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»Neunzehnhundertvierundfünfzig.« Elisa konnte es nicht glauben.

»Ja.« Feli schnäuzte in ein Taschentuch. »Aber das ist ja mit am unschlimmsten. Wobei ich Jahrhunderte brauchen würde, bis ich die Ablage einigermaßen in den Griff bekomme. Am schlimmsten sind die Mäuse. Dauernd dieses Geraschel. Und die Särge sind falsch gestapelt. Die fallen dauernd um, wenn das Hannelörchen loslegt mit dem Wienern. Einer aus Mahagoni hätte mich fast erschlagen.«

»Neunzehnhundertvierundfünfzig.« Elisa schüttelte den Kopf.

»In diesem Jahr ist Deutschland Fußballweltmeister geworden«, erinnerte sich Philipp demütig. »Das war ein Spiel.«

»Oh ja, ich erinnere mich noch«, sagte Julius. »Warst du damals auch im Stadion?«

»Sehr witzig. Also, Feli, was willst du jetzt tun?«

»Herr Mortensen vergisst alles«, jammerte Feli. »Auch mich. Und das Hannelörchen. Dreizehnmal hat er mich heute begrüßt und gesagt, wie schön es sei, jemanden zu haben, der hilft. Morgen wird es so weitergehen. Er verwechselt alles, und so wie es aussieht, wird er sein Geschäft nicht mehr lange halten können. Die Leute sind nicht zufrieden. Bis ich allein alle Beschwerdebriefe durchgesehen und beantwortet habe, wird es Jahre dauern. Heute war ein Ehepaar da, da ist ein Onkel gestorben. Herr Mortensen hat dauernd nur gefragt, ob es was zu erben gibt, und hat so blöd gelacht, und das Hannelörchen hat angefangen, die beiden Leute mit Möbelpolitur abzureiben.«

»Das hat sie nicht wirklich getan, oder?« Nelly musste lachen.

»Doch. Es war so entsetzlich. Hannelörchen ist auch total unsensibel. Die Frau hat geweint und Hannelörchen hat gesagt, sterben müsse jeder und nur die Harten kommen innen Garten oder so was. Und sie sollten am besten gleich eine Sterbevorsorgeversicherung abschließen, sonst könne man nicht garantieren, dass man auch den Sarg kriegt, den man bestellt hat, und mit der Bepflanzung auf den Friedhöfen würde auch einiges im Argen liegen, wenn man sich da nicht rechtzeitig drum kümmert. Das Kostüm von der Frau war dann voller Politur, und sie ist mit ihrem Mann wieder gegangen, und Herr Mortensen hat gesagt: ›Ach, ein neues Gesicht, schön, dass Sie da sind und uns helfen, Fräuleinchen.‹ Und die ganze Ablage. Die Mäuse. Der Staub. Bestimmt bekomme ich Asthma. Dann sind wir mit Herrn Mortensens altem Auto zu einem Toten gefahren, und Herr Mortensen hat sechsmal beinahe einen Unfall gebaut, er sagt, rote Ampeln seien nichts als Schikane und die Fußgänger hätten die Demut vor dem Fahrzeug verlernt. Und morgen muss ich da wieder hin. Es ist alles so entsetzlich! Diese Ablage! Diese Ablage! Seit …«

»Neunzehnhundertvierundfünfzig«, wiederholte Elisa. »Na ja, andererseits gibt es Schlimmeres, als Sachen abzuheften. Du besorgst dir einfach Ordner, und dann sortierst du das nach Jahren, und alles ist gut.«

»Man kann auch wunderbar mit Trennstreifen arbeiten«, warf Julius ein. »Beschriftete Trennstreifen sorgen für Ordnung und Übersicht.«

»Trennstreifen! Noch mehr Papier! Du kannst dir offenbar nicht vorstellen, wie viel Papier im Laufe von fünfundsechzig Jahren da schon zusammengekommen ist«, klagte Feli und holte ihr Handy. »Hier, ich habe ein Foto gemacht.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Philipp, nachdem sie draufgeschaut hatten. Auf dem Foto war ein bis an die Decke mit Papieren gefüllter Raum zu sehen, in der Mitte hatte Feli sich für das Selfie etwas Platz freigeschaufelt und man konnte ihren Kopf sehen. Sie hatte die Augen weit und entsetzt aufgerissen. Auf einem der Briefbögen, die sich um sie quetschten, war gut leserlich der Schriftzug Bestattungsinstitut Mortensen – mehr tot als lebendig zu erkennen.

»Wer kommt denn auf solche Sprüche?« Philipp war fassungslos.

