Jeff findet mich auf dem Sofa vor, Lisas Buch auf dem Schoß und mit geröteten Augen. Ich habe den ganzen Nachmittag geweint. Als er seinen Koffer fallen lässt und mich in die Arme zieht, schmiege ich den Kopf an seine Brust und weine noch ein bisschen mehr. Nach zwei Jahren des Zusammenlebens und zwei Jahren fester Beziehung davor weiß er, dass er nicht sofort fragen sollte, was los ist. Er lässt mich einfach weinen.
Erst als sein Kragen von Tränen durchweicht ist, sage ich: »Lisa Milner hat Selbstmord begangen.«
Jeffs Umarmung wird noch fester. »Die Lisa Milner?«
»Genau die.«
Mehr muss ich nicht sagen. Den Rest begreift er auch so.
»Oh Quinn. Liebes. Es tut mir so leid. Wann? Was ist passiert?«
Wir setzen uns wieder aufs Sofa, und ich erzähle Jeff, was ich weiß. Er hört sehr aufmerksam zu – eine Begleiterscheinung seines Jobs, in dem er als Erstes sämtliche Informationen aufnehmen muss, um sie dann zu strukturieren.
»Wie geht es dir jetzt?«, fragt er, als ich fertig bin.
»Gut«, sage ich. »Ich bin nur geschockt. Und ich trauere. Ist wahrscheinlich dämlich.«
»Nein. Du hast jedes Recht zu trauern.«
»Ja? Lisa und ich haben uns niemals getroffen.«
»Das ist egal. Ihr habt euch ausgetauscht. Sie hat dir geholfen. Ihr wart verwandte Seelen.«
»Wir waren beide Gewaltopfer«, sage ich. »Das ist das Einzige, was uns verbunden hat.«
»Du musst es nicht herunterspielen, Quinn. Nicht vor mir.«
Da spricht der Pflichtverteidiger. Jeff verfällt immer dann in Anwaltssprache, wenn er nicht meiner Meinung ist, was nicht oft vorkommt. Normalerweise ist er einfach Jeff, der Freund, der kein Problem damit hat, zu kuscheln. Der viel besser kocht als ich und der in den Anzügen, die er bei Gericht trägt, einen absolut umwerfenden Hintern hat.
»Weder ich noch sonst jemand kann auch nur annähernd nachvollziehen, was du damals durchgemacht hast«, sagt er. »Das können nur Lisa und diese andere.«
»Samantha.«
»Samantha«, wiederholt Jeff zerstreut, als hätte er den Namen die ganze Zeit gewusst. »Ich bin sicher, ihr geht es genauso wie dir.«
»Es ergibt überhaupt keinen Sinn«, sage ich. »Ich verstehe nicht, warum Lisa sich einfach umbringt nach all dem, was sie erreicht hat. Was für eine Verschwendung. Ich dachte, sie wüsste es besser.«
Wieder höre ich ihre Stimme in meinem Kopf. Überlebender zu sein hat etwas Edles, hatte sie mir einmal gesagt. Wegen des großen Leids, das wir erlebt und überlebt haben, haben wir die Macht, anderen Leidenden ein Vorbild zu sein.
Was für ein Blödsinn. All dieses Gerede von ihr.
»Tut mir leid, dass ich so aufgelöst bin«, sage ich zu Jeff. »Lisas Selbstmord. Meine Reaktion darauf. Das ist doch alles abartig.«
»Kein Wunder, Liebes. Was du erlebt hast, war abartig. Umso mehr bin ich beeindruckt, dass du dich davon nicht hast unterkriegen lassen. Dass du darüber hinweg bist.«
Das hat er mir schon oft gesagt. Ziemlich oft. Inzwischen beginne ich es selbst zu glauben. »Ich weiß«, sage ich. »Bin ich.«
»Es war das einzig Vernünftige. Die Vergangenheit ruhen zu lassen. Dich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Und ich wünsche mir wirklich, dass die Gegenwart dich glücklich macht.« Dabei lächelt er. Jeff hat ein Filmstarlächeln. Cinemascope-breit und Technicolor-strahlend. Das war das Erste, was mir an ihm auffiel, als ich ihn bei einer Betriebsfeier traf, die so langweilig war, dass ich mir einen Schwips antrank und Lust bekam zu flirten.
Lass mich raten, hatte ich gesagt. Du bist Zahnpastamodel.
Ich bekenne mich schuldig.
