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Der Morgen ist grau und schwer. Als ich aufwache, ist Jeff schon weg, um sich mit seinem Polizistenmörder zu treffen.

In der Küche erwartet mich eine Überraschung: eine Vase, nicht voller Blumen, sondern voller Backutensilien. Holzlöffel, Teigschaber, ein Hochleistungsschneebesen mit einem Griff, so dick wie mein Handgelenk. Um den Hals der Vase, an einem roten Band, hängt eine Karte.

Ich bin ein Idiot. Es tut mir so leid, meine allerliebste Süßigkeit. Ich liebe dich. Jeff.

Neben der Vase starren mich die unfertigen Cupcakes wieder an. Ich ignoriere sie, schlucke in der Frühstücksecke mein morgendliches Xanax mit zwei Schlucken Traubenschorle dazu. Dann gehe ich zu Kaffee über in der Hoffnung, aufzuwachen.

In der Nacht hatte ich Albträume, etwas, was ich überwunden zu haben glaubte. In den ersten Jahren nach Pine Cottage gab es keine Nacht, in der ich nicht von ihnen gequält wurde. Sie gaben das übliche Therapiefutter ab: Ich renne durch den Wald, Janelle taumelt zwischen den Bäumen hervor, Er. Inzwischen vergehen Wochen oder gar Monate ohne diese Plage.

Vergangene Nacht träumte ich von Journalisten, die an den Fenstern kratzten und blutige Krallenspuren auf dem Glas hinterließen. Sie waren bleich und hager und riefen stöhnend meinen Namen, wie Vampire, die ein Haus nur dann betreten können, wenn man sie hereinbittet. Statt Reißzähnen hatten sie nadelscharf gespitzte Bleistifte, an denen noch glänzende Fetzen von Fleisch und Sehnen hingen.

In einem der Träume tauchte Lisa auf. Sie sah genauso aus wie auf ihrem Buchcover. Der gut eingeübte Zug um ihre Lippen veränderte sich kein bisschen, auch nicht, als sie einem der Reporter einen Stift aus dem Mund brach und ihn sich über die Handgelenke zog.

Lisas Mail war natürlich das Erste, woran ich nach dem Aufwachen dachte. Die Nachricht hatte die Nacht über in meinem Gehirn gelauert wie eine Falle, bereit, bei der winzigsten Regung des Bewusstseins zuzuschnappen. Während ich den ersten und dann den zweiten Kaffee trinke, hat sie meinen Verstand schon eisern im Griff.

Insbesondere beschäftigt mich, dass ich, abgesehen von dem abgebrochenen Notruf, vielleicht wirklich die letzte Person war, zu der Lisa Kontakt aufnehmen wollte. Aber warum? Traute sie unter all ihren Bekannten ausgerechnet mir zu, sie von dem mentalen Hochhaus runterzuholen, auf das sie gekrabbelt war? War ich womöglich für ihren Tod verantwortlich, weil ich meine Mails am Abend nicht mehr gecheckt hatte?

Mein erster Impuls ist, Coop anzurufen und es ihm zu erzählen. Ich zweifle nicht daran, dass er alles stehen und liegen lassen und zum zweiten Mal in Folge nach Manhattan kommen würde, nur um mir zu versichern, dass ich an gar nichts schuld bin. Aber ich weiß nicht, ob ich Coop zwei Tage hintereinander sehen will. Seit Pine Cottage und dem Morgen danach wäre es das erste Mal, dass das passiert, und diese Erfahrung will ich ungern noch einmal machen.

Stattdessen schreibe ich ihm eine möglichst beiläufige SMS.

Ruf mich bei Gelegenheit mal an. Hat keine Eile. Nichts Wichtiges.

Mein Bauchgefühl wiederum sagt mir, dass es wichtig ist. Oder zumindest potenziell. Warum denke ich sonst seit dem Aufwachen darüber nach? Warum habe ich als Nächstes den Impuls, Jeff anzurufen, nur um seine Stimme zu hören, obwohl ich weiß, dass er in der Verhandlung sitzt und sein Handy ausgeschaltet in seiner Aktentasche steckt?

