24

Später Vormittag.

Bryant Park.

Die Ruhe vor dem Mittagsansturm. Schon tröpfeln aus den Büros in der Nähe die ersten Angestellten, die sich etwas früher herausgeschlichen haben. Ich beobachte sie von meinem Platz im Schatten der Öffentlichen Bibliothek aus, neidisch auf ihre Geselligkeit, ihr sorgenfreies Leben.

Es ist sonnig, wenn auch noch ein bisschen kalt. Die Baumkronen, die die Wege im Park säumen, sind mattgolden verfärbt. Das Efeu an den Baumstämmen kauert sich schon für den Winter zusammen.

Dann taucht Jonah auf der anderen Seite des Parks auf – ein leuchtender Haarschopf, der durch die Menge hüpft. Er ist gekleidet wie für ein erstes Date. Kariertes Hemd. Sakko mit Einstecktuch. Weinrote Chinohose mit Aufschlag. Keine Socken, obwohl der Oktober sich von seiner frostigen Seite zeigt. So ein eitler Schnösel.

Ich trage dieselben Kleider wie gestern, weil ich zu müde war, um frische herauszusuchen. Das Gespräch mit Coop hatte mich so weit beruhigt, dass ich ein bisschen schlafen konnte, aber die fünf, sechs Stunden haben nicht ausgereicht, um das Defizit der vergangenen Woche auszugleichen.

Als Jonah vor mir steht, lächelt er. »Eine Kollegin und ich haben um zehn Dollar gewettet, ob Sie kommen würden oder nicht.«

»Gratuliere zu den zehn Dollar.«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe auf Nichterscheinen gesetzt.«

»Nun, hier bin ich.«

Ich gebe mir keine Mühe, meine Müdigkeit zu überspielen. Ich klinge wie jemand mit ernsthaften Schlafstörungen oder massiven Kopfschmerzen. Tatsächlich habe ich beides. Der Kopfschmerz sitzt gleich hinter meinen Augen, weshalb ich sie zusammenkneifen muss, als ich Jonah anschaue, der fragt: »Schön, und jetzt?«

»Jetzt haben Sie eine Minute, um mich zum Bleiben zu überreden.«

»In Ordnung.« Er schaut auf die Uhr. »Aber bevor wir die Zeit stoppen, möchte ich eine Frage stellen.«

»Natürlich wollen Sie das.«

Jonah kratzt sich am Kopf. Sein Haar behält die Form. Er muss sich stundenlang frisiert haben. Wie eine Katze, denke ich. Oder diese Affen, die sich ständig Sachen aus dem Fell zupfen. »Können Sie sich auch nur entfernt an mich erinnern?«

Ich erinnere mich, wie er mir auf dem Bürgersteig vor meinem Haus aufgelauert hat und dass ich ihm auf die Füße gekotzt habe. Und ich erinnere mich natürlich an den Moment, als er mir die grausame Wahrheit über Lisa Milners Tod eröffnete. Doch abgesehen davon wüsste ich nicht, woher ich Jonah Thompson kennen sollte. Da ich nicht gleich antworte, kommt Jonah zu demselben Schluss.

»Also nein«, sagt er.

»Sollte ich das denn?«

»Wir waren zusammen auf dem College, Quincy. Ich war in derselben Psychologievorlesung wie Sie.«

Das überrascht mich wirklich. Vor allem, weil es bedeutet, dass Jonah gute fünf Jahre älter ist, als ich dachte. Es sei denn, er irrt sich.

»Sind Sie sicher?«, frage ich.

»Hundertprozentig. Tamburro Hall. Ich saß eine Reihe hinter Ihnen. Auch wenn es keine Sitzordnung gab oder so.«

An den Hörsaal Tamburro Hall kann ich mich tatsächlich erinnern. Ein zugiger halbkreisförmiger Raum, dessen Sitzreihen steil anstiegen wie in einem Stadion. Man hatte die Knie desjenigen, der hinter einem saß, nur wenige Zentimeter hinter dem Kopf. Nach der ersten Woche hatte jeder mehr oder weniger einen Stammplatz. Ich saß ziemlich weit hinten links.

