Zitternd folgte Phoebe Michaelson Nadine in deren Wohnzimmer. Sie war erschreckend bleich und blickte Eve so ängstlich an, als würfe die routinemäßig kleine Hunde von der Brücke in den Hudson River.
»Phoebe, dies sind Roarke und Lieutenant Dallas. Bitte wiederholen Sie, worum’s bei unserem Gespräch vorhin gegangen ist. Und seien Sie bitte völlig ehrlich, ja?«
»Okay«, stieß sie mit leiser Stimme aus.
»Ein Gläschen Wein?«
»Ich … ich … ist das in Ordnung?«
»Klar. Ich hole Ihnen schnell ein …«
Ehe sich Nadine zum Gehen wenden konnte, packte Phoebe ihre Hand, als wollte Eve sie selbst von einer Brücke in die Fluten werfen, und starrte sie aus ängstlich aufgerissenen Augen an.
»Das kann ich doch übernehmen«, erbot sich Roarke, stand auf und wandte sich dem Mädchen zu. »Niemand wird Ihnen hier etwas tun, Phoebe.«
Sie brach in Tränen aus, sachte führte Nadine sie zu einer Couch und setzte sich mit ihr zusammen hin.
»Ich werde unsere Unterhaltung aufnehmen und Sie über Ihre Rechte aufklären«, sagte Eve, und Phoebe rang nach Luft.
»Das ist die vorgeschriebene Verfahrensweise, sie dient vor allem Ihrem Schutz. Nadine hat recht. Sie sollten uns die Wahrheit sagen, weil das uns und Ihnen hilft. Sie haben das Recht zu schweigen«, fing sie an und endete, als Roarke mit einem Glas Rotwein für Phoebe aus der Küche kam.
»Haben Sie verstanden?«, fragte sie. Hastig trank die junge Frau den ersten Schluck von ihrem Wein.
»Ja«, erklärte sie, wobei ihr die Verzweiflung überdeutlich anzuhören war. »Aber ich habe keinen Rechtsbeistand verdient.«
»Es geht nicht darum, ob Sie ihn verdienen, sondern darum, dass Sie einen Anspruch darauf haben, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen.«
»Das will ich nicht. Am besten bringen wir es einfach hinter uns. Ich wusste, dass es falsch war. Wusste, dass ich das nicht hätte machen sollen, trotzdem habe ich am Ende mitgemacht. Das tut mir leid. Es tut mir furchtbar leid.«
»Wobei haben Sie mitgemacht?«
»Ich habe mich in die Computer anderer Leute eingeklinkt und Sachen rausgefunden, die mich eigentlich nichts angehen. Das heißt, ich habe sie gestalkt, obwohl ich weiß, dass Cyberstalking ein Verbrechen ist.«
»Warum haben Sie das getan?«
»Sie hat gesagt, dass ich das machen muss. Miss Mars.«
»Hat sie Ihnen dabei eine Waffe an den Kopf gehalten?«, fragte Eve in ruhigem Ton.
»In etwa«, meinte Phoebe, und Nadine bedachte Eve mit einem bösen Blick.
»Was für eine Waffe war das?«
»Hm.« Sie trank den nächsten Schluck von ihrem Wein und atmete tief durch. »Mein Vater ist Larson K. Derick.«
Diesen Namen hatte Eve noch nie gehört, doch Roarke sah Phoebe fragend an. »Der Derick mit dem schwarzen Hut?«
Phoebe nickte, starrte in ihr Glas, und eine dicke Träne tropfte in ihren Wein.
»Der beste Hacker, den es jemals gab«, erklärte Roarke. »Vor vielleicht fünfundzwanzig Jahren hat er mit seinen unglaublichen Fähigkeiten kurzfristig die ganze Wall Street auf den Kopf gestellt. Er hatte derart viele, dicke Konten leergeräumt, dass er sich ganz problemlos eine eigene Insel hätte kaufen können, um dann dort in Ruhestand zu gehen, doch er ging lieber in die Politik. Es tut mir leid«, fügte er an die junge Frau gewandt hinzu. »Das ist bestimmt nicht leicht für Sie.«
»Wenn Sie es ihr erzählen, ist es einfacher für mich.«
»Okay. Er wurde irgendwann zu einer Art Fanatiker.«
»Er ist vollkommen durchgedreht«, gab Phoebe flüsternd zu. »Er wurde Terrorist.«
»Das stimmt. Er hat sich in Computer von verschiedenen Behörden eingeklinkt und sie mit den sensiblen Daten, die er dort gefunden hat, erpresst oder die Daten frei zugänglich gemacht. Dazu hat er East Washington vorübergehend dichtgemacht, indem er alle Kommunikationskanäle und die Wasser- und die Stromversorgung abgeschaltet hat. Und zwar mitten im Winter«, fügte Roarke hinzu.
»Dabei sind Menschen umgekommen«, stieß Phoebe heiser aus. »Bei Verkehrsunfällen und weil es keine Heizung mehr in den Gebäuden gab. Bei Plünderungen, als die Leute entweder aus Wut oder aus Panik aufeinander losgegangen sind.«
»Davon habe ich gehört«, erklärte Eve.
»Er hat die Hinrichtung des Präsidenten, Vizepräsidenten und ihrer Familien verlangt, denn seiner Meinung nach war die Regierung durch und durch korrupt und gehörte deshalb ausgelöscht«, erklärte Roarke. »Er dachte, dass die Menschen sich erheben und dann eine neue, reinere Gesellschaft schaffen würden. Ein Utopia ohne Anführer, weil die dann nicht mehr nötig wären.«
»Am Ende haben sie ihn erwischt und ihn gestoppt, aber das hat den Menschen auch nicht mehr geholfen, die infolge seiner Machenschaften umgekommen sind. Er war mein Vater.«
»Ihnen als seiner Tochter hätte niemand je einen Job in der Computerbranche gegeben«, schloss Eve.