Ich versuche mich abzulenken, aber das erweist sich als unmöglich. Meinem Handy zufolge habe ich ein Dutzend neuer Anrufe in Abwesenheit. Meine Mailbox quillt über. Ich höre mir nur eine der Nachrichten an – ein überraschendes Lebenszeichen von meiner Mutter, natürlich zu einer Zeit, zu der sie wusste, dass ich noch schlafen würde. Ihre neueste Masche, um echte Gespräche zu vermeiden.

»Quincy, hier ist deine Mutter«, beginnt die Nachricht, als traute sie mir nicht zu, ihre monotone nasale Stimme zu erkennen. »Ich wurde gerade vom Anruf eines Reporters geweckt, der mich fragte, ob ich etwas zum Tod dieser Lisa Milner zu sagen habe, mit der du befreundet warst. Ich hab ihm gesagt, er soll mit dir reden. Nur damit du es weißt.«

Ich sehe keinen Sinn darin, sie zurückzurufen. Das ist das Letzte, was meine Mutter will. So ist es, seitdem ich nach Pine Cottage ans College zurückkehrte. Damals war sie frisch verwitwet und hätte sich gewünscht, dass ich zu Hause wohnte und pendelte. Als ich ihr diesen Gefallen nicht tat, warf sie mir vor, ich ließe sie im Stich.

Im Endeffekt war es dann aber ich, die im Stich gelassen wurde. Zu der Zeit, als ich meinen Abschluss machte, hatte sie wieder geheiratet, einen Zahnarzt namens Fred, der drei erwachsene Kinder mit in die Ehe brachte. Drei glückliche, nette Kinder mit Zahnpastalächeln. Kein einziges Final Girl dabei. Die wurden zu ihrer Familie. Ich wurde zu einem gerade noch tolerierten Relikt aus ihrer Vergangenheit. Ein Fleck auf ihrem ansonsten makellosen neuen Leben.

Noch einmal höre ich mir die Nachricht meiner Mutter an, lausche auf das kleinste Anzeichen von Interesse oder Sorge in ihrer Stimme. Als ich nichts finde, lösche ich meine Mailbox und nehme mir die heutige ›Times‹ vor.

Der Artikel über Lisas Tod hat es zu meinem Erstaunen auf die erste Seite geschafft. Angeekelt lese ich ihn rasch durch.

 

MUNCIE, Ind. – Lisa Milner, bekannte Kinderpsychologin und einzige Überlebende eines Massakers in einer Studentinnenverbindung, das seinerzeit landesweit Entsetzen auslöste, starb, wie von den Behörden bestätigt, gestern in ihrem Haus in Muncie. Sie wurde zweiundvierzig Jahre alt.

 

Ein Großteil des Artikels handelt von den Schrecken, die Lisa in jener längst vergangenen Nacht hatte durchmachen müssen. Als wäre der restliche Teil ihres Leben ohne Bedeutung. Beim Lesen bekomme ich eine Ahnung, wie mein eigener Nachruf aussehen wird. Mein Magen zieht sich zusammen.

Ein Satz jedoch macht mich stutzig. Er steht am Ende des Artikels, wie ein nachgeschobener Gedanke.

Die polizeilichen Untersuchungen dauern an.

Was für Untersuchungen? Lisa hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt, das erscheint mir ziemlich eindeutig. Dann fällt mir ein, was Coop über toxikologische Tests sagte. Um abzuklären, ob Lisa unter Drogen stand.

Ich lasse die Zeitung fallen und greife nach meinem Laptop. Im Internet lasse ich die Nachrichtenseiten links liegen und klicke mich gleich durch die Blogs über wahre Verbrechen, von denen eine erschreckende Anzahl den Final Girls gewidmet ist. Gelegentlich kontaktieren mich die Blogger – alles Männer übrigens; Frauen haben Besseres zu tun – immer noch über meine Website und versuchen mich zu einem Interview zu überreden. Ich antworte nie. Einem Kontakt am Nächsten kam ich, nachdem ich einen Drohbrief erhalten hatte. Coop schrieb alle Blogger an mit der Frage, ob einer von ihnen der Verfasser sei. Sie stritten es alle ab.

