»Heidi Klum ist am Telefon. Nelly! Es! Ist! Heidi! Klummmmm!«
Nelly schoss aus dem Bett hoch, ihre blonden Locken standen fast senkrecht nach oben. »WAS?« Sie keuchte.
Elisa hatte die Augen weit aufgerissen und Nellys Smartphone am Ohr. »Wie bitte? Ja … klar … ja, einen Moment.« Sie ging aus dem Raum, und Nelly raste ihr hinterher.
»Warum rennst du denn weg? Spinnst du? Gib mir das Handy. Los, los.«
Elisa reichte es ihr.
Nelly atmete tief ein und aus. »Hallo. Hallo? Hallooo …« Sie sah Elisa an. »Hast du etwa aus Versehen aufgelegt? Das darf doch nicht wahr sein. Hallo?«
»Nö«, sagte Elisa. »Aber ich versuche seit einer Viertelstunde, dich aus dem Bett zu kriegen. No chance. Aber bei Heidi springst selbst du hoch. Und jetzt komm.«
»Oh Mann.« Nelly war sauer. »Du kannst einen echt fertigmachen. Davon abgesehen: Wohin soll ich kommen?«
»Laufen. Das haben wir gestern Abend ausgemacht. Dass wir heute Morgen um acht Uhr loslegen. Es ist nebenbei gesagt halb neun. Ich möchte den Tag nicht verplempern.« Sie hüpfte in ihren Laufschuhen auf und ab und war fit.
»Das war, bevor wir beschlossen haben, durch die Clubs zu ziehen.« Nelly gähnte. »Ich bin müde. Ich muss unbedingt noch schlafen.«
»Nix da, du kommst mit.«
Nelly grummelte irgendwas von »Zustände wie in Guantanamo«, zog sich dann aber ihre Laufklamotten an.
»Ist das nicht herrlich?« Sie liefen durch den morgendlichen Taunuswald, es war noch kühl, aber es würde ein toller, sonniger Tag werden.
»Ich hätte es gleich wissen müssen«, sagte Nelly giftig. »Als ob Heidi Klum ausgerechnet mich an einem Sonntagmorgen anrufen würde.«
»Ach, könnte schon sein. Die ist doch immer überall, und Zeitverschiebung gibt’s ja auch noch.«
»Trotzdem. Du hast mich mal wieder reingelegt.«
»Eine meiner leichtesten Übungen und gern geschehen. Immerhin haben wir außer Laufen heute noch mehr vor.« Elisa schaute auf ihr Fitnessarmband. »Erst sechs Kilometer. Noch vier und wir können uns den wirklich wichtigen Dingen des Lebens widmen.« Fröhlich raste sie weiter.
Nelly ahnte Fürchterliches. »Oh bitte. Nein, nein, nein«, jammerte sie. »Lieber noch zehn Kilometer und dann nicht an den Schreibtisch.«
»Ich habe dir versprochen, dass ich dich durchs Abi prügle, und ich wäre nicht deine beste, längste und treueste Freundin, wenn ich mein Versprechen nicht halte. Also nix da. Weiter geht’s.«
»Menschen wie du sollten gesetzlich verboten werden«, klagte Nelly.
»Das kannst du ja machen, wenn du Anwältin bist, ich stelle mich als Anschauungsobjekt jederzeit zur Verfügung.«
»Ich kann nicht mehr, ich brauche eine Pause.« Nelly blieb stehen und fing halbherzig mit Dehnübungen an. »Außerdem habe ich Hunger. Es ist grausam, jemanden bei Eis und Schnee ohne Frühstück aus dem Haus zu jagen.«
»Ich bitte dich, die Sonne scheint. Sei übrigens froh, dass Heidi Klum nicht wirklich am Telefon war.«
»Wieso?«
»Dann wäre Schluss mit drei Croissants und Nutella und Rührei mit Bacon. Weil ihre Meeeeeeeeeedchen müssen sich ja gesund ernähren.«
»Für GNTM würde ich sogar Sellerie und Kohlrabi essen. Mehrere Tage am Stück. Oder Kohlsuppe. Oder Spinat ohne Kartoffeln und Eier. Oder Lauch. Ehrlich. Ach, wenn es doch klappen würde.«
Elisa, die einen kleinen Rucksack dabeihatte, setzte ihn ab und zog ein kleines Päckchen heraus. »Mmhm. Leberwurstbrot. Mmmhhmmmm, Camembert …«
»Oh!« Nellys Augen leuchteten. »Du denkst an alles. Gib!«
»Gleich. Lass uns auf den Hochsitz da klettern.«
»Okay.«
Als sie oben waren, kickte Elisa die Leiter zur Seite.