»Wahrscheinlich hätte ich auch keinen anderen Job gekriegt. Ich war erst zwei, als er verhaftet wurde, und weil er schon vorher angefangen hatte, seine schrägen Theorien zu verbreiten, hatte meine Mutter ihn bereits verlassen, kurz nachdem ich auf die Welt gekommen war. Trotzdem haben sie uns eingesperrt, als er die Daten aus dem Pentagon geklaut und ihnen gesagt hat, wer er ist. Sie haben uns eingesperrt und meine Mutter tagelang verhört. Obwohl sie ihn schon zwei Jahre zuvor verlassen hatte, hat sie ihnen das Wenige erzählt, was sie über ihn wusste, und mithilfe dieser Infos haben sie ihn schließlich ausfindig gemacht und weggesperrt. Danach kamen wir ins Zeugenschutzprogramm. An einen anderen Ort, mit neuen Namen und allem Drum und Dran. Meiner Mutter haben sie jede Arbeit mit Computern untersagt, aber ich selber war erst zwei, deswegen durfte ich dann später in die Branche gehen. Ich bin wirklich gut, aber gehackt habe ich nie. Das schwöre ich.«
»Okay. Larinda hat herausgefunden, wer Ihr Vater war.«
Entschlossen wischte Phoebe sich die Tränen aus dem Gesicht. »Sie hat es herausgefunden, obwohl nichts davon in meinen Unterlagen stand. Ich hatte mich beim Sender mit dem Namen beworben, den man mir im Zeugenschutzprogramm gegeben hatte, aber trotzdem hat sie es herausgefunden und mich zu sich ins Büro bestellt. Ich dachte, dass sie Hilfe mit ihrem Computer braucht, aber dann hat sie gesagt, sie wüsste, wer ich bin und dass sie mich und meine Mutter ruinieren kann. Dass sie uns bloßstellen könnte und dass niemand mehr etwas von uns wissen wollte, wenn die Leute erst erführen, wer wir sind. Wir waren ganz normale Leute, Lieutenant Dallas, doch wir hatten immer Angst, dass irgendwer dahinterkommt, wer wir früher waren. Und Mars wusste Bescheid.«
»Was wollte sie von Ihnen?«
»Erst ging es nur um Kleinigkeiten wie die Mails von Valerie Race. Ich sollte ihr die Namen ihrer Kontaktpersonen geben und ihr sagen, was sie vorhat und ob sie verreisen will. Ich habe ihr gesagt, ich wäre keine Hackerin, aber dann hat sie mir ein Bild von meiner Mum gezeigt. In New Jersey, wo sie einen Job bei einem Landschaftsgärtner hat. Das hat mir Angst gemacht, deswegen habe ich’s am Ende doch getan. Ich hatte mich noch nie in einen anderen Computer reingehackt, das schwöre ich. Aber ich habe es getan und danach immer wieder, wenn Mars mich dazu gezwungen hat. Ich habe sie auf Knien angefleht, mir das nicht anzutun, aber dann hat sie mich als Assistentin eingestellt und mir gezeigt, dass sie Beweise dafür hat, was ich für sie schon alles getan habe. Sie meinte, wenn Miss Hewitt die Beweise sähe, würde sie auf alle Fälle denken, dass das alles ganz allein auf meinem Mist gewachsen wäre, weil ich nun einmal die Tochter meines Vater wäre …«
Sie trank den nächsten Schluck von ihrem Wein. »Sie hat gesagt, dass ich mich auch in Ihr System einklinken soll.«
Roarke lächelte sie freundlich an. »In meins?«
»Ich sollte ihr alles besorgen, was ich kriegen kann, wobei es ihr vor allem um private Daten ging. Sie hat gesagt, sie würde mich vielleicht vom Haken lassen, wenn sie diese Infos kriegen würde, aber das war aussichtslos. Ich habe es versucht. Natürlich habe ich’s versucht, aber ich hatte keine Chance. Als ich ihr erklären musste, dass ich es nicht schaffe, irgendetwas über Sie herauszufinden, ist sie ausgeflippt und hat mir eine Ohrfeige verpasst.«
»Das tut mir leid.«
»Wusste sonst noch irgendjemand, was Sie tun?«, erkundigte sich Eve.
