Da Peabody noch schnell genug gewesen war, um nicht laufen zu müssen, nutzte sie die Fahrtzeit bis nach Brooklyn, um sich über den von Eve geliebten Baseballstar zu informieren.
»Stamford stammt aus Brooklyn, die Eltern leben immer noch in Brooklyn Heights. Sie sind seit fünfunddreißig Jahren verheiratet. Die Mutter stammt aus San Juan und kam mit einem Arbeitsvisum als Au Pair hierher. Der Vater war damals als Techniker bei der Stadt. Inzwischen hat die Mutter eine eigene Kindertagesstätte, die anscheinend zu den besten in der Gegend zählt, der Vater hat vor ein paar Jahren ein eigenes Wartungsunternehmen aufgemacht, Wylees Bruder und die Schwester sind bei ihren Eltern angestellt.«
Auf der Fahrt über die Brooklyn Bridge rief Peabody noch andere Infos auf. »Dazu gibt’s eine Unmenge Statistiken zum Baseball, aber die haben Sie wahrscheinlich alle auswendig gelernt. Zum Beispiel, dass er ’55 Jungstar des Jahres war und mehr als einmal als wertvollster Spieler und mit einem goldenen Handschuh ausgezeichnet worden ist. Bla, bla. Er war noch nie verheiratet und hatte bisher auch noch keine eingetragene Partnerschaft. Er lebt immer noch in Brooklyn, in derselben Straße wie die Eltern, sein bester Freund aus der Kindheit ist sein Manager. Seit vier Jahren gibt’s eine Stiftung der Familie Stamford, die sich der sportlichen Förderung von Kindern und von Jugendlichen aus prekären Verhältnissen verschrieben hat. Sie vergibt Stipendien, hat ein Sportcamp, bietet Trainingsstunden an und finanziert die Ausrüstung und den Transport zum Training und zu Spielen.«
Peabody fuhr fort: »Ah, und jedes Jahr lädt Stamford eine Gruppe Kinder erst zu einem Heimspiel seiner Mannschaft und danach zu einem Treffen mit den anderen Spielern ein. Das ist echt nett. Er scheint ein wirklich netter Mensch zu sein.«
»Menschen können nett wirken und göttlich Baseball spielen, aber trotzdem Mörder sein. Er hat eine innige Verbindung zur Familie und er hat sich seine alten Freundschaften bewahrt, aber irgendetwas hatte Mars anscheinend trotzdem gegen diesen Typ in der Hand.«
»Es gibt jede Menge Infos und Artikel über ihn. Er gilt als Ausnahmeathlet mit einem soliden Mittelklassehintergrund, der seine Wurzeln nie verleugnet hat. Er hat sich immer gut benommen, und es gab nie auch nur den winzigsten Skandal. Er war mit einem Stipendium auf der NYU und hat zuerst für die Violets gespielt. Die Veilchen? Ist das nicht ein etwas lächerlicher Name für ein Baseballteam?«
»Das sind die Teamfarben.«
Mit einem innerlichen Augenrollen meinte Peabody: »Na dann« und wandte sich wieder ihrer eigentlichen Zielperson zu. »Er hatte ziemlich gute Noten und hat seinen Abschluss mit 3,3 gemacht. Auch auf der Highschool war er immer Dreierkandidat … Das heißt, im siebten und im achten Schuljahr hatte er ein echtes Tief und wurde gerade mal so versetzt. Ich nehme an, die Pubertät kann manchmal ganz schön ätzend sein.«
Vielleicht war ja in dieser Zeit etwas passiert, was sich noch heute gegen ihn verwenden ließ, sagte sich Eve und bat die Partnerin: »Schauen Sie nach, ob Stamford eine Akte hat und wie es damals gesundheitlich um ihn gestanden hat.«
»Ist das Ihr Ernst? Wie alt war er damals? Zwölf?«
»Was machen Sie, wenn Sie als Mars im Dreck wühlen und sehen, dass zu der Zeit irgendwas bei ihm im Argen lag?«
»Dann grabe ich noch tiefer.«
Genau das tat sie, während Eve nach einer freien Lücke suchte und schließlich auf einen Parkplatz fuhr.