»Tut mir leid. Ich erinnere mich überhaupt nicht an Sie.«

»Ich mich aber an Sie«, sagt Jonah. »Sie haben oft hi zu mir gesagt, bevor Sie sich hingesetzt haben.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Sie waren sehr freundlich. Und ich weiß noch, wie fröhlich Sie immer wirkten.«

Fröhlich. Ich kann mich wahrlich nicht erinnern, wann mich zuletzt jemand so beschrieben hat.

»Neben Ihnen saß ein anderes Mädchen. Sie kam oft zu spät.«

Er meint Janelle, die sich meist nach Vorlesungsbeginn noch hereinschlich, oft mit einem Kater. Manchmal schlief sie mit dem Kopf an meiner Schulter mitten in der Vorlesung ein. Hinterher ließ ich sie meine Notizen abschreiben.

»Sie waren befreundet«, sagt er. »Glaube ich. Vielleicht auch nicht. Ich erinnere mich, dass Sie oft gestritten haben.«

»Wir haben uns nicht gestritten.«

»Oh doch. Zwischen Ihnen war ziemlich viel unterschwellige Aggression. Als täten Sie nur so, als wären Sie beste Freundinnen, könnten sich in Wirklichkeit aber nicht leiden.«

Dass wir gestritten haben, ist mir überhaupt nicht mehr bewusst. Aber das heißt nicht, dass es nicht stimmt. Anscheinend war es ziemlich oft der Fall, sonst würde Jonah sich nicht daran erinnern.

»Wir waren beste Freundinnen«, sage ich leise.

»O Gott.« Er tut so, als wäre ihm die Situation gerade erst klar geworden. Zwei Mädchen, die eine Reihe vor ihm saßen und beide nach einem bestimmten Wochenende im Oktober nicht mehr zur Vorlesung erschienen. »Ich hätte das nicht erwähnen sollen.«

Nein, hätte er nicht, und ich würde es ihm vorhalten, wenn ich nicht solche Kopfschmerzen hätte und unbedingt das Thema wechseln wollte. »Nun, da geklärt ist, dass ich ein schlechtes Gedächtnis habe, sagen Sie mir endlich, warum ich hier bin. Ihre Minute läuft ab jetzt.«

Er kommt sofort zur Sache – die perfekte Kurzpräsentation seines Anliegens. Sie klingt glatt und einstudiert. »Sie haben sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Sie nicht über das reden wollen, was Ihnen zugestoßen ist. Das verstehe und akzeptiere ich. Ich will mit Ihnen nicht über Ihre Situation reden, Quincy – wobei ich gern zur Verfügung stehe, falls Sie das je wollen. Ich will über Samantha Boyd und ihre Situation reden.«

»Sie haben behauptet, Samantha sei nicht ehrlich zu mir. Was meinten Sie damit?«

»Dazu komme ich gleich. Was ich gern von Ihnen wissen würde, ist, wie viel Sie über sie wissen.«

»Warum interessieren Sie sich so für Sam?«

»Nicht nur ich, Quincy. Sie hätten sehen sollen, wie sich die Leute auf den Artikel über Sie beide gestürzt haben. Das Internet ist schier explodiert.«

»Wenn Sie diesen Artikel noch einmal erwähnen, gehe ich.«

»Verzeihen Sie.« Sein Halsansatz rötet sich leicht. Ich freue mich zu sehen, dass der Mist, den er gebaut hat, ihn wenigstens ein bisschen verlegen macht. »Zurück zu Sam.«

»Sie wollen, dass ich sie in den Dreck ziehe.«

»Nein«, protestiert er so vehement, dass mir klar ist: Genau das will er. »Ich würde mich einfach freuen, wenn Sie mir erzählen, was Sie über sie wissen. Eine Art Profil von ihr, wissen Sie?«

»Vertraulich oder für die Öffentlichkeit?«

»Ich würde Letzteres vorziehen.«

»Schlecht.« Ich werde langsam ärgerlich, was meinen Kopfschmerz verstärkt und meine Beine rastlos macht. »Lassen Sie uns ein bisschen rumlaufen.«

Wir schlendern in Richtung Sixth Avenue. Inzwischen hat sich der Park mit Menschen gefüllt, die auf den schiefergepflasterten Wegen herumspazieren und auf eine Gelegenheit lauern, einen der Sitzplätze am Wegrand zu ergattern. Jonah und ich müssen dicht nebeneinandergehen, Schulter an Schulter.

