Kaum bin ich drinnen, verstumme ich.
Ich will Pine Cottage nicht wissen lassen, dass ich da bin.
Tina lässt mich los und gibt mir einen Stoß. Ich taumle, rutsche auf dem Boden aus. Gott sei Dank, hier ist es dunkel. Die verschmierten Fenster des Wohnbereichs lassen kaum etwas von dem Dämmerlicht draußen hindurch. Durch die offene Tür scheint das gelbe Licht der Scheinwerfer – ein helles längliches Rechteck auf dem Boden. In der Mitte steht Tina als Silhouette, mit verschränkten Armen, versperrt mir den Ausgang.
»Erinnerst du dich?«, fragt sie.
Ich schaue mich um. In die Panik mischt sich Neugier. An der Wand sind Wasserflecken. Oder vielleicht Blutflecken. Ich versuche nicht hinzusehen. Auch die Decke hat Flecken. Sie sind rund, definitiv von Wasser. Die Deckenbalken sind mit Vogelnestern und Spinnweben besetzt. Der Boden ist mit Inseln aus Vogelmist gesprenkelt. In einer Ecke liegt eine tote Maus, trocken wie Leder.
Die Einrichtung ist weg. All die rustikalen Möbel, weggekarrt und hoffentlich längst verbrannt. Ohne sie wirkt der Raum noch größer, außer dem Kamin, der kleiner ist, als ich ihn in Erinnerung habe. Ich sehe wieder Craig und Rodney davorknien, zwei Jungs, die sich mit Streichhölzern und Spänen alle Mühe geben, wie echte Männer zu wirken.
Weitere Erinnerungen zucken auf wie kurze, überraschende Blitze. Als würde ich durch die Fernsehkanäle zappen und in jedem für Sekunden Bilder aus Filmen erblicken, von denen ich weiß, dass ich sie kenne.
Da ist Janelle, die barfuß mitten im Raum tanzt und den Song mitsingt, den wir beide so sehr liebten, dass alle anderen anfingen, ihn zu hassen.
Da sind Betz und Amy, wie sie sich beim Zubereiten des Huhns streiten, bis sie kichern müssen.
Da ist Er. Wie Er mich von der anderen Seite des Raums her anstarrt. Die schmutzigen Brillengläser, die seine Augen verbergen. Als wüsste Er schon, was wir beide später tun werden.
»Nein«, sage ich. »Da ist nichts.«
Tina kommt zu mir und zerrt mich auf die Füße. »Dann schauen wir uns mal weiter um.«
Sie befördert mich in den Küchenbereich, der nur noch eine leere Hülle ist. Der Herd fehlt, die Stelle auf dem Boden, wo er stand, ist voller Laub, Erde und fein gesponnener Staubstreifen. Auch die Türen der Einbauschränke sind weg. Auf den nackten Einlegeböden liegt Mäusedreck. Aber die Spüle ist noch da, durchgerostet. Ich halte mich an ihrem Rand fest, weil meine Beine immer noch weich sind. Ich spüre sie kaum. Es ist, als ob ich schwebe.
»Nichts?«, fragt Tina.
»Nichts.«
Also weiter in den Flur, Tina voraus, mein Oberarm in ihrem unbarmherzigen, stählernen Griff. Sie geht mit schweren Schritten. Ich schwebe.
Vor dem Etagenbettzimmer bleiben wir stehen. Betz’ Zimmer. Leer bis auf einen einzigen grauen Teppich in der Mitte. Hier gibt es keine Erinnerungen. Vor heute Abend habe ich es noch nie betreten.
Als ich nichts sage, zieht Tina mich in das wohnheimähnliche Zimmer, das ich mit Janelle hätte teilen sollen. Eines der Betten steht noch da, kahl, ohne Matratze, von der Wand abgerückt. Einfach nur ein rostfleckiger Rahmen.
Dieses Zimmer ruft Erinnerungen wach. Ich denke daran, wie Janelle und ich die Kleider anprobiert und über Sex geredet haben. Alles wäre anders gekommen, hätte ich nicht dieses weiße Kleid von Janelle getragen. Hätte ich darauf bestanden, die Nacht hier drin zu verbringen und nicht ein Zimmer weiter.
Tina wirft mir einen Blick zu. »Und?«
»Nein.« Ich habe angefangen zu weinen. Wieder hier zu sein, all das wieder zu durchleben. Es ist zu viel.
Ohne mir eine Atempause zu gönnen, zerrt Tina mich ins Zimmer gegenüber. Das Wasserbett ist natürlich weg. Alles andere auch. Das einzig Bemerkenswerte an dem Zimmer ist ein breiter, dunkel verrotteter Streifen auf dem Boden. Er erstreckt sich unter unseren Füßen entlang und über den Flur bis zum letzten Zimmer.
Meinem Zimmer.
An der Tür zögere ich. Ich will nicht hinein. Ich will nicht daran erinnert werden, was ich dort tat. Mit Ihm. Und danach. Wie eine Verrückte in den Wald zu stürmen. Mit diesem Messer in der Hand. Es fallen zu lassen, als ich wieder zu mir kam. Es gewissermaßen Ihm in die Hand zu spielen.
Alles ist meine Schuld.
Tina und Er haben sie vielleicht getötet, doch ich bin schuld daran.
Aber mich hat Er nicht umgebracht, obwohl Er es hätte tun können. Mich hat Er bewusst am Leben gelassen, mir nur diese Wunden beigebracht, die Cole und Freemont so misstrauisch machten. Ich wurde verschont aufgrund dessen, was Er zuvor mit mir getan hatte. Was ich Ihn tun ließ.
Dass ich mit Ihm geschlafen habe, hat mir das Leben gerettet. Das weiß ich jetzt.
Ich wusste es schon die ganze Zeit.
Tina bemerkt etwas an mir. Ein Zucken im Gesicht. »Du erinnerst dich an mehr.«
»Nein.«
Es ist eine Lüge.
Da ist etwas Neues, ein Fetzen Erinnerung, den ich bisher nicht hatte.
Ich liege in diesem Zimmer.
Auf dem Boden.
Unter der Tür dringt Wasser hindurch, breitet sich aus, strömt auf mich zu, dann um mich herum. Es durchtränkt mein Haar, meine Schultern, meinen ganzen Körper, der sich vor Schmerz und Grauen zusammenkrampft. Jemand sitzt neben mir. In seinen schweren Atemzügen klingen Tränen mit.
Alles wird gut. Wir kommen hier raus.
Von jenseits der Tür ist ein schreckliches Platschen zu hören. Schritte im Wasser. Bis vor die Tür.
Weitere Erinnerungen. Blitzartige Fetzen. Hämmern gegen die Tür. Das Rasseln des Türknaufs. Ein Rumsen. Ein Krachen, mit dem die Tür auffliegt, gegen die Wand knallt. Das Aufblitzen von Mondlicht auf der rot glänzenden Klinge.
Ich schreie.
Damals.
Und jetzt.
Die beiden Schreie vereinen sich, bis ich nicht mehr weiß, welcher Gegenwart und welcher Vergangenheit ist. Als mich jemand packt, kreische ich, schlage um mich, versuche ihn abzuschütteln, nicht wissend, wer es ist und was mit mir geschieht.
»Quincy.« Tinas Stimme dringt durch das Chaos in mir. »Quincy, was ist?«
Ich starre sie an. Ich bin wieder ganz in der Gegenwart. Ihre Hand hält immer noch das Messer, als Mahnung, dass ich sie nicht enttäuschen darf.
»Ich fange an, mich zu erinnern«, sage ich.