17. Kapitel – Corey
Corey starrte fassungslos auf das Gerät im Schrank. Raul erzählte ihm nun schon seit mehreren Minuten, wie man es bediente, doch er hätte genauso gut ein chinesisches Märchenbuch in Originalsprache vorlesen können, so wenig verstand Corey. Er nahm Rauls Stimme nur als Hintergrundrauschen seiner rasenden Gedanken wahr.
Ein Funkgerät. Es war also die ganze Zeit möglich gewesen, Kontakt zum Tal aufzunehmen. Oder, umgekehrt, mit dieser Station. Die gehörte Herrn von Straatenfeld, also wusste er auch, wie das ging. Doch es war kein Anruf eingegangen.
Raul redete immer noch und Corey hob entnervt die Hand. »Stopp mal! Du hättest also die ganze Zeit Hilfe rufen können?«
Raul runzelte die Stirn. »Das schon, aber es hätte nichts gebracht. Bei dem Schneesturm hätte niemand hier hochkommen können. Kein Rettungshubschrauber, kein Schneemobil ...«
Das verstand Corey. »Ich hätte aber Bescheid sagen müssen. Dass ich hier in Sicherheit bin.«
»Wem denn? Diesem Tanner, dem das offenbar scheißegal ist?«
»Ja«, flüsterte Corey. Es tat weh, es aus Rauls Mund zu hören, doch es stimmte ja leider.
»Jetzt hör mal zu, Corey. Wenn Tanner sich Sorgen gemacht hätte, dann hätte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Liftstation hier oben zu erreichen. Sein Vater weiß, was zu tun ist. Die Station gehört ihm. Es wäre kein Problem gewesen, uns hier anzufunken, es sei denn, die Verbindung war durch den Sturm gestört, aber jetzt funktioniert sie zumindest einwandfrei. Du kannst also davon ausgehen, dass Tanner ...« Er fuhr sich durch das Haar. »... dass er dachte, du bist in Sicherheit.«
Corey wusste, dass Raul von etwas ganz anderem ausging. Und damit lag er vermutlich richtig. Es war Tanner egal gewesen. Corey war Tanner egal.
»Willst du es jetzt benutzen?«, fragte Raul barsch.
Wollte er? Was sollte er sagen? Hallo, es interessiert dich zwar nicht, aber ich lebe noch.
»Nein.«
Raul klappte den Schrank zu. »Es ist für Notfälle. Ich hab dir das nur gezeigt, damit du jemanden kontaktieren kannst, wenn mir was passiert.«
Coreys Magen krampfte sich zusammen. Vorhin hatte Raul wirklich schlecht ausgesehen. Kreidebleich, kalter Schweiß auf seiner Stirn. War das nur eine Trauerreaktion gewesen oder noch was anderes? Corey wusste nicht, ob Raul womöglich krank war, ein schwaches Herz hatte oder ...
»Nimmst du deine Medikamente?«, fragte er.
Raul musterte ihn irritiert, die Brauen zusammengezogen. »Was für Medikamente?«
»Weiß ich doch nicht. Gegen Bluthochdruck oder so.«
»Ach!« Raul verschränkte die Arme. »Klar. In meinem Alter muss man ja ein ganzes Arsenal an Medikamenten mit sich herumschleppen, um überhaupt noch lebensfähig zu sein, oder was?«
»Du bist ganz schön empfindlich, was dein Alter angeht«, stellte Corey fest.
Raul gab lediglich ein Grollen von sich. Sexy. Corey verkniff sich ein Lächeln. Er mochte den alten Brummbär, den Schneekönig, den ...
... wundervollsten Mann der Welt.
Auf einmal kam ihm alles so leicht vor. Er wusste jetzt, was er wollte. Wen er wollte. Raul! Und das lag keinesfalls daran, dass er sich von Tanner ablenken wollte. Das Schicksal hatte ihn zu Raul geführt und er würde ihn nicht so leicht aufgeben. Immerhin hatte er ihn gefunden. Diese Erkenntnis zauberte ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Er merkte, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten und er konnte doch nichts dagegen tun, als Raul anzustrahlen.
»Findest du wohl komisch?«, erkundigte sich Raul kühl, doch um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.