»Nein. Das heißt, Miss Furst hat sich so etwas gedacht. Ich bin wirklich froh, dass Sie es herausgefunden haben«, wandte sie sich an Nadine. »Ich bin echt froh, dass es herausgekommen ist. Ich weiß, dass ich den Sender jetzt verlassen muss. Die Arbeit dort hat mir vor der Geschichte mit Miss Mars echt Spaß gemacht, doch dann war sie im Grunde nur noch grauenhaft. Wenn ich nicht ins Gefängnis muss, fahre ich nach Hause und versuche, einen Job bei diesem Landschaftsgärtner zu bekommen, bei dem auch meine Mutter ist.«
»Haben Sie sie umgebracht?«
»Oh Gott – natürlich nicht.« Sie wurde kreidebleich. »Nein, nein. Das schwöre ich.«
»Ist Ihnen bekannt, wer sie ermordet hat?«
»Nein. Ich habe keine Ahnung, wer das war. Aber … als ich hörte, dass sie tot ist, war ich froh. Ich war erleichtert und dann habe ich mich schlecht gefühlt, weil ich erleichtert war.«
»Wo waren Sie gestern Abend zwischen sechs und sieben?«
»Hm. Bis sechs musste ich arbeiten, und als ich dann nach Hause wollte, bekam Dory eine SMS von ihrem neuen Freund. Er hat geschrieben, dass er keine Lust mehr auf sie hätte, das fand ich gemein. Sie war total am Ende, deshalb blieb ich noch ein bisschen da. Sie ist echt nett, und dann sind wir zusammen losgezogen. Ich schätze, dass es da vielleicht halb sieben war. Sie wollte nur noch nach Hause, und ich bin mit der U-Bahn heimgefahren und habe mir etwas vom Chinesen zwei Blocks unterhalb von meinem Haus geholt. Ich habe Mars nicht umgebracht und hätte auch gar nicht gewusst, wie ich das machen soll.«
»Dann werden Sie nicht ins Gefängnis müssen«, erklärte Eve ihr brüsk. »Haben Sie die Namen der Leute, in deren Computer Sie auf Mars’ Betreiben eingedrungen sind?«
»Die werde ich wahrscheinlich nie vergessen, denn ich habe diesen Leuten schließlich wirklich übel mitgespielt.«
»Ich brauche die Namen.«
Nachdem Eve sie bekommen hatte, legte Nadine Furst die Hand auf Phoebes Arm. »Jetzt haben Sie’s geschafft. Ab jetzt kümmert sich Lieutenant Dallas um die Angelegenheit. Ich habe unten einen Wagen stehen, der Sie nach Hause bringen wird.«
»Oh, nein, Miss Furst, das müssen Sie nicht tun. Ich kann auch mit der U-Bahn fahren.«
»Sie fahren jetzt nach unten ins Foyer und nennen dem Pförtner Ihren Namen, damit er den Wagen vorfahren lassen kann. Wenn Sie morgen kündigen und danach ein Empfehlungsschreiben brauchen, rufen Sie mich an.«
»Ich schäme mich für das, was ich getan habe.«
»Die Frau hat Ihnen eine Waffe an den Kopf gehalten«, meinte Eve. »Wenn Ihnen so etwas noch einmal passiert, gehen Sie am besten gleich zur Polizei.«
»Ich wünschte mir, das hätte ich getan. Die Polizei war trotz der Dinge, die mein Vater angestellt hat, immer korrekt zu uns, das heißt, mir hätte klar sein sollen, dass ich zur Polizei gehen muss.«
Nadine begleitete sie bis zur Tür und seufzte abgrundtief, als sie sich wieder auf das Sofa fallen ließ. »Am liebsten würde ich sie übernehmen, weil sie echt fleißig und aus meiner Sicht grundehrlich ist. Aber das kann ich nicht. Wahrscheinlich ist sie besser dran, wenn sie zu Hause Büsche pflanzt. Also sollte ich mir vielleicht einen Praktikanten oder eine Praktikantin holen.« Sie griff nach ihrem Glas und leerte es in einem Zug. »Eine junge, schlaue Person, die sich freut, wenn sie etwas lernen kann. Jemanden, dem ich etwas beibringen und den ich fördern kann.«
»Ist das Ihr Ernst?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Allerdings. Ich hätte wirklich gerne einen Protegé.«
»Sie sind echt gut in Ihrem Job.«
Die Journalistin prostete ihr zu. »Das sind Sie auch.«
»Ich kenne vielleicht jemanden, der für Sie geeignet ist. Jung und schlau und ziemlich kess, was aber meiner Meinung nach nicht unbedingt ein Nachteil ist. Sicher wäre sie auch durchaus lernbereit.«
»Echt? Wer?«
»Das werden Sie noch früh genug erfahren.«
»Der gute, alte Derick«, meinte Roarke, als er mit Eve zurück in die Garage fuhr.
»Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du ihn bewundert hast.«
»Tja nun, in meiner Jugend haben ihn einige als Helden angesehen. Er hat die reichen Säcke von der Wall Street nur durch Tastendrücken ausgenommen wie die Weihnachtsgänse und wollte eine völlig andere Welt erschaffen, aber dann ist er vollkommen abgedreht, was wirklich tragisch war.«
Eve runzelte die Stirn. »Dann warst du also doch ein Fan von ihm?«
»Oh nein. Er war brillant, doch gleichzeitig total verrückt und hat durch sein Treiben eine furchtbare Tragödie heraufbeschworen.«
»Okay.«
»Die Tochter tut dir leid. Mir auch. Erst war sie das Opfer eines Vaters, der ihr nie ein echter Vater war, und dann das Opfer dieses elenden, durchtriebenen Weibs.«
»Mars musste ganz schön graben, um herauszufinden, wer sie war. Ich kann mir vorstellen, dass sie Phoebe als ideales Opfer angesehen hat. Bestimmt hat sie ihr hinterhergeschnüffelt, weil sie geradezu erschreckend weich und ängstlich wirkt und offensichtlich sehr gut mit Computern umgehen kann.«
»Als sie dann herausgefunden hat, dass ihre Mutter sie alleine großgezogen hat, wollte sie wissen, wer ihr Vater ist.« Diesmal nahm Roarke hinter dem Lenkrad Platz. »Wobei es sicher alles andere als einfach war herauszufinden, dass sie Dericks Tochter ist.«
»Das stimmt. Doch jetzt zu dieser Missy Lee Durante«, meinte Eve und tippte die Adresse in das Navi ein. »Wenn Mars sich selber einen falschen Lebenslauf und Namen zugelegt hat, wusste sie wahrscheinlich, worauf sie achten musste.«