Welche Marke? Vielleicht wechsle ich ja.
Aquafresh. Aber ich strebe Höheres an – Crest.
Ich musste lachen, obwohl es gar nicht besonders witzig war. In seinem Eifer zu gefallen war etwas Rührendes. Er erinnerte mich an einen Golden Retriever, sanft und loyal und treu. Obwohl ich noch nicht mal seinen Namen kannte, nahm ich seine Hand. Im Grunde habe ich sie seither nie mehr losgelassen.
Zwischen Pine Cottage und Jeff hatte ich so gut wie kein Sozialleben. Als ich wieder für studierfähig erklärt wurde, wechselte ich das College. Ich wollte nicht ständig von Erinnerungen an Janelle und die anderen heimgesucht werden. Mein neues College lag näher an zu Hause, und mein Wohnheim-Zweierzimmer bewohnte ich die drei Jahre lang allein.
Natürlich eilte mein Ruf mir voraus. Man wusste dort ganz genau, wer ich war und was ich durchgemacht hatte. Aber ich nahm täglich mein Xanax mit Traubenschorle und verhielt mich still und unauffällig. Ich war freundlich, aber ohne Freunde. Zugänglich, aber unverbindlich. Ich sah keinen Sinn darin, engere Kontakte zu pflegen.
Einmal wöchentlich besuchte ich eine Gruppentherapie, in der ein Sammelsurium von Traumata behandelt wurde. Unser Grüppchen wurde eine Art Freundeskreis. Nicht wirklich eng, aber vertraut genug, um sich gegenseitig anzurufen, wenn man Angst hatte, allein ins Kino zu gehen.
Aber auch dort fiel es mir schwer, mich diesen sensiblen Mädchen zugehörig zu fühlen, die vergewaltigt oder geschlagen oder bei einem Autounfall entstellt worden waren. Ihre Traumata waren so anders als meines. Keines von ihnen wusste, wie es war, wenn einem von einem Moment auf den anderen die besten Freunde genommen werden. Sie verstanden nicht, wie furchtbar es war, sich nicht an die schlimmste Nacht seines Lebens erinnern zu können. Ich hatte den Eindruck, dass sie eher neidisch auf meine Gedächtnislücke waren. Dass auch sie nichts lieber gewollt hätten, als zu vergessen. Als wäre das leichter, als sich zu erinnern.
Während dieser Zeit zog ich eine Reihe austauschbarer magerer Jungen an, die dem Geheimnis des stillen, zurückhaltenden Mädchens auf die Spur kommen wollten, das zu allen eine Armlänge Abstand hielt. Bis zu einem gewissen Grad ließ ich sie an mich heran. Unbehagliche Lerntreffen. Verabredungen im Café, bei denen ich amüsiert mitzählte, wie oft sie das Thema Pine Cottage vermieden. Vielleicht ein neckischer Gutenachtkuss, wenn ich mich besonders einsam fühlte.
Insgeheim stand ich mehr auf diese groben Klötze, wie man sie auf Verbindungspartys und wilden Besäufnissen traf. Kerle mit dickem Bizeps, breiter Brust und leichtem Bauchansatz. Die sich nicht um deine Narben scheren. Die unfähig sind, sanft zu sein. Die einfach nur ficken wollen wie Motorkolben und absolut kein Problem damit haben, wenn man hinterher verschwindet, ohne ihnen seine Telefonnummer zu hinterlassen.
Nach solchen Episoden fühlte ich mich wund und aufgescheuert und mit seltsamer Energie erfüllt. Es ist belebend, zu bekommen, was man will, selbst wenn es Erniedrigung ist.
Aber Jeff ist anders. Er ist völlig normal. Ein Polo-by-Ralph-Lauren-Typ. Wir waren einen ganzen Monat zusammen, bis ich es endlich wagte, Pine Cottage zu erwähnen. Bis dahin hielt er mich einfach für Quincy Carpenter, Marketing-Neuling und angehende Backbloggerin. Er hatte keine Ahnung, dass ich in Wirklichkeit Quincy Carpenter die Massakerüberlebende war.
Man muss sagen, er nahm es weit besser auf, als ich erwartet hätte. Er wählte genau die richtigen Worte und schloss mit: Ich glaube fest daran, dass es möglich ist, sich nicht von einer schlimmen Vergangenheit beherrschen zu lassen. Von so was kann man sich erholen. Sich weiterentwickeln. Bei dir ist das definitiv so.