Wenn Corey eins über ihn herausgefunden hatte, dann, dass er gar nicht so brummelig und grummelig war, wie er sich manchmal gab.
»Ein bisschen«, gab er zu. »Denn du hast keinen Grund dazu.«
»Nimmst du denn Medikamente?«
Corey kam sich vor, als wäre er von Wolke sieben auf harten Asphalt geknallt. »Nein«, sagte er steif und wandte sich ab. »Ich brauche keine Hitzeblocker, wenn du darauf anspielst.«
»Was?«, hörte er Raul entsetzt ausrufen und begriff, dass er mal wieder etwas in seinen Kommentar interpretiert hatte, was in seinen Komplexen begründet lag.
»Das meinte ich überhaupt nicht«, fuhr Raul fort. »Und das geht mich auch gar nichts an.«
»Ich wünschte, das würde es«, flüsterte Corey, so leise, dass Raul es unmöglich hören konnte. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass Raul sich dicht neben ihn gestellt hatte.
»Wie meinst du das?«, fragte er so sanft, dass Corey fast die Tränen kamen.
»Wenn du auch nur eine Spur Interesse an mir hättest, wenn dir ein kleines bisschen an mir liegen würde, dann würde es dich doch wohl interessieren, ob ich ... Kinder bekommen kann.«
»Äh, was?«
Corey schielte zu Raul hoch, der aussah, als wäre er auch soeben aus allen Wolken gefallen.
»Verstehe«, sagte Corey. Scham ließ sein Gesicht glühen. »Dir ging es wenn überhaupt nur um Sex, um einen One Night Stand hier oben in den Bergen, ohne ... ich bin mal wieder so naiv.«
»Nein! Ich meine ... ach du Scheiße.« Raul fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, raufte es. »Natürlich liegt mir was an dir! Ich bin nur ... ich muss mich daran gewöhnen. Gib mir ein bisschen Zeit, ja? Bevor du von Kindern redest und so.«
Er sah so ehrlich verzweifelt aus, dass Corey sich noch mehr schämte. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte er hastig. »Ich war nur mal wieder voreilig. Natürlich interessiert dich das alles nicht. Es ist nur ein wunder Punkt bei mir. So ähnlich wie bei dir die Sache mit dem Alter. Ich war nämlich noch nie in Hitze. Laut den Ärzten wird das wohl auch nicht mehr passieren. Ich bin unfruchtbar.«
So, nun war es raus, und, wie Corey unschwer an Rauls überfordertem Gesicht ablesen konnte, zu viel Information. Ungebetene Information. Aber besser, er klärte das sofort. Denn wenn es daran scheitern sollte, dann gab er lieber doch die Hoffnung auf, denn daran konnte er nichts ändern.
»Das geht mir alles zu schnell«, ächzte Raul. Er war wieder so blass. »Ehrlich gesagt fühl ich mich gerade, als hätte mich ein Schneepflug überfahren.«
Corey kämpfte gegen den Wunsch an, ihn zu umarmen, sich an ihn zu lehnen und ihm zu sagen, dass er ihm alle Zeit der Welt lassen würde, wenn er ihm nur eine Chance gab, doch er spürte, dass er Raul damit jetzt nur noch mehr überfordern würde.
»Auszeit?«, schlug er vor.
Raul nickte. »Ich schätze mal, dies ist der Moment, in dem ich für gewöhnlich flüchten würde.« Er grinste schief. »Da das hier nicht geht ... muss ich mich wohl das erste Mal in meinem Leben einer Situation stellen, in der ich mich äußerst unwohl fühle.«
»Das passiert garantiert nicht das erste Mal in deinem Leben.« Reumütig zog Corey die Schultern hoch. »Es tut mir leid, dass ich dich in diese Situation gebracht habe. Ich bin manchmal zu voreilig. Aber ... für mich fühlt sich das so richtig an, das mit dir, und als wir uns vorhin geküsst haben, da ...« Seine Stimme erstarb.