Auch als sie ausstieg, grub sie weiter und vermerkte kopfschüttelnd: »Ich finde nichts … das heißt, Moment. Er war einmal im Krankenhaus, aber die Krankenakte ist nicht einsehbar.«
»Nur einmal?«
»Zumindest ist das alles, was ich finden kann. Natürlich war er öfter einmal verletzt und wurde wegen irgendwelcher Sportunfälle behandelt, aber diese Akte ist die Einzige, an die ich nicht herankomme.«
»Dann suchen Sie die Rechnungen des Krankenhauses und sehen nach, ob er danach noch einmal untersucht oder weiterbehandelt worden ist«, bat Eve und schaute sich das lang gezogene Gebäude von Sports World von außen an, bevor sie durch die breite Glastür trat.
Für Sportler oder Leute, die sich dafür hielten, war der Laden sicherlich das reinste Paradies. Die helle, offene Verkaufsfläche war in verschiedene Bereiche unterteilt. Für Fußball, Baseball, Basketball, für Hockey, für Lacrosse und vieles mehr. Auf Dutzenden von Bildschirmen wurden aktuelle Spiele aus der ganzen Welt oder die Highlights von vergangenen Spielen gezeigt, und unter dem gläsernen Kuppeldach kam man sich wie in einem Stadion vor.
Die Angestellten trugen Sportklamotten und schossen auf Inlinern zwischen den Gängen hin und her.
Entschlossen hielt Eve einen der Leute an der Jacke seines Trainingsanzugs fest.
»Ich will zu Wylee Stamford.«
»Zweiter Stock. Falls Sie ihn spielen sehen wollen, brauchen Sie ein Ticket und müssen statt in den zweiten in den dritten Stock. Die Tickets gibt es kostenlos, aber Sie müssen sich am Eingang dafür eintragen, und ich weiß nicht, ob es noch welche gibt.«
»Okay.«
Sie ließ den jungen Burschen weiterrollen und wandte sich der breiten, offenen Treppe zu.
Im ersten Stock gab es die passende Garderobe zu den Sachen aus dem Erdgeschoss. Lauf- und Yoga-Hosen, Regale voller Jacken, T-Shirts, Schuhe, Stollen und Rollen jeder Art.
Dann hatten sie den zweiten Stock erreicht. Auf einem kleinen Indoor-Green übten die Leute Putts und Schwünge, ein Stück weiter droschen sie auf Boxsäcke und -birnen ein, vier Leute spielten Federball, und hinter einer Glaswand führten ein paar Kampfsportler ein durchaus anständiges Kata durch.
An einem Tisch saß Stamford und signierte Karten, Bälle, Poster, Baseballkappen für die Traube Fans, die ihn umgab.
Er trug sein wild gelocktes schwarzes Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, hatte ein gut gelauntes Lächeln in dem fein gemeißelten Gesicht und einen durchtrainierten Körper, der in seiner schwarzen Schlabberhose und dem dünnen weißen Sweatshirt vorteilhaft zur Geltung kam.
Vor allem war er ein echter Künstler und ein Zauberer am Mal. Eve hätte deshalb selber gern ein Autogramm von ihm gehabt, doch leider war sie eben nicht als Fan, sondern der Arbeit wegen hier.
Sie sah sich suchend um und wandte sich dann an den Mann mit bulliger Statur und argwöhnischem Blick, der für die Sicherheit zuständig war.
»Lieutenant Dallas«, meinte sie und hielt ihm ihre Marke hin. »Ich muss mit Mr. Stamford reden.«
»Worüber?«
»Es genügt, wenn er das selbst von mir hört.«
Er runzelte die Stirn und winkte eine Frau, die auf der anderen Seite des Gedränges stand, herbei. Sie bahnte sich den Weg zu ihm, erfuhr, worum es ging, bedachte Eve mit einem bösen Blick und ging zu einem anderen Mann, der viel zu schmal und gut gekleidet war, um ebenfalls ein Aufpasser zu sein.
Auch er runzelte erst die Stirn, dann aber hellte sein Gesicht sich auf, und lächelnd trat er auf sie zu.
»Officers. Was kann ich für Sie tun?«
»Lieutenant und Detective«, korrigierte Eve. »Wir müssen Mr. Stamford sprechen.«
»Ich bin Brian O’Keefe.« Noch immer freundlich lächelnd gab er ihr die Hand. »Ich bin sein Manager, und wie Sie selbst sehen können, hat er gerade alle Hände voll zu tun.«
»Wir werden warten.«
»Falls Sie mir verraten würden, was Sie von ihm wollen, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein, weil Wylee heute nämlich auch noch jede Menge anderer Termine hat.«
»Entweder er nimmt sich die Zeit, um hier mit uns zu reden, oder wir bestellen ihn aufs Revier. Vielleicht sollten Sie ihn fragen, was ihm lieber ist.«
Das Lächeln schwand. »Falls es ein Problem gibt …«
»Wären wir sonst wohl hier? Entweder hier oder bei uns auf dem Revier. Das ist nicht wirklich kompliziert. Entscheiden Sie, wie’s laufen soll.«
»Er hat gleich zehn Minuten Pause.«
»Gut.«
»Warum bringen Sie die Damen nicht in die Garderobe, Jed? Die ist während der Autogrammstunde gesperrt«, wandte er sich an Eve. »Das heißt, Sie wären dort völlig ungestört. Falls Sie hier draußen mit ihm sprechen, wird er sicher gleich wieder von Fans umringt.«
»Ja sicher, Bri.« Der Mann von der Security lief los.