Da wusste ich, dass die Beziehung Chancen hatte.
»Und wie war Chicago?«, frage ich.
Seinem halben Schulterzucken ist zu entnehmen, dass der Erfolg sich in Grenzen hielt. »Die Information, auf die ich hoffte, hab ich leider nicht bekommen. Eigentlich würde ich lieber nicht darüber reden.«
»Und ich nicht über Lisa.«
Er steht auf, plötzlich voller Tatendrang. »Dann lass uns weggehen. Uns fein machen, uns ein spannendes Restaurant suchen und unsere Sorgen in viel Essen und Alkohol ertränken. Wäre das was?«
Ich schüttle den Kopf und strecke mich wie eine Katze. »Heute Abend nicht unbedingt. Weißt du, worauf ich totale Lust hätte?«
»Wein aus dem Karton?«
»Und?«
»Ein Phat Thai zum Mitnehmen.«
Ich bringe ein Lächeln zustande. »Du kennst mich so gut.«
Später haben wir Sex. Ich ergreife die Initiative, ziehe ihm die Fallakte aus der Hand und setze mich auf ihn. Jeff protestiert. Ein bisschen. Es ist eher gespielter Protest. Bald steckt er tief in mir, unendlich sanft und aufmerksam. Jeff redet beim Sex. Bei ihm muss man immer hundert Fragen beantworten. Fühlt sich das gut an? Zu heftig? So besser?
Meistens finde ich es schön, wie rücksichtsvoll er ist und wie offen er sich bemüht, meine Bedürfnisse zu befriedigen. Heute ist es anders. Lisas Tod trübt meine Stimmung. Statt des An- und Abschwellens der Lust empfinde ich Unzufriedenheit. Ich sehne mich nach dem unpersönlichen Stoßen jener namenlosen Verbindungsburschen, die dachten, sie hätten mich verführt, wo es doch in Wirklichkeit genau umgekehrt war. Mein Verlangen fühlt sich an wie ein juckender Ausschlag in meinem Körper, und Jeffs treuherziges Liebemachen kann ihn nicht annähernd lindern. Ich tue als ob. Ich stöhne und kiekse künstlich wie ein Pornostar. Als Jeff um einen Zwischenbericht bittet, presse ich die Lippen auf seine, nur damit er aufhört zu reden.
Danach kuscheln wir noch bei einem Film aus dem Angebot von Turner Classic Movies. Unser übliches Ritual nach dem Sex. In letzter Zeit mag ich das lieber als den Sex an sich: das Danach. Seinen festen, haarigen Körper neben mir zu spüren, während uns das Staccato der Vierzigerjahre-Stimmen in den Schlaf lullt.
Aber heute kommt der Schlaf nicht so einfach. Zum Teil liegt es am Film, Die Lady von Shanghai. Es läuft die Schlussszene: Rita Hayworth und Orson Welles im Spiegellabyrinth, ihre Spiegelbilder zerstieben im Kugelhagel. Zum Teil liegt es an Jeff, der sich unruhig neben mir herumwälzt.
Schließlich sagt er: »Bist du sicher, dass du nicht über Lisa Milner reden willst?«
Ich schließe die Augen, wünsche mir, der Schlaf würde mich bei der Kehle packen und ins Vergessen reißen. »Eigentlich gibt’s da nichts zu sagen. Willst du über deine Sache reden?«
»Das ist keine Sache.« Es klingt leicht gereizt. »Das ist mein Job.«
»Tut mir leid.« Ich verstumme. Versuche abzuschätzen, wie ärgerlich er ist, ohne ihn anzuschauen. »Willst du über deinen Job reden?«
»Nein.« Dann entscheidet er sich um. »Vielleicht ein bisschen.«
Ich rolle mich zur Seite und stütze mich auf den linken Ellbogen. »So wie es sich anhört, läuft’s für die Verteidigung nicht gut.«
»Nicht wirklich. Mehr darf ich aus rechtlichen Gründen nicht sagen.«
Jeff darf mir nur sehr wenig über seine Fälle sagen. Die Schweigepflicht schließt sogar Ehefrauen mit ein. Oder, wie in meinem Fall, zukünftige Ehefrauen. Noch ein Grund, warum Jeff und ich gut zueinanderpassen. Ich will nicht über meine Vergangenheit reden. Er kann nicht über seinen Job reden. So überspringen wir zwei der Gesprächsfallen, in die so viele Paare irgendwann tappen. Aber zum ersten Mal seit Monaten habe ich das Gefühl, dass wir nahe daran sind, uns in einer zu verfangen, und verzweifelt versuchen, sie zu umgehen.