»Das ist der Sohn. Der wollte mal Werbetexter werden, aber keiner hat ihn genommen.«

»Hier, auf dem Firmenbogen steht: Mortensen: Hier macht Sterben Spaß.« Philipp schüttelte den Kopf. »Wundert mich jetzt nicht, dass keiner ihn genommen hat. Das darf ja wohl nicht wahr sein.«

»Der Sohn hat jetzt ein Geschäft und beliefert Menschen, die nicht so viel frühstücken«, erzählte Feli.

»Aha. Dann sollen sie doch einfach grundsätzlich weniger essen«, sagte Nelly, die den Sinn dieses Geschäfts nicht verstand. Dafür brauchte man doch keinen extra Lieferdienst.

»Der Sohn hat einen Aufbackofen und wirbt für sich mit: WIR BACKEN KLEINE BRÖTCHEN.«

»Bestimmt ist er sehr reich«, sagte Elisa.

»Nein.« Feli seufzte. »Herr Mortensen muss ihn finanziell immer noch unterstützen. Dabei ist der Sohn schon fast in Rente.«

»Oh Himmel«, entfuhr es Julius, und er betrachtete das Foto noch näher. »Da ist ja kein einziger Briefbogen gelocht. Allein bis du das erledigt hast, werden Jahre vergehen. Hoffentlich hat Herr Mortensen einen Locher mit Leiste, sonst kannst du jedes Blatt Papier mittig knicken. Das wäre …«

»Herr Mortensen hat überhaupt keinen Locher«, sagte Feli verzweifelt. »Er meint, so etwas komme ihm nicht ins Haus. Ich muss die Ablage händisch lochen.«

»Händisch lochen? Was ist denn das für ein Ausdruck?«, fragte Nelly. Was war das denn überhaupt für eine Diskussion?

»Händisch lochen heißt händisch lochen«, sagte Feli verzweifelt. »Ich weiß ja auch nicht. Vielleicht sollte ich einfach zu Papa …«

»NEIN!«, brüllten ihre vier Mitbewohner. »DAS KOMMT NICHT INFRAGE! DU BLEIBST HIER BEI UNS!«

Feli wurde rot. »Eigentlich wollte ich sagen, dass ich einfach zu Papa gehen und ihn bitten wollte, herzukommen und heimlich mit mir nach Ladenschluss zu lochen. Aber so ist es auch schön. Also … was ihr da gesagt habt. Danke.«

»Du brauchst deinen Vater nicht zum Lochen.« Julius war ganz theatralisch. »Ehrensache, dass wir das mit dir erledigen!«

»Wir lochen gemeinsam!«, sagte nun auch Nelly.

»Darf ich die Unterlagen von neunzehnhundertvierundfünfzig lochen, Feli?«, fragte Elisa, und Feli nickte. Ihr war ganz warm ums Herz, auch wenn sie das Wort lochen langsam nicht mehr hören konnte.

»Und jetzt zu meinem supergenialen Plan«, erklärte Elisa. »Denn sicher habt ihr jetzt alle Hunger.«

»Stimmt. Hast du was vom Mäckes mitgebracht?« Philipp freute sich.

»Nein. Aber ihr habt jetzt also alle Hunger, ich gehe zumindest mal davon aus«, wiederholte Elisa. »Und weil es in einer WG – ich habe natürlich gegoogelt und mich vorbereitet – nur einigermaßen funktioniert, wenn sich jeder an die ihm zugeteilten Aufgaben hält, habe ich dieses hier erarbeitet.« Sie holte ihr iPad aus der Umhängetasche und suchte die Datei. »Wöchentlich wechseln wir uns beim Einkauf ab, und der Einkaufszettel wird immer sonntagabends geschrieben, wenn wir gemeinsam gegessen haben.«

»Moment mal«, warf Julius ein. »Ich hatte nicht vor, hier so zu leben wie in Berlin. Mit Abendbrotszeiten und kannst du nicht dein Zimmer aufräumen und iss doch noch was, du bist im Wachstum. Mach hier bitte nicht auf Mama für alle.«

Elisa sah ihn mitleidig an. »So kann nur jemand sprechen, der noch nie Verantwortung übernommen hat.«

»Sollen wir vielleicht auch noch vor dem Essen zusammen beten?« Julius schien das alles nicht recht zu sein. »Ich ziehe doch nicht von zu Hause aus, damit hier alles von vorne losgeht.«

»Lass Elisa doch einfach mal ausreden«, sagte Nelly, die auch noch gar nichts von dem Plan ihrer Freundin wusste. »Sie hat eigentlich immer ziemlich gute Ideen. Und außerdem brauchen wir so was wie einen Plan wirklich. Sonst kann hier ganz schnell das Chaos sein.«

»Das Chaos regieren«, verbesserte Julius.

»Von mir aus auch das«, sagte Nelly. »Du bist echt ganz schön klugscheißerisch, Julius.«

»Ja«, sagte Julius einfach. Nicht, dass er auch laufen gehen könne, wenn man ihn loswerden wolle.