»Bist du verrückt, wie sollen wir denn hier wieder runterkommen?«, regte Nelly sich auf.
»Das sehen wir dann. Jetzt …«, Elisa packte noch was aus ihrem Rucksack, »wird erst mal gelernt. Fürs Abi. Dass du mir da keine Schande machst.«
»Nein!«
»Dann geh doch«, sagte Elisa und blätterte in den Unterlagen herum. Nelly seufzte und schaute nach unten. Die Leiter lag am Boden, zum Springen war es zu tief, und außerdem würde sie Volltrottel sich dabei beide Beine brechen. Da gab es doch mal diesen schrecklichen Film, in dem ein Snowboarder aus einer Gondel gesprungen war, weil irgendein Gondelaufseher sie abgestellt hatte. Danach konnte er sich nicht mehr bewegen, und irgendwann waren dann Wölfe gekommen. Angeblich nach einer wahren Begebenheit. Nelly fand diese Filme nach wahren Begebenheiten immer ganz entsetzlich und konnte dann nie schlafen, aber sie schaute sie trotzdem.
So. Nun hockten sie also auf diesem Hochsitz.
Sie hätte es sich eigentlich denken können. Elisa kannte sie einfach zu gut. Und genauso gut kannte sie Elisa.
»Also schön«, seufzte sie. »Aber erst ein Stück Käse.«
Elisa nickte und lehnte sich zufrieden zurück. Jetzt konnte die Freundin keinen Rückzieher mehr machen.
Zwei Stunden später kamen ein paar Spaziergänger vorbei, die so nett waren, die Leiter wieder aufzustellen, und die beiden gingen nach Hause.
»Ich frag dich heute Abend noch mal ab«, sagte Elisa. »Und dann machen wir das morgen wieder und wieder und … was ist?«
Nelly war stehen geblieben und umarmte sie plötzlich. »Danke«, sagte sie. »Du bist die Beste.« Das meinte sie ehrlich. Elisa war die Bodenständigere und Stetigere der beiden. Sie war zwar auch lustig, stand aber mit beiden Beinen fest im Leben. Sie lernte, wenn es was zu lernen gab, wägte ab, ließ sich selten zu spontanen Äußerungen und Handlungen hinreißen, es dauerte lange, bis sie jemanden als Freund oder Freundin bezeichnete, und sie war ein konstanter Fels in Nellys Brandung, auch wenn sie oft Selbstzweifel plagten und sie dachte, alle anderen seien besser und hübscher als sie.
Nelly wiederum war wuschig, immer auf der Suche. Nach was, wusste sie selbst nicht so genau. Sie war hier und dort, machte dies und das, manches falsch und auch richtig, und es gab nur einen einzigen Menschen, der sie verstand, so wie sie war, und das war Elisa. Nelly dankte dem Schöpfer noch heute, dass sie und Elisa damals im Sandkasten ihre Haare so miteinander verknotet hatten, dass man sie wie siamesische Zwillinge zu einem Friseur hatte transportieren müssen, der aber auch nicht wirklich was retten konnte. Und so hatten Elisa und Nelly dann auf der einen Seite lange und auf der anderen kurze Haare, das schweißte zusammen. So war es bis heute geblieben. Nicht nur die Haare waren gewachsen, sondern auch die Freundschaft. Sie waren zusammen eingeschult worden, hatten nebeneinandergesessen, voneinander abgeschrieben und auf Klassenfahrten die Hand von Elke Braul in warmes Wasser gehalten, bis sie pinkeln musste. Nellys Vater sagte immer, die beiden könnten Werbung für Sekundenkleber machen – so fest wie diese Freundschaft war. Und er hatte recht.