»Wir sollten schlafen«, sage ich. »Musst du morgen nicht schon früh im Gericht sein?«
»Ja.« Er sieht nicht mich, sondern die Decke an. »Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht deswegen nicht schlafen kann?«
Ich plumpse wieder auf den Rücken. »Nein. Tut mir leid.«
»Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie groß der Fall ist.«
»Doch, ich denke schon. Er war ja in den Nachrichten.« Jetzt ist es Jeff, der sich auf den Ellbogen aufstützt und mich anschaut. »Wenn das gut läuft, könnte es eine Menge für mich bedeuten. Für uns. Glaubst du, ich will auf ewig Pflichtverteidiger bleiben?«
»Ich weiß nicht. Willst du?«
»Natürlich nicht. Wenn ich diesen Fall gewinne, wäre das ein unglaubliches Karrieresprungbrett. Zum Beispiel in eine Großkanzlei, wo ich endlich wirklich Geld verdiene und mir meine Wohnung nicht mehr vom Schmerzensgeld meiner Freundin finanzieren lassen muss.«
Ich bin so vor den Kopf gestoßen, dass es mir die Sprache verschlägt, auch wenn ich merke, dass Jeff seine Worte sofort bereut. Sein Blick wird einen Moment lang leer, sein Mund verzerrt sich vor Schmerz. »Das war nicht so gemeint, Quinn.«
»Ich weiß.« Ich steige aus dem Bett, nackt, komme mir deswegen verletzlich und ausgeliefert vor. Ich greife nach dem erstbesten Kleidungsstück, das mir in die Hände fällt – Jeffs abgetragener Frotteebademantel –, und ziehe es über. »Ist schon gut.«
»Nein, ist es nicht. Ich bin ein Arschloch.«
»Schlaf lieber ein bisschen. Morgen ist ein wichtiger Tag.«
Ich tappe ins Wohnzimmer, plötzlich unwiderruflich wach. Auf dem Sofatisch liegt mein Handy, das noch immer ausgeschaltet ist. Ich schalte es ein. In der Dunkelheit schimmert der Bildschirm eisblau. Ich habe dreiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit, achtzehn SMS und mehr als drei Dutzend Mails. So gut wie alle von Journalisten.
Die Nachricht von Lisas Tod ist angekommen. Die Presse ist im Jagdfieber.
Ich scrolle mich durch meinen Posteingang, den ich seit gestern Abend vernachlässigt habe. Begraben unter einer Lawine von Presseanfragen sind die älteren, harmlosen Nachrichten von Fans meiner Website und verschiedenen Backartikelherstellern, die mich gern als Warentesterin gewinnen würden. Unter all den Namen und Ziffern sticht mir eine Adresse ins Auge wie ein silbern geschuppter Fisch, der sich an der Wasseroberfläche zeigt.
Lmilner75
Mein Finger zuckt vom Bildschirm zurück. Ich starre die Adresse an, bis sie sich mir ins Gehirn brennt und ihr Nachbild in der Schwärze steht, wenn ich blinzle.
Ich kenne nur eine Person, der diese Adresse gehören könnte, und die ist seit über vierundzwanzig Stunden tot. Diese Erkenntnis verursacht ein nervöses Kribbeln in meiner Kehle. Ich schlucke schwer, bevor ich die Mail öffne.
Quincy, ich muss mit dir reden. Es ist extrem wichtig. Bitte, bitte ignoriere diese Mail nicht.
Darunter stehen Lisas Name und dieselbe Telefonnummer wie in ihrem Buch.
Ich lese die Mail noch einige Male. Das Kribbeln in meiner Kehle wird zu etwas, das ich nur als Flattern beschreiben kann. Als hätte ich einen Kolibri verschluckt, dessen Flügel gegen meine Speiseröhre schlagen.
Ich prüfe die Absendezeit. Elf Uhr abends. In Anbetracht dessen, dass die Polizei sicher eine Weile gebraucht hat, um den Notruf rückzuverfolgen und zu der Adresse zu fahren, bedeutet das, dass Lisa die Mail weniger als eine Stunde vor ihrem Tod abgeschickt hat.
Ich war vielleicht die Letzte, die sie in ihrem Leben versucht hat zu kontaktieren.