20. Kapitel – Raul
Gar nichts war gut.
Raul rutschte zum bestimmt zehnten Mal der Schraubendreher ab und bohrte sich in seine Hand. Fluchend schleuderte er das Ding von sich, sank auf die Holzbank in der Liftkabine und rieb sich mit den Handflächen über das vereiste Gesicht. Die Kälte tat gut. Alles tat gut, was ihn nur irgendwie von dem Schmerz ablenken konnte, der in ihm tobte.
Er wusste nicht, was schlimmer war. Dass diese elende Liftkabine sich tatsächlich reparieren ließ und er zugesagt hatte, am nächsten Tag ins Tal zu fahren, oder dass Tanner sich doch als treusorgender Alpha erwiesen hatte, der Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um herauszufinden, ob es Corey gut ging. Soviel hatte er nämlich von Kenneth erfahren. Es war nicht der alte von Straatenfeld selbst gewesen, der ihn dazu aufgefordert hatte, auf der Station anzurufen, sondern Tanner. Ein reichlich aufgelöster, besorgter Tanner, wie Kenneth berichtet hatte. Der alte von Straatenfeld hatte wohl erst Kenneths Kontaktnummer nicht herausrücken wollen, weil er keine Anzeichen für einen Notfall und somit auch keinen Grund für die Verwendung des Funkgeräts sah, doch Tanner hatte nicht locker gelassen.
Nun ja, der Alte hatte recht gehabt. Es gab keinen Notfall, Corey ging es gut und sie hätten es gut und gerne noch ein paar Tage hier oben ausgehalten. Doch nun war der werte Herr von Straatenfeld wohl zu genervt, sowohl von der Quengelei seines Sohnes als auch von der Tatsache, dass sich Raul es hier oben ohne seine Erlaubnis gemütlich eingerichtet hatte und bestand darauf, dass Raul so schnell wie möglich ins Tal fuhr und sich umgehend bei ihm meldete.
Würde er nicht. Er redete nicht mit dem Kerl. Dazu konnte ihn niemand zwingen. Wenn von Straatenfeld ihn nicht mehr als Ersatzkraft für die Liftstation wollte, sollte es ihm recht sein. Deshalb machte er sich keine Sorgen. Dafür nagte es umso mehr an ihm, dass seine Tage hier oben gezählt waren. Die Tage mit Corey, die sich auf quasi null reduziert hatten.
Aber was hatte er sich denn erhofft? Für sie beide war es bestimmt besser, wenn sie sich so schnell wie möglich trennten, bevor sie noch etwas taten, was ihnen später, im Tal, nur leidtun würde. Auch wenn der Schmerz ihn nun beinahe in die Knie zwang. Wie war das möglich? Er kannte Corey doch gar nicht. Hatte ihn vor wenigen Tagen das erste Mal gesehen. Wie hatte dieser Blondschopf mit dem lieben Lächeln es nur geschafft, sich so schnell in sein Herz zu stehlen? Ein Herz, das nur wegen der Erinnerungen an Mick und Chester überhaupt noch geschlagen hatte, statt völlig zu Eis zu erstarren.
Bei dem Gedanken, dass Corey zurück zu Tanner gehen würde, drehte sich ihm der Magen um. Natürlich würde Corey das tun. Er liebte dieses Arschloch. Obwohl sich Raul nicht gerade als Experte in solchen Dingen bezeichnen würde, wusste sogar er, dass sich Liebe nicht objektiv begründen ließ oder sich an Regeln hielt. Vielleicht, nur vielleicht, hätte Coreys Selbsterhaltungstrieb gewonnen, wenn Tanner ihn wirklich hier oben dem Tod überlassen hatte. Aber nun, da er wusste, dass Tanner sich die ganze Zeit um ihn gesorgt hatte, lag die Sache völlig anders. Das hatten Coreys Tränen der Erleichterung vorhin doch bewiesen.
Raul knirschte mit den Zähnen und sammelte den Schraubendreher wieder auf. Er hätte doch sowieso keine Chance bei jemandem wie Corey gehabt. Er, ein verbitterter, alter Sack, der auch nach Jahren nicht über den Tod von Mann und Sohn hinweggekommen war und das Leben eines Einsiedlers führte, und Corey, fröhlich und lebhaft, und so jung ... der konnte doch mit einem Kerl wie Raul gar nichts anfangen, selbst wenn es kein Arschloch-Tanner geben würde.
Wenn er wenigstens Tanner den endgültigen Laufpass geben würde ... er verdiente wirklich etwas Besseres. Einen Alpha, der ihn liebte und bei dem er an erster Stelle stand, nicht nur als geheime Sexaffäre herhalten musste. Einen Alpha, der mit ihm Kinder adoptierte, der seine Träume und Wünsche respektierte, ihn unterstützte und alles tat, um ihn glücklich zu machen ...