»Sie hätte sich bestimmt auch selbst in die Computer von den Leuten hacken können.«
»Wahrscheinlich hat es ihr mehr Spaß gemacht, die arme Phoebe unter Druck zu setzen, damit sie das für sie macht. Außerdem war das Mädchen der perfekte Sündenbock. Sie holt sie in ihr Team, setzt sie mit ihrem Wissen unter Druck, und falls etwas schiefläuft, wirft sie sie den Adlern vor.«
»Den Geiern«, korrigierte Roarke in beiläufigem Ton. »Wenn das Mädchen dann behauptet, dass sie es mit seinem alten Herrn erpresst hat, hat es sowieso verzockt. Das hat sie wirklich clever eingefädelt.«
»Schwingt da etwa so etwas wie Bewunderung in deiner Stimme mit?«
»Ganz sicher nicht. Ich finde, dass das alles furchtbar traurig ist. Du hast dir schon den ganzen Tag lang traurige Geschichten angehört, kein Wunder, dass du derart müde wirkst.«
»Keiner dieser Leute ist zur Polizei gegangen oder hat sich wegen dieser Sache irgendjemand anderem, der ihm hätte helfen können, anvertraut. Wie groß ist deiner Meinung nach die Chance, dass alle einfach brav getan haben, was sie will?«
Er konnte deutlich hören, wie frustriert sie war, und stellte fest: »Ich nehme an, sie kannte ihre Zielpersonen wirklich gut, bevor sie ihre ersten Giftpfeile verschossen hat.«
»Auch dich hatte sie ins Visier genommen.«
»Nicht wirklich, nein. Sie hat mir den Pfeil vielleicht gezeigt, war aber schlau genug, nicht anzulegen, als sie merkte, dass sie keinen Treffer landen kann.«
»Sie hat doch sicher auch noch andere Rückzieher gemacht oder vielleicht einfach nicht getroffen, wenn sie einen Pfeil verschossen hat. Sicher gibt es auch noch irgendwelche Leute, über die sie etwas wusste und die sie jetzt nicht mehr in die Zange nehmen kann.«
»Auch deshalb lege ich meine Hand dafür ins Feuer, dass sie irgendwo noch andere Unterlagen hatte, auf die wir bisher noch nicht gestoßen sind.«
Eve brauchte, so schnell es ging, Mars’ wirkliches Gesicht, um weiterzukommen.
»Wahrscheinlich hat sie ein paar wahre Dinge in ihr falsches Leben eingeflochten«, überlegte sie. »Vielleicht ist sie als Kind ja wirklich ständig mit den Eltern umgezogen oder war auf einem College irgendwo im Mittleren Westen, auch wenn sich dort niemand mehr an sie erinnern kann. Für die versteckten Konten hat sie Namen von Planeten angegeben, vielleicht weist das ja auf den Namen hin, den sie einmal hatte. Was gibt es alles für Planeten? Venus, Mars und Jupiter …«
»Uranus«, schlug Roarke vor.
»Ich weiß nicht, was ihr Männer alle damit habt.«
»Tja nun … Wie wäre es dann mit Saturn, Neptun oder Pluto?«, fragte er. »Wobei es bei den ganzen Monden, Sternen und Planeten, die es gibt, natürlich ewig dauern kann herauszufinden, ob ein Mädchen ihres Alters und mit einem solchen Namen damals irgendwo an einem College war.«
»Dann stelle ich am besten dich zum Graben ab.«
Er lachte fröhlich auf. »Ich wühle schließlich gern im Dreck.«
»Da habe ich ja Glück«, schloss sie das Thema ab, als er vor einem würdevollen Backsteinhaus mit hohen, sichtgeschützten Fenstern und mit einer breiten Glastür hielt.
Kaum hatte er den DSL geparkt, kam der Portier mit schwarzer Uniform und schwarzer Kappe auf dem Vierkantschädel angestürzt.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Bevor Eve ihre Marke ziehen konnte, meinte Roarke in ruhigem Ton: »Wir wollen zu Missy Lee Durante. Sie erwartet uns.«
»Natürlich.«
Höflich lief er vor und öffnete die Tür, wobei er gleichzeitig diskret ein kleines Büchlein aus der Tasche zog.
Die Eingangshalle mit den grauen Wänden und dem weißen Marmorboden war genauso würdevoll und elegant wie die Fassade, und die Frau von der Security trug keine Kappe, aber davon abgesehen dieselbe schwarze Uniform wie der Portier.
»Mr. Roarke und Lieutenant Dallas für die Drei-fünf-drei.«
»Natürlich.« Sofort führte die Frau sie zum Lift, schob ihre Schlüsselkarte durch den dafür vorgesehenen Schlitz und sagte: »Drei-fünf-drei. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«
Die Tür glitt lautlos zu.
»Du hast gar nicht erwähnt, dass das Haus dir gehört«, bemerkte Eve.
»Das wurde mir erst klar, als wir hier vorgefahren sind. Ich habe die Adressen meiner Immobilien schließlich nicht alle im Kopf.«
»Es ist ganz anders als das Haus, in dem wir eben waren.«
»Ich finde, einer Stadt wird durch Abwechslung erst echtes Leben eingehaucht. Dieses Gebäude stammt noch aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, obwohl es bei den Innerstädtischen Revolten ganz schön etwas abbekommen hat, haben die Strukturen überlebt. Hier drinnen ist noch sehr viel original, und was wir nicht retten oder restaurieren konnten, haben wir ersetzt.«
»Seit wann gehört dir dieses Haus?«
»Seit ungefähr sechs Jahren, schätze ich. Vielleicht auch schon seit sieben.« Lächelnd sah er sich in dem gepflegten Fahrstuhl um. »Wie es aussieht, halten die Angestellten es gut in Schuss.«
Sie stiegen wieder aus und gingen nach links vorbei an einem langen, chromglänzenden Tisch, auf dem ein weißer Rosenstrauß in einer durchsichtigen Vase stand, bis zu der Eckwohnung und drückten auf den Klingelknopf.
Natürlich hatte Eve die Daten des Bewohners bereits überprüft und wusste, dass er nicht mehr minderjährig war, auch wenn sein jungenhaftes Grinsen und sein strubbeliges blondes Haar ihn bestenfalls wie sechzehn aussehen ließen.
