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Hamburg, Erste Liebe

»Und dann …«, sagte Claas leise, genoss seine Kunstpause und schenkte noch etwas Tee in seinen zerbeulten Emaillebecher, »war da plötzlich ein Geräusch. Ein Kratzen am Rumpf, dann ein Klopfen, als wolle jemand rein. Wegen dem dichten Nebel haben die Jungs draußen an Deck überhaupt nichts sehen können. Eine dicke Suppe, man konnte seine Finger nicht vor den Augen erkennen. Eine Weiterfahrt konnten wir vergessen, es wäre zu gefährlich gewesen. Also saßen wir alle unter Deck. Es war kalt und ungemütlich, eine Heizung hatte der alte Schoner nicht. Wir konnten nur warten, bis der Nebel sich mal bequemte fortzugehen, aber das konnte im Herbst dauern …« Claas nahm einen tiefen Schluck von seinem Tee und runzelte die Stirn. »Da fehlt Sahne. Gib mal die Kanne. Und den Kandis. Meinen Tee trink ich nur süß und mit Sahne.«

Felicitas reichte ihm mit zitternder Hand die kleine Delfter Porzellankanne, die schon etliche Sprünge hatte.

»Und dann?«, fragte Philipp gespannt.

»Dann … och Kinners, ich weiß gar nicht, ob ich euch das erzählen kann …«, sagte Claas und runzelte die Stirn. »Das sind Geschichten …«

»Claas, oh Gott, Claas, das kannst du doch nicht machen, erst anfangen und dann nicht weitererzählen, bitte, bitte, erzähl weiter!«, riefen alle durcheinander, und Felicitas schlotterte schon vor Angst. »Wenn da Tote waren …«, wisperte sie.

Sie saßen zu sechst da. Nelly, Elisa, Felicitas und noch zwei Jungs. Der 19-jährige Philipp aus Aachen, ein aufgeschlossener, schlanker, dunkelhaariger junger Typ, und sein gleichaltriger, blonder Cousin Julius aus der Nähe von Berlin, der sehr sportlich aussah, was daran lag, dass er sehr viel Sport trieb. Er war ein wenig unbeholfen, stand öfter mal im Weg rum und wirkte auf den ersten Blick ein bisschen kompliziert. Philipp würde vor seinem Medizinstudium sein Freiwilliges Soziales Jahr in der Universitätsklinik im Stadtteil Eppendorf absolvieren, und Julius, der schon in Belgien und Frankreich Praktika gemacht und gearbeitet hatte, wollte hier Koch werden. In einem feinen, edlen, alteingesessenen Restaurant in Blankenese würde er die Ausbildung beginnen.

Felicitas passte nicht so recht in die Runde – alle waren leger angezogen, und sie saß da in einem braun-beige-karierten Rock, einer dunklen Strumpfhose, flachen Schuhen und einer braunen Strickjacke. Sie hatte die Hände brav vor sich auf den Tisch gelegt und sah aus wie eine ältliche Gourvernante, während alle anderen so gekleidet waren, wie man sich halt in dem Alter anzog.

Es war ihr erster Abend, Claas hatte zur Begrüßung ein Labskaus gemacht, was niemand außer Felicitas kannte. Gepökeltes, zerstampftes Rindfleisch gemischt mit Kartoffelbrei, rohem Matjes, Roter Bete und Gewürzgurke war nun mal nicht jedermanns Sache. Aber es war gut.

»Hat meine Mutter immer gemacht, wenn wir vom Fischen heimkamen, da brauchten wir was Richtiges. Das hier oder eine gute Aalsuppe«, hatte Claas gesagt, und alle hatten brav probiert und dann festgestellt, dass es wirklich gut schmeckte. Auf dem alten Ofen stand der mit Wasser gefüllte Teekessel aus Kupfer, der gleich wieder anfangen würde zu pfeifen, ein Geräusch, das einen Toten wecken konnte.

»Vielen Dank für das gute Essen«, hatte Felicitas dann brav gesagt. »Ich kann auch mal für euch alle kochen. Mein Lieblingsessen. Habt ihr Lust?«

»Klar«, waren sich alle einig. »Super Idee!«

»Was ist es denn?«, hatte Philipp gefragt.

»Knipp.« Felicitas war stolz. »Das essen wir in Bremen mit Apfelmus oder süßsaurem Kürbis.«

»Aha. Und was ist Knipp?« Elisa fand die Aussicht nicht mehr so berauschend. Süßsaurer Kürbis gehörte nicht unbedingt zu ihrem Lieblingsessen.

»Das ist ein Gericht aus Schweinebauch, Hafergrütze, Leber, Schwarte und Schweinskopf. Dann kommen noch Zwiebeln und Kräuter und Brühe rein. Es ist so lecker.«

Niemand sagte was.

»Es ist ein altes Familienrezept. Meine Uroma hat das schon gemacht und dann meine Oma und dann meine Mama und Tante Jutta und auch ich. Wir bieten das auch oft nach den Beerdigungen auf den Trauerfeiern an. Aber nur die richtigen Bremer bestellen das.«

»Das glaube ich«, hatte Julius gesagt. »Man muss ja immer darauf achten, dass es genügend Tote gibt und das Geschäft gut läuft.«

Felicitas war sehr beleidigt gewesen. »Okay, dann mache ich keinen Knipp für euch.« Niemand hatte protestiert.