»Wie lange arbeiten Sie schon für Wylee?«, fragte Eve.
»Schon eine ganze Weile«, meinte er und öffnete mit einer Schlüsselkarte die Garderobentür. »Ich verstehe wirklich nicht, weswegen Sie ihn sprechen wollen.«
»Das ist nun mal mein Job. Was haben Sie selbst vorher gemacht. Linebacker?«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Als Halbprofi. Dann hab ich mir das Knie verrammelt, und das war’s. Zum Glück hat Wylee mich dann engagiert.«
»Sie beide kommen aus derselben Gegend, stimmt’s?«
Nur wer es an den Ohren hatte, hörte nicht, dass er aus Brooklyn kam.
Er nickte. »Ich, Bri und Wylee kennen uns schon eine Ewigkeit. Sie können hier in der Garderobe auf ihn warten.«
Er selbst wandte sich zum Gehen und zog die Tür wieder von außen zu.
Im Raum gab es zwei Reihen Spinde, zwei niedrige Bänke, zwei Toiletten und drei Waschbecken.
»Die Daten aus dem Krankenhaus«, erinnerte Eve ihre Partnerin und gab den Namen O’Keefe in ihren eigenen Handcomputer ein.
Unverheiratet und keine eingetragene Partnerschaft, genau wie Stamford kinderlos. Studium an der Carnegie Mellon, zwei Abschlüsse in Buchhaltung und in Computerwissenschaft.
Ein Nerd, sagte sich Eve.
Dieser Nerd hatte gleich nach dem College einen sicher gut bezahlten Job in der IT -Branche bekommen und dann wieder sausen lassen, als er Manager von seinem Freund geworden war.
Eve stocherte in seinem Leben, bis Peabody ihren Handcomputer fluchend sinken ließ.
»Ich finde auf dem Ding nichts raus, Dallas. Die Daten sind zu alt. Wahrscheinlich würde ich auch sonst nichts finden, ohne dass McNab mir dabei hilft. Ich kann ihm ja die Sachen schicken, wenn Sie wollen.«
Eve wollte zustimmen, als ihr wieder einfiel, dass der arme Kerl auch so schon kurz vor einem Burnout stand. »Schicken Sie sie an Roarke.«
»Echt? Ist das okay?«
»Es gibt nichts Schöneres für ihn, als wenn er im Privatleben von anderen Leuten schnüffeln kann.«
Dann sah sie auf, als Wylee Stamford in der Garderobe erschien.
Er lächelte sie freundlich an und reichte ihr die Hand. »Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen.«
Als sie die Hand ergriff, die einen Ball mit Lichtgeschwindigkeit vom dritten bis zum ersten Mal befördern konnte, wurden ihre Knie weich.
»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit uns zu sprechen, Mr. Stamford.«
»Nennen Sie mich bitte Wylee, Lieutenant … tut mir leid.«
»Dallas und Detective Peabody.«
»Tja nun.« Er setzte sich auf eine Bank. »Wie kann ich unseren Freundinnen und Helferinnen behilflich sein?«
»Larinda Mars.«
»Ich … wer?«
Eve sah zwei Dinge gleichzeitig. Er hatte nicht damit gerechnet, diesen Namen zu hören, und er wollte lügen und behaupten, dass er keine Ahnung hätte, wer das war.
»Was hatten Sie mit ihr zu tun?«
»Ich weiß nicht, wer das ist«, setzte er an und atmete erleichtert auf, als sein Freund und Manager den Raum betrat.
»Tut mir leid. Ich wurde noch kurz aufgehalten«, meinte Brian und nahm ihm gegenüber Platz.
Eve erwog, ihn rauszuwerfen, aber dann beschloss sie, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie auch gleichzeitig mit ihm spräche.