Seine Sicht verschwamm und er rammte den Schraubendreher mit wütender Kraft in das vereiste Scharnier. Ein bunter Fleck näherte sich der Liftkabine und entpuppte sich als den dick eingemummelten Corey, der durch den Schnee auf ihn zustapfte. Hastig wischte er sich mit dem Handschuh über das Gesicht.
»Hey!«, sagte Corey und strahlte ihn an. Ein paar blonde Strähnen stahlen sich vorwitzig aus der Mütze und hingen ihm in die Augen. Diese wundervollen blauen, klaren, leuchtenden Augen. Raul konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand Corey weh tat, dass diese Augen sich mit Tränen füllten ...
»Ich hab mit Grace gesprochen. Danke!«
»Konntest du sie beruhigen?«
»Ja, doch. Herr von Straatenfeld hat das schon ganz gut hinbekommen.« Corey verzog das Gesicht. »Er war sicher, dass es mir hier oben bei dir gut geht. Vollkommen überzeugt war sie aber nicht. Es tut mir so leid, dass sie sich Sorgen machen musste.«
Raul widerstrebte es, Tanner zu erwähnen, aber er musste es tun. »Tanner hat sich auch Sorgen gemacht.«
»Ja, das ...« Corey starrte auf seine Stiefel. »Irgendwie sagt es schon ziemlich viel aus, dass ich ernsthaft angenommen habe, ich wäre ihm so egal, dass ihm mein Tod nichts ausmacht, oder?«
»Hmpf.«
»Vermutlich wollte er sowieso nur sein schlechtes Gewissen beruhigen. Schließlich hat er mich in die Liftkabine geschubst, damit er in Ruhe mit seinem fruchtbaren Verlobten rumknutschen konnte«, sagte Corey bitter, doch auch mit einem Anflug von Humor und er grinste sogar schief. »O Mann. Was für ein Mist. Irgendwann kann ich bestimmt darüber lachen. Und ...« Er sah zu Raul auf. »... ich muss Tanner sogar dankbar sein. Ohne sein unbedachtes Verhalten hätte ich dich ja nie kennengelernt.«
Ein Heizofen hätte Raul nicht mehr wärmen können als Coreys Worte. Seine Zunge fühlte sich seltsam schwer in seinem Mund an. »Also ... wird es keine Versöhnung geben?«
Corey schüttelte so heftig den Kopf, dass er fast seine Mütze verlor. »Nein! Natürlich nicht!« Seine Augen blitzten. Dann wurde sein feuriger Blick mit einem Mal sanft. Er trat näher an Raul heran, hob die behandschuhte Hand und legte sie sacht an Rauls Wange. »Hast du das ernsthaft gedacht? Nach allem, was ich dir gesagt habe?«
Ja, das hatte Raul gedacht. Was hätte er denn sonst denken sollen? Dass Corey tatsächlich sein Herz an ihn verloren hatte? Sobald er in sein altes Leben zurückgekehrt war, würde ihm dieses Abenteuer auf der einsamen, eingeschneiten Liftstation bald nur noch wie genau das vorkommen: Ein seltsames Abenteuer mit einem noch seltsameren Kerl, mit dem er ein paar Tage hatte verbringen müssen.
Seufzend betrachtete Corey die Liftkabine. »Du kannst sie wirklich reparieren?«
»Sie ist nicht kaputt. Nur etwas eingefroren«, murmelte Raul und wusste einen Moment nicht, ob er über sich oder den Lift sprach. »Ja, morgen fahren wir runter.«
»Du könntest nicht einfach behaupten, dass es zu gefährlich ist, sie zu benutzen?«, fragte Corey und sah so traurig aus, dass es Raul das Herz zerriss.
»Nein«, sagte er mit belegter Stimme. Damit würde er das Unvermeidliche nur hinauszögern, obwohl er für jede Sekunde dankbar war, die er noch mit Corey verbringen durfte.
»Na gut«, sagte Corey leise. »Dann ... machen wir eben das Beste draus.« Sein Lächeln geriet erneut reichlich schief. »Schließlich bleibt uns noch heute. Und die ganze Nacht.«
Da Raul mit den Vorräten nicht länger haushalten musste, kochte er ein wahres Festmahl. Corey half ihm, was an dem kurzen improvisierten Küchentresen nicht gerade einfach war, doch andererseits bescherte es ihnen Momente der Nähe. Beiläufige, wie zufällige Berührungen, wenn sie nebeneinander standen und Gemüse schnippelten. Jede davon brachte Rauls Herz zum Stolpern. Er versuchte, sich alles genau einzuprägen. Coreys vor Genuss verdrehte Augen, wenn er etwas von dem probierte, was Raul zubereitet hatte. Die Art, wie er Raul zwischendurch immer wieder verstohlen anschaute und lächelte, wenn sich ihre Blicke trafen. Der Schwung seiner Augenbrauen. Wie er konzentriert die Zunge zwischen die Zähne klemmte. Sein ungehemmtes Lachen. Die Farbe seiner Augen. Der Klang seiner Stimme.