Normalerweise meide ich diese Blogs aus Angst, was ich dort über mich finden könnte. Heute ist eine Ausnahme. Fast alle Websites berichten über Lisas Selbstmord. Die Fakten sind mehr oder weniger dieselben wie im Artikel der Times. Besonders hervorgehoben wird die Ironie des Schicksals, dass eine weltberühmte Überlebende sich selbst den Tod gegeben hat. Ein Schreiber versteigt sich sogar zu der Spekulation, andere Final Girls könnten sich ein Beispiel an Lisa nehmen.

Angewidert schließe ich den Browser und klappe den Laptop zu. Dann stehe ich auf. Ich muss etwas von der Wut und dem Adrenalin in meinem Körper loswerden. Ich ziehe Sportkleidung an und schnüre meine Laufschuhe. Das einzige Heilmittel gegen diese Stimmung, in die ich oft gerate, ist zu joggen, bis sie vergeht.

Im Aufzug dämmert mir, dass draußen möglicherweise Reporter lauern könnten. Wenn sie meine Mailadresse und Telefonnummer kennen, wissen sie vermutlich auch, wo ich wohne. Ich beschließe gleich an der Haustür loszulaufen, statt wie sonst gemütlich zum Central Park zu spazieren. Tatsächlich nehme ich schon im Foyer, auf dem Weg vom Aufzug zur Tür, Tempo auf.

Draußen erkenne ich, dass kein Grund zur Sorge besteht. Statt einer Horde Reportern bedrängt mich genau einer. Er sieht jung und eifrig und auf nerdige Art gut aus. Buddy-Holly-Brille. Tolle Frisur. Eher Clark Kent als Jimmy Olsen. Kaum trete ich aus dem Haus, eilt er auf mich zu, dass die Seiten seines Notizbuchs nur so flattern. »Miss Carpenter.« Er nennt seinen Namen: Jonah Thompson. Den erkenne ich. Er ist einer von denen, die angerufen, gemailt und eine SMS geschrieben haben. Die Dreifaltigkeit der Belästigung. Den Namen seiner Zeitung nennt er auch: eines der großen Boulevardblätter. Angesichts seines Alters muss er entweder sehr gut in seinem Job oder völlig skrupellos sein. Vermutlich beides.

»Kein Kommentar«, sage ich und beschleunige zu vollem Lauftempo.

Er bemüht sich, mit mir Schritt zu halten. Die flachen Sohlen seiner Oxfords klappern auf dem Asphalt. »Ich habe nur ein paar Fragen zu Lisa Milner.«

»Kein Kommentar«, wiederhole ich. »Wenn Sie noch da sind, wenn ich zurückkomme, rufe ich die Polizei.«

Jonah Thompson fällt zurück. Ich spüre, wie er mir nachschaut. Sein Blick brennt sich in meinen Nacken wie ein Sonnenbrand. Ich erhöhe mein Tempo, laufe durch die Querstraßen zum Park. Vor dem Parktor werfe ich noch einen Blick über die Schulter, nur für den Fall, dass es ihm gelungen ist, mir bis hierher zu folgen.

Aber das ist unwahrscheinlich.

Nicht in diesen Schuhen.

 

Im Park wende ich mich nach Norden, dem See zu. Dort jogge ich am liebsten. Es ist flacher und übersichtlicher als anderswo im Park. Keine kurvigen Pfade, hinter deren Biegungen Gott weiß was warten kann. Keine schattigen Baumgruppen. Nur lange geschotterte Geraden, wo ich die Zähne zusammenbeißen, den Rücken straffen und laufen kann.

Aber an diesem frischen Morgen fällt es mir schwer, mich aufs Joggen zu konzentrieren. Meine Gedanken sind anderswo. Bei dem jungenhaften Jonah Thompson und seiner ätzenden Hartnäckigkeit. Bei dem Artikel über Lisas Tod, der darüber hinweggeht, dass es gerade die traumatischen Erlebnisse in ihrer Vergangenheit sind, die sie in den Selbstmord getrieben haben. Aber vor allem denke ich an Lisa und was ihr wohl durch den Kopf gegangen sein mag, als sie mir diese Mail schrieb. War sie traurig gewesen? Verzweifelt? Hatte sie das Messer schon in der bebenden Hand gehalten?