»Larinda Mars«, erklärte sie noch einmal. »Klatschreporterin vom Channel 75. Vielleicht haben Sie ja mitbekommen, dass sie gestern ermordet worden ist.«
»Ich schon«, meinte O’Keefe, ehe Wylee die Gelegenheit zu einer Reaktion bekam. »In einer Bar oder in einem Restaurant, nicht wahr?«
»Genau. Warum erzählen Sie mir nicht, wo Sie beide gestern Abend zwischen sechs und sieben waren?«
»Entschuldigung?« O’Keefe lachte auf. »Ist das Ihr Ernst?«
»Ein Mord ist immer eine ernste Angelegenheit. Sie zuerst«, wandte sie sich dem Sportler zu. »Wo waren Sie gestern Abend zwischen sechs und sieben?«
»Vielleicht sollte ich erst einmal Gretchen kontaktieren«, fiel O’ Keefe ihr ins Wort. »Sie ist Wylees Anwältin.«
»Nur zu. Wir können solange warten.«
»Nein. Oh nein.« Der Baseballspieler winkte ab. »Das ist ganz leicht. Ich war bei meinen Eltern. Oder auf dem Weg dorthin, weil es um sieben Essen gab. Nach dem Essen habe ich ein Bier mit meinem Dad gezischt, bevor ich gegen zehn Uhr wieder aufgebrochen bin. Das heißt, Moment, ich kam ein bisschen später als geplant bei meinen Eltern an. Mr. Aaron ging mit seinem Hund spazieren, und wenn er mal ins Reden kommt, hört er so schnell nicht wieder auf. Das heißt, wahrscheinlich war ich erst gegen halb sieben dort. Ich weiß es nicht genau.«
»Mr. Aaron ist ein Nachbar?«
»Ja, der lebt zwei Häuser neben meinem Dad.«
»Okay. Das werden wir natürlich überprüfen, aber trotzdem schon einmal vielen Dank. Mr. O’Keefe?«
»Gegen sechs war ich daheim. Ich arbeite zu Hause, wenn wir nicht bei einem Event wie heute sind und es auch keine anderen Termine gibt. Aber ich hatte noch eine Verabredung und bin um kurz vor sieben losgegangen.«
»Mit wem?«
O’Keefe atmete geräuschvoll aus und blickte Stamford an. »Mit Gretchen Johannsen.«
»Mit Gretchen? Du und Gret? Das ist mir ja ganz neu.«
Obwohl er leicht errötete, tat er das Grinsen seines Freundes achselzuckend ab. »Wir … sondieren noch das Terrain.«
»Und das, obwohl ihr euch jetzt schon seit eurer Kindheit kennt? Gretchen gehört zu unserer alten Clique aus der Nachbarschaft«, fuhr Stamford fort, doch plötzlich wurde seine Miene ernst. »Es tut mir leid. Ich glaube nicht, dass Sie das interessiert.«
»Das weiß man nie«, gab Eve zurück. »Wann hat Larinda Mars Sie erstmals kontaktiert?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, wer das ist oder wovon Sie reden«, brauste Wylee auf.
Eve sah ihn einfach reglos an. »Mr. Stamford – Wylee – ich bewundere, wie Sie Ihre Bälle fangen, als hätten Sie einen Radar in Ihren Handschuh eingebaut, und wie gewieft und kraftvoll Ihre Schläge sind. Sie sind aus meiner Sicht ein wirklich anständiger Spieler, deshalb denke ich, dass Sie mich aus demselben Grund belügen, aus dem Larinda Mars Sie erpressen konnte.«
»Sie können doch nicht einfach …«
»Ruhe«, schnauzte Eve O’Keefe an. »Sonst bin ich vielleicht doch nicht mehr so nachsichtig mit Ihrem Freund. Wir haben Mars’ elektronische Geräte und wir wissen, dass Ihr Name auf der Liste ihrer Opfer steht. Sie wusste etwas über Sie, wofür sie sich hat bezahlen lassen. Vielleicht waren Sie es leid zu blechen, vielleicht hat sie irgendwann zu viel verlangt oder vielleicht sind Sie ja auch einfach durchgedreht und haben beschlossen, sie aus dem Verkehr zu ziehen, statt immer weiter zu bezahlen.«
»Aber ich war bei meinen Eltern.«
»Sie haben zahlreiche Fans, einige von ihnen würden vielleicht sogar einen Mord für Sie begehen. So wie Ihr alter Freund hier oder Jed. Oder vielleicht auch Gretchen Johannsen.«
Stamford bedachte sie mit einem kalten Blick. »Halten Sie meine Freunde aus der Sache raus.«
Er war ein durch und durch loyaler Mensch, erkannte Eve. »Dann hören Sie auf, mich anzulügen, und erzählen mir die Wahrheit. Je schneller und je detaillierter Sie erzählen, umso geringer ist die Chance, dass ich Ihre Familie oder Ihre Freunde in die Sache reinziehen muss.«