Vor ein paar Monaten dann hatte Nelly sich in Frankfurt auf der Zeil von so einem Modelscout anlabern lasen. Sie sei ja so hübsch und wandelbar und sie solle eine Sedcard erstellen lassen und er würde sie alle, alle persönlich kennen, also den Karl Lagerfeld und Claudia Schiffer und Wolfgang Joop und Heidi Klum und Gianni Versace.
»Aha«, hatte Elisa gesagt, die dabei gewesen war. »Der ist doch vor Jahren erschossen worden. Und Karl Lagerfeld ist letztens erst gestorben.«
Der angebliche Scout meinte ja auch Yves St. Laurent. Dass der auch tot war, brachte ihn ein bisschen aus der Fassung, und er ging weiter. Aber Nelly hatte sich in den Kopf gesetzt, sich als Model zu bewerben, hatte an GNTM geschrieben und bislang keine Antwort erhalten. Also bis heute Morgen, als Heidi angeblich selbst am Telefon war. Elisa schüttelte über Nellys Engagement im Modelbusiness zwar den Kopf, machte sich aber trotzdem nicht lustig, sondern nahm es ernst und bestärkte die Freundin in ihrem Tun.
Sie selbst war eher für den geraden Weg zuständig: Direkt nach dem Abitur würde sie in einem Verlagshaus in Hamburg ein Volontariat machen, wenn das hoffentlich, hoffentlich klappen würde, und – so hatten sie es besprochen – Nellys Noten mussten so gut sein, dass sie ebenfalls in Hamburg Jura studieren konnte. Deswegen ergriff Elisa momentan jede Chance, um die Freundin zum Lernen zu bringen. Nicht auszudenken, wenn Nelly in eine andere Stadt müsste. Sie, Elisa, würde dafür sorgen, dass sie zusammenblieben, komme was wolle.
Inzwischen waren sie bei Elisa zu Hause angekommen. Ihre Eltern waren noch bei Bekannten und würden erst spät am Abend zurückkommen.
»Ich leg mich noch mal hin«, sagte Nelly und gähnte. »Das ist mir zu viel Power auf einmal an einem Sonntag.«
»Na gut, ich erlaube es.«
»Und du?«
»Ich lese.«
Später kochten die beiden sich Spaghetti mit Tomatensoße, füllten alles zusammen in eine große Schüssel und machten es sich auf dem Sofa mit Netflix bequem. Eine neue Staffel einer ihrer Lieblingsserien war genau das, was sie jetzt brauchten. Und sich. Herrlich.
»Ja! JAAAAA!« Nelly hüpfte herum wie eine Irre. Vor einer Viertelstunde hatten sie ihre Abizeugnisse bekommen, und Nelly hatte es geschafft, geschafft, geschafft! Sie würde in Hamburg studieren können, sie hatte die Voraussetzungen.
»Nach mir fragst du gar nicht«, beschwerte sich Elisa und tat so, als sei sie beleidigt.
»Du hast das beste Zeugnis des Jahrgangs, ich möchte nicht, dass du noch arroganter wirst«, erklärte Nelly. »Du bist eh schon so ätzend und lästerst über mich und die anderen. Eigentlich will ja niemand was mit dir zu tun haben. Du Strebertussi. Bin ich froh, dass die Schule vorbei ist und ich dich nicht mehr sehen muss.«
»Geht mir genauso. Du bist blond und dumm. Eine Hohlbirne. Aus dir wird nix.«
Sie grinsten sich an, umarmten sich wieder, und dann gingen sie zu den anderen. Heute war Feiern angesagt, aber so was von!