»Die Leute sind enorm an Sam interessiert«, sagt er. »Wie sie ist. Wo sie sich all die Zeit versteckt hielt.«

»Sie hielt sich nicht versteckt.« Aus irgendeinem Grund habe ich immer noch das Bedürfnis, sie zu verteidigen. Als würde sie es erfahren, wenn ich es nicht tue. »Sie hat sich nur bedeckt gehalten.«

»Wo denn?«

Ich zögere einen Sekundenbruchteil, frage mich, ob ich es ihm wirklich sagen will. Aber deshalb bin ich hier, oder? Auch wenn ich mir versuche einzureden, dass es nicht so ist.

»Bangor, Maine.«

»Und warum hat sie so plötzlich damit aufgehört?«

»Nach Lisa Milners Selbstmord …« Sofort fällt mir der Fehler auf. »Dem Mord, meine ich. Danach wollte sie, dass wir einander kennenlernen.«

»Und glauben Sie, Sie haben sie kennengelernt?«

Ich denke daran, wie Sam mir die Nägel lackiert hat. Wir sind Freundinnen, oder?

»Ja.«

Was für ein schlichtes Wort. Zwei kleine Buchstaben. Aber dahinter steckt so viel mehr. Ja, ich habe sie kennengelernt, genau wie sie mich. Ich weiß auch, dass ich ihr nicht vertraue. Und ich bin mir sehr sicher, dass es ihr mit mir ebenso geht.

»Sie wollen mir wirklich nicht erzählen, was Sie über sie wissen?«, fragt Jonah.

Wir sind bei den Tischtennisplatten angelangt – wieder so eine typische New Yorker Sehenswürdigkeit. Beide sind belegt, die eine von einem älteren asiatischen Pärchen und die andere von zwei Schreibtischtätern, die sich mit gelockerten Krawatten den Ball zuspielen. Ich schaue ihnen einen Moment lang zu, während ich nach einer angemessenen Antwort auf Jonahs Frage suche.

»So einfach ist es nicht«, sage ich schließlich.

»Ich weiß etwas, was Sie da vielleicht umdenken lässt.«

»Was denn?« Blöde Frage. Ich weiß, was er meint. Sams Unaufrichtigkeit mir gegenüber. Dass Jonah etwas weiß, was ich nicht weiß, ärgert mich außerordentlich. »Nun sagen Sie es mir schon.«

»Würde ich ja gern, Quincy.« Wieder kratzt er sich am Kopf. »Wirklich. Aber ein guter Journalist gibt nicht einfach Dinge preis, ohne etwas im Gegenzug dafür zu bekommen. Damit meine ich: Wenn Sie wirklich Top-Secret-Infos von mir wollen, müssen Sie mir dafür auch was bieten.«

Mehr denn je will ich einfach nur gehen. Ich weiß, das wäre das Beste. Ihm sagen, er soll mich in Ruhe lassen, nach Hause gehen und mich noch mal hinlegen. Aber ich muss wissen, wie sehr Sam mich belogen hat. Und das Zweite wiegt schwerer als das Erste.

»Tina Stone«, sage ich.

»Tina Stone?«

»Das ist Samantha Boyds Name. Sie hat ihn vor Jahren gesetzlich ändern lassen. Um sich Leute wie Sie vom Leib zu halten. So hat sie es geschafft, all die Jahre in der Versenkung zu bleiben. Offiziell existiert Samantha Boyd nicht mehr.«

»Danke vielmals, Quincy«, sagt Jonah. »Ich denke, da werde ich dann wohl ein bisschen wühlen.«

»Und Sie sagen mir, was Sie herausfinden.«

Das ist keine Frage. Jonah nickt knapp. »Natürlich.«

»Jetzt sind Sie dran. Was wissen Sie?«

»Es betrifft diesen Artikel, den ich geschworen habe nie wieder zu erwähnen. Um genau zu sein, die Fotos.«

»Was ist damit?«

Jonah holt tief Luft und hebt die Hände, noch bevor er zu sprechen beginnt, um klarzustellen, dass er unschuldig ist. »Denken Sie daran, ich bin nur der Bote«, sagt er endlich. »Bitte bringen Sie mich nicht um.«