»Ich will auf keinen Fall, dass meine Eltern etwas von dieser Angelegenheit erfahren.«
»Wylee …«
»Nein, Bri, es reicht. Es reicht jetzt ein für alle Mal.« Er stützte sich mit seinen Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich will nicht, dass sie hören, dass ich auf dieser Liste stand oder was in ihren gottverdammten Unterlagen stand.«
»Dann packen Sie jetzt endlich aus, weil ich nur so Ihre Privatsphäre auch weiter schützen kann. Solange das, was Sie erzählen, die Wahrheit ist.«
»Es tut mir ganz bestimmt nicht leid, dass dieses Weibsbild nicht mehr lebt. Das ist die Wahrheit«, stieß er aus, sprang auf und lief zwischen den beiden Bänken auf und ab. »Sie hat sich vor zwei Jahren auf einer Sportgala an mich herangemacht. Hat mir ihre Visitenkarte in die Hand gedrückt, auf deren Rückseite ein Name stand. Sie hatte dort auch ihre Nummer aufgeschrieben und dass ich mich bei ihr melden soll.«
»Was war das für ein Name?«
Er kniff unglücklich die Augen zu. »Big Rod. Ich musste kurz danach aufs Podium und eine Rede halten. Mir war schlecht, aber ich musste auf das gottverdammte Podium. All diese Kids … und ich war damals selber noch ein Kind. Ein Kind!«
Sie sah ihm ins Gesicht und sah das Kind, das er einmal gewesen war.
»Ich brauche seinen vollen Namen.«
»Rod C. Keith. Mein Mentor und mein Held«, stieß er verächtlich aus. »Die gute Seele unserer Nachbarschaft – so haben die Leute ihn damals genannt. Wenn man jemanden zum Fangen oder Körbewerfen brauchte, war er immer da. Man konnte stundenlang im Jugendzentrum abhängen, und er hat sich unsere Träume angehört, uns dazu angetrieben, dass wir in der Schule gute Noten schrieben, unsere Schlaghaltung verbessert oder was auch immer.«
»Wie alt waren Sie, als es angefangen hat?«
Er blickte sie aus unglücklichen Augen an. »Zwölf. Wobei es vielleicht auch schon vorher angefangen hat, mit lauter Kleinigkeiten, die nicht weiter aufgefallen sind. Ich habe ihn geliebt und ihm vertraut. Auch meine Familie hat ihn geliebt und ihm vertraut.«
Er legte eine Pause ein und atmete vorsichtig aus.
»Natürlich kannst du zu Big Rod gehen, um dir bei ihm das Spiel im Fernsehen anzusehen. ›Kein Problem, wenn du noch mit Big Rod ein bisschen Fangen üben willst.‹ Ich fühlte mich, als ob ich jemand ganz Besonderes wäre, wenn ich ganz allein bei ihm zu Hause eingeladen war.«
Er schloss die Augen, und als er sie wieder aufschlug, starrte er die Spinde an, nahm sie aber im Grunde gar nicht wahr.
»Ich fühlte mich erwachsen, als er mir erlaubt hat, Bier zu trinken, und gesagt hat, dass er niemandem etwas davon verraten wird. Er hat mir vor dem ersten Mal ein halbes Bier gegeben. Danach war mir schwindlig, und ich hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, er war Big Rod und hat gesagt, das wäre so was wie ein Ritual, das zeigt, dass ich jetzt fast erwachsen bin. Als mir danach übel war, hat er gesagt, ich wäre seine Nummer Eins. Ich wäre seine Nummer Eins, aber wenn ich irgendwem etwas verraten würde, wäre ich ein Nichts. Vor allem würden mir die anderen sowieso nicht glauben, und wenn ich den Mund aufmachen würde, könnte meiner Schwester was passieren. Und …«
Jetzt setzte er sich wieder auf die Bank, ließ die Hände zwischen seinen Knien baumeln und fuhr mit gepresster Stimme fort: »Ich will nicht darüber reden, was der Kerl getan hat und was ich ihn fast ein Jahr lang habe machen lassen, bis er eine andere Nummer Eins gefunden hat.«
»Sie haben auch Ihren Eltern nichts davon erzählt.«
»Nein, ich habe mich zu sehr geschämt und hatte viel zu große Angst. Ich habe nie ein Wort zu ihnen gesagt. Und das will ich noch immer nicht.« Er ballte seine Fäuste, hob den Kopf und sah Eve reglos ins Gesicht.