»Leon, bitte.« Nelly verschränkte die Arme. »Wo ist das Problem? Ich will nicht nach Australien ziehen, sondern nach Hamburg.« Die endgültige Zusage der Uni war vorhin gekommen, und dann hatte Elisa angerufen und jubelnd mitgeteilt, dass sie die Volo-Stelle erhalten hatte. Beide befanden sich im emotionalen Ausnahmezustand. Sie wollten, dass alle in ihrem Umfeld sich für sie und mit ihnen freuten, aber zumindest Leon stand da mit hängenden Schultern und traurigem Blick und wirkte wie ein junger Beagle, den man an einer Autobahnraststätte in glühender Hitze zurückgelassen hatte.
»Das sind fünfhundert Kilometer«, winselte Leon.
»Eben. Und nicht fünfhunderttausend. Außerdem hast du doch gesagt, dass du mal länger mit dem Rad unterwegs sein willst nach dem Abi, das passt doch. Fahr doch einfach nach Hamburg und besuch uns.«
»Das sagst du so«, schniefte Leon leidend. Er hatte schon immer einen Hang zur Theatralik gehabt und war aktives Mitglied einer Laienschauspielgruppe. Leider hatte noch kein gestandener Regisseur sein überbordendes Talent entdeckt, und sämtliche Schauspielschulen, an denen er Aufnahmeprüfungen gemacht hatte, sagten ab. Wahrscheinlich weil sie sein wahres Talent einfach nicht erkannten. Deshalb hatte Leon beschlossen, eine Auszeit zu nehmen von dem ganzen Stress und ein halbes Jahr Rad zu fahren, um den Kopf mal freizukriegen. Er hatte gehofft, dass Nelly ihn begleitete, doch die hatte eine Aversion gegen Hügel, die mit einem Rad erklommen werden wollten. Nelly war eher bequem veranlagt. Ihr Credo war: Ich hasse Sport. Man kann auch in der Badewanne schwitzen.
Sie hatte trotzdem eine ganz hervorragende Figur und sah so aus, als würde sie täglich mehrere Stunden Kraft- und Ausdauertraining absolvieren, aber nichts da. Nelly verdrückte drei Tafeln Schokolade und sagte dann so Sachen wie: »Ich glaube, die Jeans ist mir zu groß«. Eine Tatsache, die Elisa fast verrückt machte. Sie selbst hatte für ein Laufband gespart, das einen Höllenlärm veranstaltete, und darauf rannte sie herum, wenn es regnete, bei schönem Wetter sprintete sie durch den Wald. Nelly konnte den Satz »Mein Stoffwechsel ist eben nicht so gut wie deiner« nicht mehr hören. Elisa haderte mit vielem. Auch mit der Erderwärmung, mit der AfD, mit Veganern und mit Leuten, denen alles egal war. Das waren die schlimmsten. Und Nelly? Nelly ließ sich einfach erst mal auf alles ein und begann dann über dieses, jenes oder was auch immer nachzudenken, oder eben – wenn es sie nicht interessierte – auch nicht. Eigentlich beneidenswert, musste Elisa zugeben, so kam Nelly wirklich gut durchs Leben. Sie selbst machte sich einfach viel zu viele Gedanken. Nelly ließ alles auf sich zukommen und lebte einfach. So wie jetzt.
»Dann lässt du mich also zurück.« Leon schluckte schwer.
»Wir haben doch alles besprochen. Und du weißt, dass ich nach Hamburg will, und nun werde ich nach Hamburg gehen. Es ist ja nicht so, dass ich dich hier vor vollendete Tatsachen stelle.«
»Du willst nicht nach Hamburg, du willst dahin, wo Elisa ist«, stellte Leon ganz richtig fest.