»Wir brauchen beide Zeit«, sagte Raul, so langsam und vorsichtig, als tastete er sich über dünnes Eis. »Sag jetzt lieber nichts, was du später bereust.«
Corey wollte schon etwas Scharfes erwidern, presste dann aber die Lippen aufeinander und nickte. Raul glaubte ihm nicht. Wie sollte er? An diesem Morgen war er noch davon ausgegangen, dass sich Corey vor ihm fürchtete. Da war es wohl klar, dass Coreys halbe Liebeserklärung ihm nun mehr als seltsam vorkam.
»Ich setzte mich jetzt hier hin und lese«, verkündete Corey. »Und wie versprochen werde ich nichts sagen, und du tust, als wäre ich nicht da.«
»Nichts leichter als das«, sagte Raul sarkastisch. »Und du tust so, als wäre ich nicht da. Großartig.«
»Finde ich auch«, sagte Corey fest und zeigte auf den Sessel. »Mein Angebot gilt übrigens noch, du kannst den Sessel nehmen. Ich sitze auch gerne auf dem Boden.«
»Nein, ich setze mich an den Tisch. Und jetzt - Sendepause.«
Raul stapfte davon und Corey drehte den Sessel so, dass er den Tisch, und damit Raul, nicht sehen konnte. Er kam sich reichlich albern dabei vor, aber schließlich war er Schuld an diesem Desaster. Warum hatte er mal wieder die Klappe nicht halten können?
Irgendwann merkte er, dass er die Seite 123 im Thriller zum bestimmt zehnten Mal gelesen hatte und doch nicht wusste, was da stand. Ein leises Klickern drang an sein Ohr und er umklammerte sein Buch fester. Nein, er würde sich nicht umdrehen und nachschauen, was Raul da machte. Oder ... nur kurz einen Blick riskieren. Das würde Raul gar nicht merken, also galt das nicht. Langsam, beiläufig drehte er den Kopf ein wenig, schaute aus dem Fenster. Es schneite wieder. Er schielte nach rechts, bis ihm die Augen wehtaten, konnte aber nur eine Ecke des Tischs sehen. Ach, das war doch lächerlich! Er drehte sich so weit um, dass er Raul sehen konnte. Sein Schneekönig saß am Tisch, über ein Laptop gebeugt, und tippte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck äußerster Konzentration.
Coreys Herz flog ihm zu. Er konnte sich so gut vorstellen, genau diese Situation öfter zu erleben. Naja, vielleicht nicht haargenau so. Nicht mit einem überrumpelten Raul und der erzwungenen Sendepause. Aber doch so ähnlich. Er mit einem Buch, und Raul schreibend am Laptop ... am besten noch eine Katze oder ein Hund, der sich zu Rauls Füßen ausstreckte oder auf Coreys Schoß lag ...
Neugier störte Coreys idyllische Fantasie. Was schrieb Raul da? Machte er, ganz Streber, schon die Steuererklärung des vergangenen Jahres? Oder schrieb er Mails?
»Gibt es hier Internetempfang?«, fragte Corey.
Raul hob langsam den Kopf. Er sah nicht wütend über die Störung aus, nur desorientiert, als würde er aus einem Traum erwachen und nicht wissen, wo er sich befand. Sein Blick wurde klar. »Nein. Zum Glück nicht. Sonst müsste ich mich vermutlich mit hundert Sprachnachrichten von Abby herumärgern.«
»Sie macht sich vermutlich Sorgen. Sie wird sich fragen, wo du bist.«
Raul schnaubte, doch er sah auch ein wenig schuldbewusst aus. »Wenn sie vernünftig ist, dann ist sie gar nicht erst losgefahren und hat nicht gemerkt, dass ich nicht zu Hause bin. Und falls doch ... bin mir nicht sicher, ob sie nicht nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen will.«
»Hat sie denn Grund für ein schlechtes Gewissen?«
Raul rieb sich das Kinn. Er schien tatsächlich über die Frage nachzudenken. »Nein. Oder ... wohl doch, aber den habe ich genauso. Ich hab sie zu oft zurückgestoßen und irgendwann hat sie aufgegeben. Da kann ich ihr keinen Vorwurf machen.«
»Machst du aber.«
Raul zuckte zusammen und Corey wollte sich schon entschuldigen, doch stattdessen verschränkte er die Arme und sah Raul herausfordernd an. Er hatte keine Angst mehr. »Ist doch so. Du hast zumindest mehr von ihr erwartet und bist enttäuscht, weil sie dich hängengelassen hat.«
»Ich bin ein erwachsener Mann«, sagte Raul abwehrend. »Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert.«
»Zwischen jemanden brauchen und sich jemanden wünschen besteht ein Unterschied.«
»Hilfe, ich hab mir einen klugscheißenden Lebensberater ins Haus geholt«, murrte Raul.