»Es ist vorbei. Er lebt nicht mehr. Jemand hat ihn in einer Gasse ein paar Blocks hinter dem Jugendzentrum totgeschlagen, und auf der Beerdigung haben sie den Hurensohn als großen Helden hingestellt. Ich war damals bereits in Therapie, doch vorher hat meine Familie die Hölle mit mir durchgemacht. Ich habe Bier geklaut und Drogen eingeworfen, habe mich am Abend heimlich aus dem Haus geschlichen, um mir irgendwelche Pillen zu besorgen, aber trotzdem wurde ich das schreckliche Gefühl von seinen Händen überall an meinem Körper nicht los, weshalb ich irgendwann bei Mr. Aaron eingebrochen bin.«
Als seine Stimme brach, ließ Eve ihm einen Augenblick Zeit, dann aber fragte sie: »Bei Ihrem Nachbarn?«
»Ja, genau. Er hatte Whiskey, also habe ich die Pillen in dem Whiskey aufgelöst und ihn dann in mich reingekippt. Ich wollte einfach Schluss machen. Ich wollte einfach nichts mehr spüren.«
Erneut kniff er die Augen zu und atmete behutsam aus.
»Ich war damals dreizehn Jahre alt und wollte, dass das alles aufhört, aber leider habe ich mich ziemlich dämlich dabei angestellt und derart viel getrunken, dass mir schlecht geworden ist und ich das ganze Zeug am Ende wieder rausgekotzt habe.«
Er presste sich die Finger vor die Augen und ließ seine Hände wieder fallen. »Meine Eltern haben mich gehört, als sie realisierten, was ich machen wollte, haben sie mich ins Krankenhaus gebracht. Ich kann das Gesicht von meiner Mutter auch nach all den Jahren noch vor mir sehen und hören, wie sie für mich gebetet hat. Dann haben sie mich gezwungen, in Therapie zu gehen. Ich wollte erst nicht hin und habe mich gewehrt, aber sie haben mich trotzdem hingebracht.«
»Sie waren immer für dich da«, beruhigte O’Keefe ihn. »Waren immer für dich da.«
»Das stimmt, auch wenn mir das zu der Zeit furchtbar auf den Keks gegangen ist. Aber … Dr. Preston. Er hat mich gerettet, und indem sie mich gezwungen haben, zu den Therapiestunden zu gehen, haben auch sie mich gerettet. Er hat ihnen niemals etwas von Big Rod erzählt, denn als ich irgendwann davon gesprochen habe, was passiert ist, musste er mir versprechen, meinen Eltern nicht zu sagen, was geschehen ist. Er hat gesagt, er würde mein Vertrauen niemals missbrauchen, das hat er wirklich nicht getan.«
Er räusperte sich leise und fuhr dann mit rauer Stimme fort: »Es ging mir langsam besser. Nachdem ich die Sache losgeworden war und Dr. Preston mich deswegen nicht verurteilt hat, haben wie jede Woche über diese Angelegenheit geredet, das hat mir gutgetan.«
»Ich weiß nicht, wie Mars es herausgefunden hat, weil Dr. Preston niemals mit ihr geredet hätte. Als ich deswegen bei ihm war, hat er gesagt, dass ich zur Polizei gehen soll.«
»Das war ein guter Rat«, bemerkte Eve.