»Sei bitte nicht wieder eifersüchtig. Elisa ist meine Freundin und du bist mein Freund.«
»Schon bald wirst du mich vergessen haben«, klagte Leon. »Deine Mutter findet es übrigens auch nicht gut, dass du ins Ausland gehst.«
»Ins Ausland?« Nelly glaubte, nicht richtig zu hören. »Du hast recht«, sagte sie dann. »Schlimm. So weit weg von der Zivilisation, von normalen Menschen. In Hamburg wohnen ja überwiegend Kannibalen und man verständigt sich mit gutturalen Lauten und sendet sich Feuerzeichen über die Elbe.«
»Sag ich doch.« Leon war weinerlich. »Willst du deine arme Mutter in Angst und Sorge zurücklassen und …« Nelly hörte gar nicht mehr hin. So war Leon eben.
Aber ihre Mutter war in der Tat ein Problem. Henrietta war keine Helikoptermutter, sondern ein ganzes Geschwader. Nelly wollte im Alter von fünf Jahren schon mal ausziehen und hatte sogar in Erwägung gezogen, sich einfach bei einer Pflegefamilie einzuschmuggeln, am besten bei einer mit neun Kindern, da würde sie nicht so auffallen. Alles war besser, als unter Henriettas Fittichen zu leben. Henrietta war lieb, keine Frage, und sie war vernarrt in ihre einzige Tochter, aber sie hatte eben ständig die Befürchtung, was ganz Schlimmes könnte passieren. Nelly beneidete ihren älteren Bruder Alexander. Der konnte machen, was er wollte, das war immer alles ganz toll, und niemand machte sich Sorgen, wenn er drei Stunden zu spät vom Fußballtraining nach Hause kam. Wenn das bei ihr, Nelly, passierte, war es nicht unwahrscheinlich, dass nach drei Minuten schon ein Polizeigroßeinsatz mit Suchhunden ausgelöst war, die den Taunus durchkämmten, während sie an einer Bushaltestelle im Funkloch saß.
Elisas Eltern waren anders. Sie waren locker und cool, und bestimmt lag die Coolness daran, dass Elisa auf die Welt kam, als beide achtzehn gewesen waren. Jetzt waren sie sechsunddreißig. Alte Leute, keine Frage, aber verglichen mit Nellys Mutter und ihrem Vater, die beide auf die fünfzig zugingen, waren Jens und Ines fast noch Kinder. Und längst nicht so entsetzlich überfürsorglich wie Henrietta und ihr Mann Bernhard. Wobei Bernhard ganz okay war, was daran lag, dass er eigentlich immer in einem Flugzeug saß. Als Unternehmensberater flog er durch die Weltgeschichte, während Henrietta zu Hause saß und vor lauter Angst um Nelly durchdrehte.
»… könnte ich es schaffen.« Leon sah sie begeistert an.
»Was?« Nelly hatte nichts mitbekommen.
»Wenn ich vierzig Kilometer am Tag radle, dann könnte ich in ungefähr zwölf Tagen da sein«, erklärte Leon, der langsam feststellte, dass Hamburg nicht Sydney war.
»Ich habe ja noch nicht mal eine Wohnung«, sagte Nelly vorsichtig. Leon war wirklich sehr anhänglich. Sie hatte auch ein wenig die Befürchtung, dass er bleiben könnte, wenn er erst mal da war. Was er beruflich machen wollte, stand bei ihm nämlich noch in den Sternen. Studieren? Mal sehen. Vielleicht Soziologie, vielleicht Betriebswirtschaft, vielleicht Anthoprologie, vielleicht auf Lehramt, vielleicht Meeresbiologie oder oder oder. Leon war anfangs ganz amüsant gewesen und hatte Nelly von vorn bis hinten hofiert, das hatte ihr ganz gut gefallen. Aber mittlerweile war er wie eine Klette, und Nelly war ehrlich gesagt gar nicht unfroh, bald weg aus Hessen zu sein, sosehr sie ihr Heimatstädtchen Oberursel auch mochte.
»Das besprechen wir alles, wenn wir erst da sind.« Nelly schaute auf die Uhr. Mama würde gleich zu Hause sein, und dann müssten sie und Elisa, die hoffentlich auch gleich aufkreuzte, ihr das Unabänderliche sagen, nämlich dass es bei ihnen beiden mit Hamburg geklappt hatte. Dass sie es jetzt von Uni und Verlag schwarz auf weiß hatten.