»Hallo.« Er reichte ihr die Hand. »Ich bin Marshall, und es freut mich, dass ich Sie persönlich kennenlernen darf. Ich habe zwar das Buch noch nicht gelesen, aber dafür habe ich mir Ihren Film schon dreimal angesehen. Kommen Sie doch herein.«
Er öffnete die Tür des Wohnbereichs, der mit verschiedenen Farben und Dekoren eingerichtet war, und abgesehen von der Aussicht und der Quadratmeterzahl kam Eve sich dort beinahe wie in ihrer ersten eigenen New Yorker Wohnung vor.
Missy Lee saß in geblümten Leggins unter einem langen blauen Pulli auf dem durchgesessenen Sofa neben einem Mann mit grau meliertem, schwarzem Haar.
Dem Anzug nach ihr Anwalt, dachte Eve, Missy selbst und der junge Bursche sahen wie ein attraktives Teenie-Pärchen aus.
»Wie wäre es mit einem Glas Wein?«, bot Marshall an.
»Das ist doch der totale Fusel, Marsh.«
Er grinste breit. »So schrecklich ist der gar nicht, und wenn ich mich recht entsinne, kippst du den normalerweise durchaus gerne in dich rein. Vor allem, fühlt euch einfach wie zu Hause, ja?« Er zerrte eine Jacke von der Rückenlehne eines ziemlich wackeligen Stuhls, schlang einen meterlangen Schal um seinen Hals und setzte eine Wollmütze mit Ohrenklappen auf.
»Bis dann.«
»Noch einmal danke, Marsh.«
»Schon gut.« Er gab dem Mädchen einen Kuss, bat: »Ruf mich an«, und schlenderte hinaus.
»Der Wein ist wirklich ungenießbar, doch das Bier ist gar nicht mal so schlecht«, fing Missy an.
»Wir möchten nichts«, erklärte Eve.
»Das hier ist Marshs Wohnung.«
»Marshall Poster?«, vergewisserte sich Eve. »Er spielt in Ihrer Serie den Tad, nicht wahr?«
»Genau, den Oberarsch, obwohl er eigentlich ein echtes Schätzchen ist. Die Serie ist sein großer Durchbruch, und obwohl er dachte, dass er deshalb eine schicke Wohnung irgendwo in einem ordentlichen, sicheren Gebäude brauchte, hat er sie wie früher seine anderen Buden hauptsächlich mit Zeug vom Sperrmüll und vom Flohmarkt vollgestellt.«
Sie blickte Richtung Tür. »Als ich wissen wollte, ob ich Sie hier treffen könnte, hat er nicht einmal gefragt, warum, sondern sofort Ja gesagt, denn er ist ein echt netter Kerl.«
Mit einem leisen Seufzer fügte sie hinzu: »Ich wohne sowieso die halbe Zeit bei ihm, wobei das niemand wissen soll. Nicht mal die Filmcrew weiß Bescheid.«
»Wusste Larinda Mars etwas davon?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht, sonst hätte sie bestimmt die Sprache drauf gebracht. Oder vielleicht hat sie es noch zurückgehalten, auch wenn es die Welt bestimmt nicht aus den Angeln heben wird, wenn unsere Fans erfahren, dass Marsh und ich zusammen sind.«
»Sie wusste sicher nichts davon. Sonst hätte sie auf jeden Fall etwas gesagt. Sie hätte der Versuchung niemals widerstehen können«, meinte Eve.
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber schließlich hatte sie bekommen, was sie wollte, deshalb hat sie sich vielleicht nicht weiter für mich interessiert. Wie dem auch sei, vertraue ich Marsh blind, vielleicht werde ich ihm sogar irgendwann erzählen, worüber ich mit Ihnen sprechen will. Es geht dabei um eine rein private Angelegenheit, trotzdem dachte ich, ich ziehe vorsichtshalber meinen Anwalt Anson Gregory hinzu.«
Der Mann stand auf und gab erst Eve und danach Roarke die Hand. »Miss Durante hat mir schon erklärt, worum es geht, ich vertrete sie in dieser Angelegenheit.«
»Es tut mir leid.« Die junge Frau sprang auf. »Geben Sie mir erst einmal Ihre Mäntel und dann nehmen Sie doch bitte Platz. Ich habe leider keinen Kaffee, weil wir beide keinen trinken, aber sicher finde ich etwas anderes, falls Sie etwas trinken wollen.«
»Wir möchten nichts«, erklärte Eve noch einmal und ließ dann einfach ihren Mantel auf den Stuhl fallen, auf dem Marshalls Jacke eben noch gelegen hatte. »Ich nehme unsere Unterhaltung auf und kläre Sie jetzt zuerst über Ihre Rechte auf.«
Der Anwalt nickte und nahm gleichzeitig mit Missy wieder Platz.
»Haben Sie verstanden?«, fragte Eve am Ende der Belehrung.