»Ich wusste, dass er recht hat, aber trotzdem habe ich das irgendwie nicht fertiggebracht. Ich weiß nicht, wie sie es herausgefunden hat, aber sie wusste es, und sie hat sogar angedeutet, dass die Leute denken könnten, ich hätte den Typ umgebracht. Wenn ich keine Schande über meine eigene Familie bringen und meine Karriere und die Arbeit unserer Stiftung nicht gefährden wollte, sollte ich dafür bezahlen, dass sie mein Geheimnis wahrt.«
»Wie viel?«
»Die Summen waren unterschiedlich und nicht wirklich hoch. Sechs- bis achttausend jeden Monat. Was sich zu den ganz normalen Geschäftsausgaben zählen lässt. Ich habe sie bezahlt und den Gedanken an die Sache dann verdrängt.«
»In bar.«
»Wie sonst? Sie wollte, dass ich ihr das Geld persönlich bringe, wenn ich in der Stadt bin, aber davon wollte ich nichts hören. Ich habe ihr gesagt, dass sie die Kohle nehmen oder es lassen soll – zumindest das habe ich noch geschafft. Ich habe ihr das Geld per Boten bringen lassen, oder Brian hat es ihr gebracht.«
Eve wandte sich an seinen Manager und Freund. »Sie wussten über diese Absprache Bescheid und kannten auch den Grund dafür?«
Er nickte knapp. »Wylee hat mir schon vor Jahren von Big Rod erzählt. Nach seinem Tod ging es ihm langsam besser, und am Ende hat er mir erzählt, was für ein Schwein er war.«
»Aber Sie hat er nie missbraucht?«
»Ich war ganz offensichtlich nicht sein Typ. Ich bin ein Denker, klapperdürr und völlig unsportlich. Ich habe all die anderen Kids, um die er sich gekümmert hat, total beneidet, doch am Ende ist mir aufgegangen, dass ich wirklich Glück hatte, dass ich ihm niemals aufgefallen bin. Ich habe es gehasst, dass dieses Weibsbild Wylee mit den Dingen, die ihm zugestoßen sind, erpresst hat, aber sie deswegen umzubringen, hätte sich trotz allem nicht gelohnt. Weil du dich irrst«, wandte er sich an seinen Freund. »Du hast dich immer schon geirrt, und leider konnte Dr. Preston dich nicht dazu bringen, das einzusehen. Wenn diese Sachen herausgekommen wären, hätte niemand sich für dich geschämt oder dir irgendwelche Vorwürfe gemacht. Sie würden genauso reagieren wie ich selbst.«
Er packte Wylee bei den Schultern und erklärte ihm in eindringlichem Ton: »Sie würden auf das gottverdammte Schild mit Rods Namen spucken, das im Jugendzentrum hängt. Und diese Hexe wäre in den Knast gewandert, dort hätte sie auf alle Fälle hingehört. Es tut mir ganz bestimmt nicht leid, dass sie nicht mehr am Leben ist, aber ich würde sie mir trotzdem lieber hinter Gittern vorstellen, denn so bin ich nun einmal.«
»Sie sind ein guter Freund«, erklärte Peabody.
»Ich werde Ihre Alibis noch überprüfen«, meinte Eve und blickte Wylee fragend an. »Haben Sie oder Ihr Freund ein Auto?«
»Ja, ich habe einen Truck, der aber fast die ganze Zeit in der Garage steht, Brian hat einen SUV .«
»Dann kümmern wir uns erst mal um den Truck. Geben Sie Detective Peabody die Marke, Farbe und das Baujahr, und wir gucken, ob ein Fahrzeug dieses Typs gestern bei dem Lokal gesehen worden ist.«
»Wohl kaum, weil ich schließlich bei meinen Eltern war. Aber trotzdem vielen Dank.« Er beschrieb den Wagen und gab Eve die Hand. »Ich sollte sicher sagen, dass ich hoffe, dass Sie ihren Mörder finden, aber es wird mir bestimmt nicht leidtun, wenn er nicht gefunden wird.«
»Hören Sie auf Ihren Freund. Sie hätte, statt zu sterben, ins Gefängnis kommen sollen. Sie hätte die besondere Schmach erleiden sollen, dass sie für ihr Treiben ins Gefängnis kommt. Sie haben ein Recht auf Ihre Privatsphäre«, klärte sie Wylee auf. »Ich kann gut nachvollziehen, dass ein Junge von zwölf Jahren total verschreckt ist und sich furchtbar schämt, wenn ein Erwachsener, dem er vertraut, so egoistisch ist und derart kranke Dinge mit ihm macht. Aber ein erwachsener Mann und Baseballgott, der gute Freunde und dazu noch starke Eltern und Geschwister hat, hätte so schlau sein sollen, zur Polizei zu gehen.«
»Ja, ja. Ich nehme an, dass ich das Kind in meinem Innern immer noch nicht völlig losgeworden bin.«
»Das kann ich ebenfalls gut nachvollziehen.«
Auf ihrem Weg zurück zum Wagen fragte Eve die Partnerin: »Was denken Sie?«