Corey beschloss, das Thema zu wechseln, und außerdem war er nun wirklich neugierig. »Was schreibst du da? Falls es kein Geheimnis ist ...«
Raul wurde rot! Und zwar so richtig! Verzückt konnte Corey den Blick nicht von ihm wenden. Sein süßer Schneekönig! Sein Knuddelyeti!
»Ähem«, machte Raul und starrte auf sein Laptop, als könnte er es allein dadurch dazu bringen, zu verschwinden. »Ich schreibe was.«
»Ja, das ist mir schon klar.«
»Also ... einen Roman.« Er musterte Corey finster, als erwartete er sogleich herbe Kritik. »Einen Thriller«, fügte er scharf hinzu.
»Oh!« Corey wusste, er durfte jetzt nichts Falsches sagen, wenn er es sich nicht endgültig mit Raul verscherzen wolte. »Das ist ... großartig.« Er meinte das ernst. Er bewunderte jeden, der es schaffte, ein ganzes Buch zu schreiben. Und dann noch so etwas kompliziertes wie einen Thriller! Da kam er ja schon beim Lesen kaum mit. Offenbar zeigte sich seine ehrliche Bewunderung in seiner Miene, denn Raul lehnte sich zurück und seine Schultern sanken nach unten. Er lächelte sogar ein bisschen.
»Ja, nun kennst du mein dunkles Geheimnis. Ich hab nämlich schon immer davon geträumt, einen Thriller zu verfassen und auch mehrere Anläufe gestartet, bin aber nie sonderlich weit gekommen. Den Aufenthalt hier oben wollte ich nutzen, um meine Autorenkarriere voranzutreiben.«
Die Ironie in seinen Worten konnte nicht verdecken, dass es ihm ernst war mit seinem Plan. Sein Herz hing an diesem Thriller, das spürte Corey. »Du schreibst jedenfalls das, was du selbst gerne liest«, stellte er fest. »Das ist bestimmt gut.«
Raul runzelte die Stirn. »Du bist echt so eine Art Motivationscoach, oder? Ich dachte, du bist Verkäufer in einem Bioladen.«
Corey freute sich darüber, dass Raul sich das gemerkt hatte. »Wenn du Motivation gebrauchen kannst, werde ich mein Bestes geben.«
»Bitte nicht«, grummelte Raul. Er klappte den Laptop zu.
Reue nagte an Corey. »Nun hab ich deinen Schreibfluss gestört. Tut mir leid.«
»Ja, das sollte es auch.« Raul musterte ihn missmutig. »Was liest du denn eigentlich gerne? Thriller wohl kaum, oder?« Er deutete auf das Buch, das Corey in der Hand hielt, und da er einen Finger als Lesezeichen zwischen die Seiten geklemmt hatte, konnte Raul genau sehen, wie weit er bisher gekommen war. Nicht sehr weit, gemessen an der Lesezeit.
»Fachbücher«, sagte Corey prompt.
Raul hob die Brauen, sah ihn nur an.
Corey rutschte auf dem Sessel hin und her. »Naja ...« Seine Ohren wurden heiß. Raul hatte ihm eben seinen geheimen Wunschtraum verraten, da konnte er sich jetzt nicht lumpen lassen. »Könnte sein, dass ich ab und zu mal einen Liebesroman lese.«
»Ah.«
An Rauls Pokerface konnte Corey nicht ablesen, was er davon hielt. Er setzte noch einen drauf. »So richtig schnulzige, mit viel Geschmachte und Drama und einem kitschigen Happy End.« Trotzig sah er Raul an. »So, jetzt darfst du mich endgültig weltfremd nennen.«