Henrietta hatte das Thema »Auszug von daheim« eine Zeit lang totgeschwiegen und gehofft, dass Nelly Hamburg vergessen könnte und sich in Frankfurt einschreiben würde. Als Nelly Hamburg nicht vergaß, hatte sie Migräne und eine angeblich nicht behandelbare Krankheit in der Nase bekommen. Als das auch nichts nützte, hatte sie behauptet, am Empty-Nest-Syndrom zu leiden, dieser Krankheit, die Eltern überfällt, wenn ihre Kinder ausziehen.
»Aber ich bin doch zu Hause, Mama«, hatte der zwanzigjährige Alexander, der in Frankfurt studierte, leicht pikiert angemerkt.
Aber das zählte nicht. Es zählte nur, dass Nelly weggehen wollte und Henrietta fortan tausend Tode sterben würde, immer dann, wenn die Tochter nicht gleich ans Handy ginge. Nelly beneidete Alex. Er konnte tun, was er wollte, niemand machte sich Sorgen.
Heute Abend nun sollten die Details besprochen werden. Es klingelte an der Tür.
»Das wird Elisa sein«, sagte Nelly zu Leon. »Du musst jetzt gehen, wir haben unheimlich viel zu planen.«
»Du kannst mich doch mit einbeziehen«, schlug Leon vor. »Ich bin logistisch gut bewandert und kann euch zeigen, wie man optimal im Auto die Gepäckstücke staut.«
»Ein andermal vielleicht.« Nelly schob ihn zur Zimmertür hinaus und öffnete dann die Haustür. Es war tatsächlich Elisa. Und neben ihr stand ihre Oma, die sie gefahren hatte. Oma Angie war eine coole Socke und sehr interessiert, was ihre Enkelin betraf. Angie war fünfundsechzig und behauptete, eine Affäre mit einem der Beatles gehabt zu haben. Und mit einem der Rolling Stones. Und mit Elvis Presley. »Ich war ein Groupie«, pflegte sie zu sagen. »Im Tourbus bin ich mitgefahren. Und als Mick Jagger krank war, habe ich ihm Hühnersuppe gekocht.« Sie hatte auch Fotos von dieser Zeit und wurde nicht müde zu erzählen, wie hammergut das Leben damals war. Und Angie, diesen Hit der Stones, den hatte Mick Jagger nur für sie komponiert und gesungen, da war sie so zwanzig. Oma Angie war eine Dramaqueen und fand es da toll, wo was los war. Sie las gern blutige Krimis und war neugierig, eine Eigenschaft, die sie gern mal anecken ließ. Angie sagte auch ungefragt ihre Meinung.
»Oma Angie, wie schön, kommt rein. Tschüs, Leon.« Der schlich beleidigt davon. »Wie gut, dass du Angie mitgebracht hast«, fügte Nelly hinzu. »Angie ist wohl hoffentlich auf unserer Seite.«
»Ich will nicht stören«, sagte die Oma. »Aber als ich hörte, dass Hamburg nun spruchreif ist, musste ich einfach mitkommen. Früher hat da ja ein Serienkiller gemordet, in einer Kneipe, die …«
»Oma, bitte, jetzt nicht, und bitte, behalte das mal für dich«, bat Elisa. »Wenn Nellys Mutter das hört, können wir alles vergessen.«
»Das stimmt«, sagte Nelly.
»Na gut«, war Omas Meinung. »Ich will aber alles wissen und bin entsetzlich neugierig, aber das ist ja bekannt.« Sie zog ihre Jacke aus. Und da fuhr der Wagen mit Nellys Mutter am Steuer vor. »Vielleicht hat der Mörder Nachkommen, ich muss das mal recherchieren«, freute sich Angie. Nelly starrte sie böse an, und Angie schwieg. Man sah ihr aber an, dass ihre Fantasie Purzelbäume schlug.