»Ja. Als Erstes muss ich Ihnen sagen, dass ich Sie verklagen werde, falls die Medien irgendetwas von den Dingen erfahren, um die es jetzt gleich gehen wird. Das wird mir zwar nicht wirklich etwas bringen, aber Sie bekommen dann zumindest jede Menge Scherereien.«
Ihr Anwalt bückte sich nach seiner Aktentasche, stellte sie sich auf den Schoß und zog ein Dokument daraus hervor. »Ich habe bereits die Verschwiegenheitserklärung, die Sie bitte unterzeichnen, aufgesetzt.«
Eve schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Weder ich selbst noch mein Berater unterschreiben so ein Dokument. Wir können Ihre Mandantin gerne aufs Revier holen und dort offiziell befragen, oder führen die Unterhaltung hier und jetzt und geben unser Wort, dass nichts davon nach außen dringen wird, solange es nicht von Belang für die Ermittlungen oder von strafrechtlichem Interesse ist.«
»Einen Versuch war’s wert«, bemerkte Missy Lee, bevor ihr Anwalt die Gelegenheit zu einer Reaktion bekam. »Genau wie ich bereit bin, Ihnen im Notfall vor Gericht die Ärsche aufzureißen, bin ich auch bereit zu reden. Also.«
»Vielleicht fangen wir damit an, dass Sie uns sagen, wo Sie gestern Abend zwischen sechs und sieben Uhr waren.«
»Wir haben bis sechs, Viertel nach sechs im Studio gedreht. Dann bin ich abgehauen und hierhergefahren. Am besten schauen Sie sich die Aufnahmen der Überwachungskameras, die in der Lobby hängen, an. Dann sehen Sie, wann ich ins Haus gekommen bin. Ich hatte einen schwarzen Mantel an und eine hässliche Perücke auf dem Kopf. Wir halten unsere Beziehung noch geheim«, erklärte sie erneut. »Die Türsteher und Leute am Empfang wissen Bescheid, aber sie würden für ein bisschen Tratsch bestimmt nicht ihre Jobs riskieren. Vor allem gehen sie echt cool mit uns als Pärchen um. Trotzdem kommen wir nie gleichzeitig ins Haus und gehen auch nie zusammen weg. Deshalb kam Marshall vielleicht eine Viertelstunde nach mir heim. Er hatte Pizza mitgebracht, also haben wir erst einmal gegessen, noch ein bisschen unseren Text geprobt und … anderes Zeug gemacht«, wich sie mit einem Lächeln aus. »Gegen halb elf bin ich dann wieder abgehauen. Normalerweise bleibe ich nicht über Nacht, wenn wir am nächsten Morgen drehen. Also bin ich auch gestern Abend heimgefahren.«
»Wie sind Sie vom Studio hergekommen?«
»Mit dem Chauffeur, den mir die Produktionsgesellschaft zur Verfügung stellt. Ich habe ihm erzählt, dass ich meine Familie noch zum Abendessen treffen will, und ihm gesagt, dass er mich vor dem Eingang eines Restaurants zwei Blocks von hier entfernt absetzen soll. Dann habe ich mich kurz in einen Hauseingang gestellt, meine Perücke aufgesetzt und bin den Rest des Wegs gelaufen wie sonst auch.«
Sie lachte gurgelnd auf. »Wenn ich mich so höre, komme ich mir deshalb ziemlich dämlich vor. Am besten rede ich mit Marsh und sage ihm, dass das Versteckspiel langsam mal ein Ende haben muss.«
»Sie waren auf den Kanaren?«
Das Mädchen riss die Augen auf. »Aber hallo, offenbar sind Sie so gut wie allgemein behauptet wird. Genau, wir haben dort einen Familienurlaub gemacht. Da hat mich das Weib erwischt. Erst dachte ich, verdammt, jetzt geht die Königin des Klatschs und Tratschs mir auf den Keks, während ich einfach einen netten Urlaub haben will. Dann dachte ich, am besten spiele ich ein bisschen mit und werfe ihr ein bisschen Futter hin, damit sie mich danach in Ruhe lässt. Nur hat sie eben nicht nach irgendeiner Kleinigkeit gesucht.«
»Was hatte sie gegen Sie in der Hand?«
»Gegen mich persönlich? Nichts. Gegen meine Familie? Viel zu viel. Verdammt, verdammt, verdammt! Jetzt brauche ich wahrscheinlich doch erst mal ein Glas von diesem grauenhaften Wein. Moment.«
Als Missy Lee den Raum verließ, sah der Anwalt ihr hinterher. »Sie ist eine anständige, junge Frau und arbeitet sehr hart. Sie haben sie doch bestimmt schon überprüft und wissen deshalb, dass sie nie in Schwierigkeiten war und ihren Fans und allen, die sie liebt, viel mehr zurückgibt, als sie je von ihnen bekommen hat.«
»Hat sie Sie informiert, als Mars sie angesprochen hat?«
Er zögerte. »Das hat sie nicht getan. Und das tut mir sehr leid, denn schließlich säßen wir sonst nicht hier.«
In diesem Augenblick kam Missy Lee zurück und hielt ein Glas mit eitergelbem Fusel in der Hand.
