»Mach dir keinen Kopf drüber, Babe.« Sams Worte, nachdem ich ihr von der Handtasche erzählt habe. »Das weiß ich schon. Wenn sie wichtig gewesen wäre, hätte ich sie mitgenommen.«
Wir sitzen in ihrem Zimmer, sie rauchend am Fenster, ich nervös auf dem Bettrand.
»Und du bist sicher, dass nichts Belastendes drin ist?«
»Ganz sicher. Schlaf jetzt.«
Ich könnte noch viel mehr fragen. Was hat sie mit meinen blutigen Kleidern gemacht? Warum hat sie mich im Park durchdrehen lassen? Lag es an meiner blinden Wut, dass diese winzige Erinnerung an Pine Cottage zurückkam? All das bleibt ungesagt. Ich weiß, selbst wenn ich fragen würde, Sam würde mir keine Antwort geben.
Also verabschiede ich mich von ihr, gehe in die Küche, nehme ein Xanax mit Traubenschorle und lege mich aufs Sofa, bereit für eine weitere schlaflose Nacht. Aber zu meiner Überraschung gelingt es mir, wegzudösen. Ich bin einfach zu erschöpft, um mich dagegen zu wehren.
Allerdings ist es kein langer Schlaf – er endet mit einem Albtraum ausgerechnet von Lisa. Sie steht mitten in Pine Cottage. Aus ihren aufgeschnittenen Pulsadern sprudelt Blut. In den Händen hält sie Sams Tasche, die davon durchtränkt wird. Sie streckt sie mir entgegen und sagt lächelnd: Das da hast du vergessen, Quincy.
Mit einem Ruck erwache ich, fahre wild um mich schlagend hoch. In der Wohnung herrscht Stille, aber ich spüre so etwas wie ein Echo. Wahrscheinlich habe ich geschrien. Eine Minute lang verharre ich in der Erwartung, dass jemand aufgewacht ist. Sam und Jeff müssen mich doch gehört haben. Aber vielleicht habe ich auch gar nicht geschrien. Vielleicht war es nur im Traum.
Draußen vor dem Fenster zieht sich die Dunkelheit zusehends zurück. Der Morgen ist nicht mehr fern. Ich weiß, ich sollte versuchen, noch etwas zu schlafen – sonst werde ich bald zusammenbrechen. Aber meine Nerven sprühen Funken. Die einzige Methode, sie zu beruhigen, ist, zurück in den Park zu gehen und nachzusehen, ob die Tasche noch da ist.
Also schleiche ich mich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Jeff schnarcht leicht vor sich hin. Rasch ziehe ich mir meine Joggingsachen über, dazu fingerlose Handschuhe, um die Abschürfungen an meinen Knöcheln zu verbergen, die schon Krusten bekommen.
Die paar Blocks zum Park bringe ich im Sprinttempo hinter mich. Bei Rot stürme ich über die Central Park West, was ein herannahendes Taxi zu einer Vollbremsung zwingt. Der Fahrer hupt. Ich ignoriere ihn. Überhaupt ignoriere ich alles, bis ich zu der Stelle komme, wo mir die Tasche aus der Hand geschlagen wurde. Wo ich einen Mann so verprügelt habe, dass sein Gesicht aussah wie ein fauliger Apfel.
Der Mann ist nicht mehr da. Die Handtasche auch nicht. Stattdessen ist da Polizei – ein Dutzend Beamte, die in einem großen Rechteck umgeben von gelbem Absperrband herumwuseln. Das Ganze sieht aus wie ein Tatort in Krimiserien. Auf dem abgesperrten Gebiet suchen Beamte das Gras ab, beraten sich miteinander, trinken dampfenden Kaffee aus Plastikbechern.
Ich bewege mich nicht weiter vorwärts, sondern jogge auf der Stelle. Trotz der frühen Stunde haben sich im blaugrauen Morgenlicht schon ein paar Gaffer eingefunden.
»Was ist passiert?«, frage ich eine von ihnen, eine ältere Frau mit einem ebenso seniorenhaft wirkenden Hund.
