroinstallateur gemacht, aber gearbeitet habe ich als Schlosser.«
»Und jetzt braust du Bier.«
»Das ist nur ein Hobby. Ich arbeite in einem Getränkehandel. Ab und zu bin ich auch hier oben an der Liftstation, aber das hast du dir sicher schon gedacht.«
»Ja, sonst wärst du nicht reingekommen. Tut mir leid, dass ich anfangs dachte, du wärst hier eingebrochen. Und du hast unten irgendetwas kurzgeschlossen.«
»So ähnlich.«
Corey fiel etwas ein, was ihn sofort beunruhigte. »Wird das jemand reparieren und hier hochfahren?«
»Nein. Da kommt bis nächstes Jahr niemand hin. Die Kabinen sind zur Wartung abgeholt worden. Es gibt nur die eine hier.«
Corey atmete auf. Es hätte natürlich sein können, dass Tanner darauf bestand, den Lift in Betrieb zu setzen. Schließlich wusste er ja nicht, was aus Corey geworden war. Es hätte sogar sein können, dass er in der Kabine eingesperrt gewesen wäre.
Dann wäre er jetzt tot.
Und Tanner hatte nichts unternommen. Es einfach in Kauf genommen.
Ein hohles Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus und in seinen Ohren rauschte es. »Es war ihm egal«, flüsterte er. »Ich war ihm egal.«
Das hatte er eigentlich schon gewusst, doch nun wurde ihm bewusst, dass Tanner sogar seinen Tod in Kauf nahm, nur um ihre Affäre nicht auffliegen zu lassen.
»Corey?«
Rauls Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart. Raul hatte die Sonnenbrille abgenommen und in seinen whiskyfarbenen Augen, die an diesem Morgen die Farbe von Bernstein hatten, lag so viel Wärme und Sorge, dass Coreys Knie anfingen zu zittern und der Hohlraum in seinem Inneren von fluffiger Hitze erfüllt wurde. Er machte einen Schritt auf Raul zu, stand so dicht vor ihm, dass er das eingewachsene Barthaar auf seiner Wange sehen konnte und den roten Pickel daneben. Die geschwungenen Lippen.
Und er küsste ihn.