Plötzlich wird alles zu viel. Das Adrenalin in mir verebbt so schnell, wie es hochgewallt ist. Andere Jogger beginnen mich zu überholen, das Knirschen ihrer Schritte auf dem Schotter kündigt sie an. Ich gebe auf, falle in den Schritt, weiche an den Rand des Pfades aus und schlendere langsam nach Hause.

Zurück vor meinem Haus stelle ich mit Erleichterung fest, dass Jonah Thompson sich verkrümelt hat. Stattdessen treibt sich eine Reporterin auf der anderen Straßenseite herum. Nach genauem Hinsehen bin ich der Meinung, dass sie nicht vom üblichen Schlag ist. Sie wirkt zu exzentrisch für die Mainstream-Medien, hat etwas von einem in die Jahre gekommenen Riot Grrrl, wie sie Williamsburg bevölkerten, bevor es von den Hipstern übernommen wurde. Eine Frau, die sich ohne Scheu kleidet, als wäre sie halb so alt, wie sie ist. Lederjacke über hautengem schwarzem Minikleid. Netzstrümpfe, die in abgewetzten Kampfstiefeln stecken. Rabenschwarzes Haar wie ein Vorhang vor dem Gesicht, der den Blick auf die dick mit Kajal umrandeten Augen nur teilweise freigibt. Lippenstift rot wie Blut. Eine Bloggerin vielleicht. Mit einer ganz anderen Leserschaft, als ich sie habe.

Irgendwas an ihr kommt mir bekannt vor. Ich muss sie schon mal gesehen haben. Vielleicht. Mein Magen zieht sich ein bisschen zusammen bei dem Gefühl.

Sie hingegen erkennt mich. Sie mustert mich durch ihre dunkle Haarpracht hindurch. Ich beobachte sie, wie sie mich beobachtet. Sie blinzelt nicht einmal. Sie lehnt einfach dort drüben an der Wand, macht nicht den geringsten Versuch, sich an ihre Umgebung anzupassen. Zwischen ihren rubinroten Lippen klemmt eine brennende Zigarette. Ich will ins Haus gehen, da ruft sie mich.

»Quincy.« Keine Frage. Eine Feststellung. »Hey, Quincy Carpenter.«

Ich bleibe stehen und drehe mich ein wenig in ihre Richtung. »Kein Kommentar.«

Sie wirft mir einen finsteren Blick zu. »Ich will keinen Kommentar.«

»Was wollen Sie dann?« Ich wende mich ihr ganz zu, um sie niederzustarren.

»Ich will nur reden.«

»Über Lisa Milner?«

»Ja. Und andere Sachen.«

»Also ein Interview. Ich rede nicht mit euch Reportern.«

Sie murmelt »Himmel noch mal« und wirft die Zigarette weg. Dann greift sie nach einem großen Rucksack, der neben ihr steht. Er ist schwer und zum Bersten voll; die ausgefransten Nähte spannen sich, als sie ihn sich auf den Rücken wuchtet. Bald ist sie auf meiner Straßenseite und lässt ihn wieder fallen, so dicht vor mir, dass er mir fast auf dem rechten Fuß landet.

»Sei doch nicht so zickig«, sagt sie.

»Wie bitte?«

»Hör mal, alles, was ich will, ist reden.« Aus der Nähe klingt ihre Stimme rauchig und verführerisch. In meine Nase steigt ein Hauch von Zigaretten und Whiskey. »Nachdem das mit Lisa passiert ist, dachte ich, es wäre vielleicht ’ne gute Idee.«

Und da kapiere ich plötzlich, wer sie ist. Sie sieht ganz anders aus, als ich erwartet hätte. Überhaupt kein Vergleich mit dem Highschool-Abschlussfoto, das in jenem längst vergangenen Sommer überall abgedruckt wurde. Keine Spur mehr von dem zu hoch frisierten Haar, den roten Wangen, dem Doppelkinn. Sie ist dünn geworden, hat das engelhafte Leuchten der Jugend verloren. Die Zeit hat sie in ein angespanntes, müdes Abbild ihrer selbst verwandelt.

»Samantha Boyd«, sage ich.

Sie nickt. »Am liebsten Sam, bitte.«