»Da wurde einer zusammengeschlagen. Ganz brutal.«
»Wie schrecklich.« Ich hoffe, dass es angemessen spontan klingt. »Wie geht es ihm?«
»Einer von den Jungs da drin meinte, er liegt im Koma.« Sie flüstert das Wort mit einem empörten Unterton. »Es gibt so viele kranke Menschen hier in der Stadt.«
Meine Gefühle, als ich das höre, sind widersprüchlich. Freude, dass der Mann noch lebt, dass ich ihn tatsächlich nicht umgebracht habe. Erleichterung, dass die Polizei ihn, wenn er wirklich im Koma liegt, noch nicht vernehmen kann. Schlechtes Gewissen, dass ich darüber erleichtert bin.
Und Sorge. Mehr als alles andere. Sorge wegen der Handtasche, die die Polizei vielleicht gefunden hat. Oder die jemand anderes mitgenommen hat. Oder die einer der Kojoten, die auf unerklärliche Weise immer wieder im Park auftauchen, ins Gebüsch gezerrt hat. Egal, was mit ihr passiert ist, solange sie sich nicht in unserem Besitz befindet, kann sie mich mit der Gewalttat in Verbindung bringen. Sie ist voller Fingerabdrücke von mir.
Das ist der Grund für meine finstere Miene, als ich nach Hause komme. Als ich in die Wohnung schlüpfe, steht Jeff in T-Shirt und Boxershorts in der Küche.
»Quincy? Wo warst du denn?«
»Joggen.«
»Um diese Zeit? Die Sonne ist noch nicht mal aufgegangen.«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Jeff mustert mich mit verquollenen Augen. Der Schlaf umgibt ihn noch dick wie Nebel. Er kratzt sich am Kopf. Er kratzt sich in der Leiste. Er sagt: »Ist alles okay? Das hört sich gar nicht nach dir an, Quinn.«
»Alles gut«, sage ich – was kein bisschen stimmt. Ich fühle mich hohl, als wären meine Innereien mit dem Eisportionierer herausgeschabt worden, mit dem ich Teig in Muffinförmchen löffle. »Mir geht’s super.«
»Ist es wegen heute Nacht?«
Ich erstarre. Frage mich, was er mitbekommen haben könnte. Schon dass ich überhaupt etwas vor ihm geheim halte, verursacht mir ein schlechtes Gewissen. Dass er womöglich etwas darüber weiß, macht es noch viel schlimmer.
»Dass ich nach Chicago muss.«
Ich atme aus. Langsam, damit er nicht misstrauisch wird. »Natürlich nicht.«
»Es schien dich aber ziemlich zu ärgern. Mich ärgert es, glaub mir. Es gefällt mir nicht, wenn du hier allein mit Sam bist.«
»Wir kommen schon klar.«
Jeff kneift leicht die Augen zusammen und runzelt kaum merklich die Stirn. Der Inbegriff von Sorge. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Ja. Warum reicht dir meine Antwort nicht?«
»Weil du vor sechs Uhr morgens joggen warst. Und weil du gestern erfahren hast, dass Lisa Milner ermordet wurde und es keinen Verdächtigen gibt.«
»Deshalb konnte ich nicht schlafen. Und deshalb bin ich joggen gegangen.«
»Du sagst mir aber, wenn irgendwas los ist?«
Ich zwinge mich zu lächeln. Vor Anstrengung zittere ich. »Klar.«
Jeff zieht mich an sich. Er ist warm und weich und riecht leicht nach Schweiß und dem Weichspüler von der Bettwäsche. Ich versuche die Umarmung zu erwidern, aber ich kann nicht. Ich bin solcher Zuneigung nicht würdig.
Später bereite ich ihm Frühstück, während er sich für die Arbeit fertig macht.
Wir essen schweigend, ich mit der Hand in einem Geschirrtuch auf dem Schoß, um die Schürfwunden zu verbergen, während Jeff die New York Times durchblättert. Ich schiele verstohlen auf die Seiten, in der Gewissheit, eine Meldung über den Mann im Park zu lesen, obwohl mir klar ist, dass es dazu zu früh ist. Meine Tat fand nach Redaktionsschluss statt. Dieser Schrecken bleibt mir für morgen reserviert.
Kaum ist Jeff weg, ziehe ich mir den Schlüssel vom Hals und schließe meine geheime Schublade auf. Der Füller, den Sam im Café gestohlen hat, liegt obenauf. Ich nehme ihn heraus und kritzle damit ein einzelnes Wort auf mein Handgelenk.
SURVIVOR
Dann springe ich unter die Dusche und zwinge mich, nicht zu blinzeln, bis das Wasser die Tinte abgewaschen hat.