All das würde Raul bewahren wie einen kostbaren Schatz, in der Truhe in seinem Herzen, in dem er auch die Erinnerungen an Mick und Chester verstaut hatte.
Sie ließen sich Zeit mit ihrem Fünfgängemenü, tranken diesmal sogar jeder zwei Flaschen Bier, und plauderten entspannt. Es war leicht, sich mit Corey zu unterhalten, wenn er nicht gerade darauf aus war, tiefgründige Fragen zu stellen. Er wanderte genau so gerne wie Raul und sie stellten fest, dass ihre Reisewunschlisten zum größten Teil übereinstimmten. Außerdem erzählte Corey von dem Kater, der früher bei ihm und seiner Tante gelebt hatte und leider vor einigen Jahren gestorben war.
»Ich hätte gerne wieder eine Katze, und am besten auch noch einen Hund«, gestand er. »Bist du eher Katzenmensch oder magst du Hunde lieber?«
»Beides. Ich hatte immer Hunde.« Raul erzählte Corey von ihnen und wunderte sich, warum er so viele Jahre ohne Hund ausgekommen war. Kurz bevor er Mick kennengelernt hatte, war sein Hund gestorben und wie sich herausstellte, litt Mick an einer Tierhaarallergie, also hatte er auf Tiere verzichtet, was ihm nicht schwergefallen war. Für Mick hätte er alles getan. Doch danach ... Naja, er hatte kaum sich selbst am Leben halten können, geschweige denn Verantwortung für ein Tier übernehmen. Doch nun merkte er, dass er bereit für einen Hund war. Am besten einen aus dem Tierheim, dem er ein schönes Zuhause bieten konnte.
Auch diese Gedanken teilte er mit Corey, der sofort begeistert war. »O ja, dann nehmen wir den mit auf unsere Wanderungen.«
Raul ging auf Coreys Pläne ein, obwohl ihm das alles vorkam wie ihr Telefonspiel. Als würde er über Träume sprechen, die sich niemals erfüllen würden. Und doch hätte er sich nichts Schöneres vorstellen können, als auf das Spiel einzugehen, mit Corey zu überlegen, ob sie zuerst nach Schweden oder Schottland fahren sollten und ob sich die Anschaffung eines Campervans lohnte oder sie zunächst zum Ausprobieren einen mieten könnten. An diesem Abend wollte Raul so tun, als wären sie zusammen, als hätten sie eine gemeinsame Zukunft, auch wenn alles dagegen sprach.
Nach dem Essen spielten sie eine Partie Scrabble, bei der Corey seine Fantasie im Erfinden von Wörtern unter Beweis stellte. Danach bauten sie sich ein gemütliches Lager aus sämtlichen Decken und Kissen vor dem Ofen. Raul saß an den Sessel gelehnt da und Corey neben ihm, an ihn geschmiegt.
»Wir sind da vorhin bei etwas unterbrochen worden«, flüsterte er in Rauls Ohr.
Raul drückte ihn einen Moment fester an sich. »Und das war gut«, sagte er, nicht geflüstert. Schon verdüsterte sich Coreys Blick und er sprach rasch weiter: »Corey, du weißt, wie ...« Er musste sich räuspern. Es fiel ihm nicht leicht, so offen zu sprechen, wie Corey das problemlos konnte. »... wie sehr ich dich begehre, und wie ... naja. Aber ich möchte nichts überstürzen. Gerade weil du mir viel bedeutest. Sehr viel. Wenn es dir recht ist, würde ich es gerne langsam angehen lassen.«
In seinem Hirn rief eine Stimme: Du Vollpfosten! Das ist deine letzte Nacht mit dem wundervollsten Mann, der dir in deinem Leben noch begegnen wird, und du weist ihn zurück?
Ja, das tat er. Er wusste, dass es das Richtige war. Für Corey und für ihn. Auch, wenn ihm ebenso klar war, dass er es in Zukunft bestimmt oft bereuen würde. Doch noch mehr würde er bereuen, wenn er nun mit Corey schlief und sie sich danach nie wiedersehen würden. Ein Teil von ihm hoffte, dass Corey ihn überreden würde. Doch Corey sah ihm in die Augen und ganz langsam zeigte sich Verstehen in seinen Augen.
»In Ordnung«, sagte er und strich Raul durch das Haar. Raul konnte sich nicht erinnern, wann ihn zuletzt jemand so zärtlich berührt, ihn so angesehen hatte. »Ich weiß, warum du das tust. Es macht mir auch ein bisschen Angst. Aber ich weiß, dass uns nichts mehr trennen wird. Weil ich es nämlich nicht zulasse.« Er küsste Raul so sanft und süß, dass Raul schwindelig wurde. »Wir haben alle Zeit der Welt«, flüsterte Corey dicht an seinen Lippen.