Sie trank den ersten kleinen Schluck, erschauderte und meinte: »Wirklich widerlich. Aber okay. Ich mache diesen Job bereits mein Leben lang. Den ersten Auftritt hatte ich als Baby einer leidgeprüften Frau in einer Serie, die im Frühstücksfernsehen kam. Dann kamen Auftritte als kleines Mädchen, Kindermodel und verschiedener anderer Kram. Meine Eltern haben mich immer unterstützt, und mein Dad hat mich gemanagt, bis wir darin übereingekommen sind, dass es am besten ist, wenn mich ein Profi, der keine so enge Bindung zu mir hat, vertritt. Trotzdem hat mein Dad bis heute großen Anteil an meiner Karriere, während meine Mutter sich schon immer eher aus allem herausgehalten hat.«
Sie nippte abermals an ihrem Wein, zuckte zusammen und fuhr fort: »Meine Mutter hat – Wie soll ich sagen? – ein Problem mit einer illegalen Substanz. Sie war deshalb schon öfter in der Reha, danach geht’s immer eine Zeit lang gut, bevor sie wieder einen Rückfall hat. Jetzt ist sie schon seit zwei Jahren clean, aber ich weiß, dass es auf Dauer nicht so bleiben wird. Das habe ich inzwischen akzeptiert. Ich akzeptiere und ich liebe sie genauso, wie sie ist, denn schließlich ist sie meine Mum.«
Sie trank den nächsten Schluck, und dieses Mal verzog sie das Gesicht. »Immer, wenn sie aus der Reha kommt, bildet mein Dad sich ein, sie hätte es geschafft und ein für alle Mal Schluss mit diesem Zeug gemacht. Vielleicht glaubt sie das auch, doch darum geht es nicht. Es geht darum, dass er sie mehr als alles andere liebt und für ihre Schwächen blind ist. Er nennt uns seine Mädels, und ich weiß, dass er uns alle liebt. Egal zu welchem Preis – und der ist wirklich hoch –, wir haben dafür gesorgt, dass niemand etwas von ihren Problemen erfahren hat. Und mit dem Preis meine ich mehr als nur das Geld, das die Geheimhaltung uns im Verlauf der Zeit gekostet hat.«
»Mars hat herausgefunden, wie es um sie steht, und Ihnen damit gedroht, dass sie die Angelegenheit in ihrer Sendung bringt.«
»Wobei es auch noch um etwas anderes ging. Wenn’s einzig um die Drogensucht von meiner Mum gegangen wäre, hätte es uns allen vielleicht gutgetan, wenn dieser Kreislauf endlich auf die eine oder andere Art durchbrochen worden wäre, und ich war nicht sicher, ob ich einzig meinem Dad zuliebe zahlen wollte.«
»Wem zuliebe haben Sie es dann getan?«
Sie schloss kurz die Augen, schlug sie dann wieder auf und sah Eve ins Gesicht. »Vor vierzehn Jahren ist meine Mutter derart aus dem Gleichgewicht geraten, dass es kurzfristig zu einer Trennung zwischen ihr und meinem Vater kam. Ich war damals noch nicht berühmt genug, als dass das in den Medien hohe Wellen geschlagen hätte, was ein echter Segen für uns alle war. Wir lebten damals an der Westküste in New L.A, und meine Mutter ist mit diesem Dreckskerl, der ihr den Stoff besorgt hat, abgehauen. Sie war so übel drauf, dass sie sogar ein Konto, das mein Dad mit ihr zusammen hatte, leergeräumt hat und dazu auch noch an das von mir verdiente Geld gegangen ist, von dem wir einmal meine Ausbildung bezahlen wollten. Als sie dann eines Tages wieder auf der Matte stand, hat sie erzählt, sie hätten ein paar Inseln in der Südsee abgeklappert und dabei die ganze Kohle auf den Kopf gehauen. Bis dann das Geld zur Neige ging und dieser Mistkerl angefangen hat, sie zu misshandeln, als bei ihr nichts mehr zu holen war. Da kam sie heimgerannt, und Dad hat sie natürlich wieder aufgenommen«, erklärte sie mit einem Achselzucken, das Eve zeigte, dass es so wahrscheinlich öfter abgelaufen war.
»Zwei Wochen später, in der nächsten Reha, wurde festgestellt, dass meine Mutter schwanger war.«
»Von diesem Dealer?«, fragte Eve, als nichts mehr kam.
Mit einem neuerlichen Achselzucken trank sie einen weiteren, kleinen Schluck von ihrem Wein. »Vielleicht, das heißt wahrscheinlich, aber sicher ist das nicht, weil schließlich längst auch wieder etwas zwischen ihr und meinem Vater lief. Mein Dad bestand darauf, dass er der Vater wäre, und für meine Mum war das okay. Ich wusste damals nichts davon, doch Kinder sind nicht dumm und finden Dinge raus.«
Stirnrunzelnd sah sie in ihr Glas, und während eines Augenblickes hatte ihre Stimme einen jungen, wehmütigen Klang.
»Danach lief’s eine Zeit lang wirklich gut. Die ganze Schwangerschaft hindurch blieb meine Mutter clean, ernährte sich gesund, und wir alle waren glücklicher als je zuvor. Ich liebte meine Arbeit, hatte jede Menge Jobs, und mein Dad hat mich gemanagt, während meine Mum den Haushalt schmiss und Partys gab. So lief es, bis Jenny drei war und es wieder einen kleinen Rückfall gab. Zwar hat sich meine Mutter schnell davon erholt, doch dann geriet sie abermals ins Stolpern, und das Drama ging von vorne los.«
Mit kalter, ausdrucksloser Stimme fuhr sie fort: »Zumindest war sie fast drei Jahre clean, und wir waren überglücklich, weil es Jenny gab, denn sie ist unser Ein und Alles, unser Augenstern. Ich liebe meine Mum, so gut ich kann, aber ich würde sie sofort ans Messer liefern, wenn es darum ginge, Jenny auch nur einen Augenblick der Scham oder der Trauer zu ersparen, denn sie ist meine Schwester und mein großes Glück, sie bedeutet mir die Welt.«
»Dann haben Sie Mars also bezahlt, um Ihre Schwester zu beschützen.«
»Jenny ist mein Ein und Alles, obwohl ich meinen Vater ebenfalls sehr liebe, ist er tief in seinem Innern immer noch ein großer Junge, und auch wenn ich Skrupel hätte, würde ich ihn notfalls ebenfalls ans Messer liefern, wenn ich Jenny damit beschützen müsste. Ich würde alles tun, damit sie sicher und vor allem glücklich ist. Sie ist ein wundervoller, kluger, lustiger und warmherziger Mensch.«
Ein Lächeln huschte über Missy Lees Gesicht. »Selbst in der Pubertät, in der die meisten Mädchen wirklich schwierig sind, heult sie vielleicht mal fünf Minuten rum, aber das ist es dann auch schon. Ich liebe Jenny mehr als alles und als jeden anderen auf der Welt.«
Jetzt atmete sie zitternd ein. »Im Notfall kann ich eine echte Zicke sein und weiß, wie ich mich selbst und meine Leute vor den Parasiten, vor den Trittbrettfahrern und den Blutsaugern beschützen kann. Ich weiß, wie man das macht. Aber trotzdem wäre ich niemals auf die Idee gekommen, Mars zu töten, weil sie eine elende Vampirin ist. So ticke ich ganz einfach nicht. Aber wenn ich auf die Idee gekommen wäre, hätte ich mir vielleicht überlegt, wie ich das anstellen soll.«
»Missy Lee.«
Sie tätschelte dem Anwalt beinah nachsichtig den Arm. »Ich bin nur ehrlich, und das fühlt sich völlig richtig an. Ich weiß, dass ich mit dieser Frau ganz offen sprechen kann, weil sie die Dinge, die ich sage, nachvollziehen kann.«
»Das stimmt«, erklärte Eve mit ehrlichem Respekt.