Sam und ich reden nicht miteinander.
Wir backen.
Die Aufgaben sind klar definiert. Tarte Tatin mit Karamellsauce für mich, Zuckerplätzchen für Sam. Unsere Arbeitsplätze liegen auf entgegengesetzten Seiten der Küche, wie zwei feindliche Lager an gemeinsamer Front. Während ich den Teig knete, untersuche ich immer wieder meine Hände, überzeugt, dass in den Falten der Handflächen noch Spuren von Blut sind. Aber alles, was zu sehen ist, ist rosige Haut, aufgequollen von zu viel Waschen.
»Ich weiß, du machst dir noch Gedanken«, sagt Sam.
»Alles gut.«
»Wir haben wirklich richtig gehandelt.«
»Wirklich?«
»Ja.«
Meine Hände zittern leicht, als ich anfange, die Honeycrisp-Äpfel zu schälen. In langen Girlanden fällt die rotgelbe Schale auf die Arbeitsfläche. Ich starre sie konzentriert an und hoffe, dass Sam dann aufhören wird zu reden. Es funktioniert nicht.
»Wenn du jetzt doch noch zur Polizei gehst, wird es auch nicht wieder gut«, sagt sie. »Egal wie sehr du es dir wünschst.«
Ich will ja gar nicht zur Polizei gehen. Aber ich glaube, ich muss. Durch Jeffs Arbeit weiß ich, dass es immer besser ist, ein Verbrechen von sich aus zu gestehen, als wenn die Polizei es herausfindet. Geständigen Tätern zollen die Cops wenigstens einen minimalen Respekt. Die Richter auch.
»Wir sollten es Coop sagen.«
»Bist du völlig durchgeknallt?«
»Vielleicht kann er uns helfen.«
»Er ist trotz allem ein Bulle.«
»Er ist mein Freund. Er versteht es bestimmt.« Hoffe ich wenigstens. Er hat so oft gesagt, dass er alles tun würde, um mich zu beschützen. Stimmt das, oder hat Coops Treue ihre Grenzen? Schließlich hat er das der Quincy versprochen, die er zu kennen glaubt – nicht der, die sie wirklich ist. Ich weiß nicht, ob es auch für die Quincy gelten würde, die, seit sie heute früh aus dem Park zurückgekommen ist, schon zwei Xanax genommen hat. Oder für die Quincy, die spiegelnde Gegenstände klaut, nur damit sie sich darin betrachten kann. Oder für die Quincy, die einen Mann ins Koma prügelt.
»Lass es, Babe«, sagt Sam. »Alles ist gut. Wir sind aus dem Schneider. Keiner kann uns was.«
»Und du bist absolut sicher, dass in der Handtasche nichts war, was zu uns führen könnte?«, frage ich vermutlich zum fünfzigsten Mal.
»Ganz sicher. Entspann dich.«
Eine Stunde später klingelt mein Handy, gerade als ich die Tarte Tatin aus dem Ofen hole. Ich stelle sie auf die Arbeitsfläche, reiße mir einen Topfhandschuh von der Hand und nehme den Anruf an. Eine Frauenstimme ertönt.
»Könnte ich bitte Miss Quincy Carpenter sprechen?«
»Am Apparat.«
»Miss Carpenter, hier spricht Detective Carmen Hernandez von der Polizei New York.«
Ich erstarre. Vor Angst wird mir eiskalt. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, das Handy nicht fallen zu lassen. Und dass ich noch sprechen kann, ist ein kleines Wunder.
»Was kann ich für Sie tun, Detective?«
Bei diesen Worten fährt Sam herum, eine große Rührschüssel an sich gepresst.
»Hätten Sie heute vielleicht Zeit, kurz auf die Polizeistation Central Park zu kommen?«
Was sie sonst noch sagt, höre ich nur halb. Mein schockgefrosteter Zustand hat sich auf die Ohren ausgeweitet. Aber die Stichworte sind deutlich. Wie Schläge mit einem Eispickel.
Central Park. Handtasche. Fragen. Viele Fragen.
»Natürlich«, sage ich. »Ich komme so bald wie möglich.«
Nachdem ich den Anruf beendet habe, löst brennende Verzweiflung meine Angst ab. Gefangen zwischen Eis und Hitze weiß ich mir nicht zu helfen und löse mich auf dem Küchenboden in Tränen auf.