»Ich könnte ihn mir vorstellen, wie er die Geduld verliert und Mars eins auf die Nase gibt, aber als kaltblütigen Mörder sehe ich ihn nicht.«
»So geht’s mir auch. Er hat bezahlt, weil sich ein Teil von ihm noch immer für die Dinge, die Big Rod ihm angetan hat, schämt und er noch immer Schuldgefühle hat. Soweit wir wissen, war Mars schlau genug, nie mehr von ihren Opfern zu verlangen, als sie sich leisten konnten, und zumindest Wylee hat es vorgezogen zu bezahlen, statt sich zu wehren und zu riskieren, dass alle Welt von seinen traumatischen Erlebnissen erfährt.«
»Wie hätten Sie reagiert?«, fragte Peabody. »Entschuldigung. Das hätte ich nicht fragen sollen.«
Eve wartete, bis sie am Wagen waren, und wandte sich über das Dach hinweg an ihre Partnerin. »Oh doch, das hätten Sie. Weil es bei mir schließlich ganz ähnlich war. Ich habe eine halbe Ewigkeit gebraucht, um stark genug zu werden und den Schutzwall, den ich um mein Innerstes errichtet hatte, zu durchdringen und mich daran zu erinnern, wie es damals für mich war. Noch länger hat es gedauert, bis ich mit den Schuldgefühlen und der Scham wegen der Dinge, die mir zugestoßen waren, und dem, was ich getan habe, damit es aufhört, klargekommen bin.«
Dann stieg sie ein und überlegte einen Augenblick. »Ich hätte niemals zugelassen, dass sie mich erneut zum Opfer macht. Ganz egal, wie sehr Roarke mich hätte beschützen wollen, hätte er ihr meinetwegen nichts getan. Es ist die Dienstmarke, die meinen Überlebenswillen wachgerufen hat – der Wille, sie zu kriegen, und die Arbeit, die ich leiste, damit sie mir niemals wieder abgenommen wird. Ich habe ihretwegen überlebt und mich weit genug geöffnet, dass jemand wie Roarke sich in mein Leben drängen konnte. Die Marke, ihn und Sie und alle anderen, die mich immer unterstützen, und mich selbst verraten?«
Käme einfach nicht infrage, wusste Eve.
»Das könnte ich niemals. Selbst wenn mich das den Job gekostet hätte, hätte ich das Weibsbild in den Knast gebracht.«
»Niemand würde Ihnen für das, was dieser Kerl mit Ihnen gemacht hat, oder dafür, dass Sie es am Schluss nicht mehr ertragen haben, Ihre Marke abnehmen wollen.«
Kopfschüttelnd ließ Eve den Motor ihres Wagens an. »Ich habe Richard Troy getötet. Und als Vatermörderin ist man bei der New Yorker Polizei bestimmt nicht gern gesehen.«
»Vatermord, dass ich nicht lache! Sie waren damals noch ein kleines Mädchen und Sie haben sich nach jahrelangem Missbrauch gegen eine pädophile, inzestuöse Bestie gewehrt«, verbesserte Peabody sie. »Sie sollten wissen, dass Ihnen deswegen niemand jemals an den Karren fahren oder Ihnen Ihre Marke streitig machen wird. Sie sollten wissen, dass Sie alles Recht der Welt hatten, sich gegen diesen Schweinehund zu wehren.«
Eve zahlte an der Ausfahrt und warf einen Blick auf Peabodys verkniffenes Gesicht.
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Auch wenn ich vielleicht noch ein bisschen brauche, bis ich selbst das akzeptieren kann.«
Sie lenkte ihren Wagen auf die Straße. »Aber trotzdem gibt es Parallelen zu diesem Fall. Denn irgendwer hat Wylee Stamfords Monster und vielleicht danach auch die Person, die ihn mit seinem Leid erpresst hat, umgebracht. Also holen wir uns erst einmal die Akte von Big Rod.«
Noch immer wütend hätte Peabody die Partnerin am liebsten angeschnauzt, dann aber legte sie die Stirn in Falten und stellte mit dumpfer Stimme fest: »Sie denken also, dass irgendjemand ihn immer noch beschützt. Auf die Idee bin ich bisher noch gar nicht gekommen.«
»Weshalb auf meiner Marke Lieutenant und auf Ihrer nur Detective steht.«
Jetzt lächelte die Partnerin. »Bisher«, erklärte sie und brachte Eve dadurch wie erhofft zum Lachen. »Wie wäre es mit einem Kaffee für die Fahrt?«
»Oh ja.« Auch Eve entspannte sich. »Danach überprüfen wir O’Keefe und sein Alibi. Die beiden Männer scheinen einander gegenüber sehr loyal zu sein. Er hat gesagt, er hätte sie am liebsten in den Knast gebracht, was durchaus ehrlich für mich klang. Trotzdem sehen wir ihn uns auch noch genauer an. Vorher geben Sie ins Navi ein, zu welcher von Mars’ anderen Zielpersonen es von Brooklyn aus am nächsten ist.«
»Okay.«