»Ich hätte vielleicht überlegt, wie ich es anstellen soll, aber das habe ich nun einmal nicht getan. Stattdessen habe ich bezahlt. Es war nur Geld, von dem ich ganz problemlos mehr verdienen kann. Ich habe, seit ich auf der Welt bin, Geld verdient, und so wird es auch weitergehen. Solange diese Sumpfkuh Geld von mir bekam, hatte sie keinen Grund, mich selbst oder Jenny bloßzustellen. Ich habe sie gehasst – und das ist noch sehr milde ausgedrückt –, aber ich bin nicht dumm. Verdammt!«
Sie schwenkte kurz ihr Glas, in dem ein Rest des gelben Weißweins schwamm. »Ich will ganz ehrlich sein – ich bin tatsächlich alles andere als dumm. Wenn ich also auf die Idee gekommen wäre, dieses Weibsbild umzubringen, wäre mir bewusst gewesen, dass ihr Tod mir wahrscheinlich am Ende gar nichts nützt. Denn schließlich sind Sie hier und kriegen alles von mir zu hören, was ich verschweigen wollte, weil jemand sie ermordet hat.«
Eve dachte, du bist wirklich schlau und hast vollkommen recht.
»Sie wurde umgebracht, und jetzt kommt all der Dreck, den sie gesammelt hat, ans Tageslicht.«
Sie beugte sich ein wenig vor und fuhr mit rauer Stimme fort: »Jenny ist auf jede vorstellbare Art die Tochter meines Vaters und liebt ihn genauso wie er sie. Es bräche ihr das Herz, wenn sie erfahren würde, dass sie eigentlich die Tochter dieses Arschlochs ist, mit dem meine Mutter damals durchgebrannt ist. Deswegen hat es mir nicht wirklich wehgetan, dafür zu zahlen, dass sie das nie erfahren muss.«
»Wie haben Sie Mars bezahlt?«
»In bar. Die Summe hat sie jeden Monat neu bestimmt. Sieben-, acht-, neuntausend, je nachdem. Vielleicht hing das von ihrer Stimmung ab. Sie hat mich entweder in ein Bistro unweit des Studios bestellt oder sich irgendwo bei einem Event von mir bezahlen lassen, wo wir beide waren. In dem Lokal, in dem man sie ermordet hat, war ich noch nie, denn dafür muss man schließlich einundzwanzig sein.« Sie prostete Eve lächelnd mit dem Weinglas zu. »In Kneipen kriege ich noch keinen Alkohol und weiß vor allem, dass Trinken schlecht fürs Image ist. Aber im Grunde bin ich sowieso ein geradezu erschreckend braves Mädchen, arbeite sehr hart und werde dafür sorgen, dass es auch so bleibt.«
Mit diesen Worten stellte sie ihr Weinglas fort und sah Eve direkt ins Gesicht. »Machen Sie meiner Schwester nicht das Leben schwer.«
»Das habe ich nicht vor. Wusste Ihr Vater, dass Sie Mars bezahlen?«
Das Mädchen stieß ein nachsichtiges Lachen aus, als wäre es erwachsen und als hätte Eve als Kind sich einen dummen Scherz erlaubt. »Ist das Ihr Ernst? Ganz sicher nicht. Ich kümmere mich selbst um mein Leben und mein Geld. Ich liebe meinen Dad, aber ich weiß auch, dass er seine Schwächen hat. Und wenn man Schwächen hat, hat man nicht die geringste Chance gegen jemanden wie Mars. Er hätte meiner Mutter von der Angelegenheit erzählt, weil er ihr immer alles sagt, und das wäre für sie bestimmt ein guter Grund gewesen, sich nach einem neuen Dealer umzusehen.«
Sie fuhr mit einem Finger durch die Luft. »Damit hätten wir das Karussell wieder in Gang gesetzt.«
»Das heißt, Sie haben niemandem davon erzählt.«
»Ich bin inzwischen fast ein Jahr mit Marsh zusammen. Was hinlänglich beweisen dürfte, dass ich ein Geheimnis wahren kann.«
»Hat sie Sie je gebeten, sie privat zu treffen? Entweder in ihrer Wohnung oder irgendwo an einem anderen Ort?«
»Nein.« Das Mädchen spitzte nachdenklich die Lippen. »Seltsam, oder nicht? Sie hat mich immer irgendwo getroffen, wo noch jede Menge anderer Leute waren. Vielleicht hat sie genossen, dass mir diese Treffen immer etwas peinlich waren. Oder vielleicht dachte sie, ich würde mich nicht trauen, ihr vor allen anderen eine runterzuhauen. Ich war nicht die Einzige«, stellte sie plötzlich fest. »Das Weib hat außer mir noch andere erpresst, nicht wahr?«
»Auch ich kann ein Geheimnis wahren.«
Eve stand auf, Missy Lee erhob sich ebenfalls und reichte ihr die Hand. »Das ist die perfekte Antwort. Ich bin ziemlich gut darin zu wissen, wem ich trauen kann, und Ihnen traue ich.« Sie gab auch Roarke die Hand. »Genau wie Ihnen.«
»Ich nehme an, dass Ihre Schwester Sie sehr liebt«, bemerkte er.
»Das tut sie. Und sie weiß, dass sie sich stets auf mich verlassen kann.«