»Vielleicht brauchen wir aber auch gar keinen Plan.« Feli heulte schon wieder fast. »Wenn wir hier wieder fortmüssen.«

»Feli, bitte! Da ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Also, können wir uns jetzt bitte mal Elisas Plan anschauen? Immerhin ist sie die Einzige, die sich die Mühe gemacht hat.«

»Danke.« Elisa öffnete die Datei. »Tadaaaa! Bitte schön! Eigentlich ist alles ganz einfach. Jeder hat Aufgaben, immer wöchentlich. Nehmen wir mal den Montag …«

Und so saßen sie auf dem alten Schiff, diskutierten, lachten, kochten Spaghetti und zickten sich auch mal an, während die Erste Liebe ihnen verlässlich und mit aller Ruhe ein Zuhause gab und sie auf der stillen Elbe hin- und herwiegte.

»Übrigens, Nellyschatz, ich danke dir tausendmal wegen heute«, sagte Elisa, als sie gegen Mitternacht einen ihrer viel zu großen gestreiften Herrenpyjamas anzog.

»Wegen Meghan und Harry?« Nelly, die schon im Bett lag, streckte sich. »Immer gern. Du weißt doch, dass ich eigentlich in den Buckingham Palast gehöre. Mit Diadem und Dianas Verlobungsring. Zu blöd, dass Kate den jetzt hat. Also Williams Frau. Also Harrys älterer Bruder. Ach, wie schön diese Hochzeit damals war. Charles und Diana in der St. Paul’s Kathedrale …«

»Wann war das?«

»1981. Und ich war nicht dabei. Danke, lieber Gott, dass es YouTube gibt. Dieses Kleid. So wunderwunderschön. Eigentlich bestand Diana nur aus luftiger weißer Seide. Böse Menschen haben damals gesagt, sie sähe aus wie ein Baiser. Aber sie war einfach nur schön. Als sie vor der Kirche aus der Kutsche stieg, hach …«

Elisa schüttelte den Kopf. »Du hast echt einen Knall, was das betrifft. Aber heute hast du mir damit mal geholfen. Meine neue Chefin war ganz begeistert. Ich muss dir ja überhaupt noch von dem Tag heute erzählen.«

»Dann putz dir die Zähne und komm ins Bett. Mein Tag war nicht so aufregend«, sagte Nelly. »Nachdem ich dich mit den Infos versorgt hatte, bin ich ins Bad gegangen, und das war’s dann. Ich weiß aber jetzt, wie viele Rillen die einzelnen Holzplanken auf dem Boden haben und dass auf der angebrochenen Klopapierrolle noch achtundneunzig Blätter waren. Jede Perforationsnaht hatte fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig kleine Löcher. Also, erzähl …«

»Mach jetzt bitte nicht einen auf Julius. Ich komme gleich.« Elisa putzte sich die Zähne und zählte halbherzig bis hundertachtzig. Drei Minuten. Dann sprang sie ins Bett.

»Dass ich zum Rathaus musste, weißt du ja. Und dann sollte ich ein, wie Sanni, also meine Kollegin, die andere Volontärin, sagte, launiges Stück über Meghan und Harry verfassen. Zur Konferenz nachmittags musste das fertig sein, und ich dachte, ich werde irre, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben gemerkt habe, was man mit dem Sprung ins kalte Wasser meinen könnte. Ich wusste ja fast gar nichts über Harry und diese Meghan. Und dass die geheiratet haben, wusste ich nur, weil du im Mai so ein Trara gemacht hast wegen dieser Hochzeitsübertragung. Wenn ich dich nicht gehabt hätte!«

»Und weiter?« Nelly war gespannt.

»Ich kam also zum Rathaus und durfte in diesen Interviewraum, und da saßen die und man konnte Fragen …«

»WAS?« Nelly setzte sich im Bett auf. »Du hast die beiden gesehen? Live und in echt? So richtig??? Das hast du ja in den WhatsApps gar nicht erwähnt. Nur dass du was über die schreiben musst! Oh nein! Ich raste aus! Wieso ist das überhaupt an mir vorbeigegangen? Ich hätte mir doch ein Fähnchen besorgt und hätte gewunken! Du hast sie gesehen! Oh!«

»Ja sicher, ich kam ja von der Zeitung und hatte einen Termin.«

»Ich raste aus. Ich raste aus.« Nelly konnte es nicht glauben. »Was hatte sie an? Wie waren die Haare? Welchen Schmuck hat sie getragen? War Harry nett zu ihr? Hast du sie anfassen können?«

»Nein. Herrje. Das sind Menschen. Einfach Menschen, die zufälligerweise in eine königliche Familie hineingeboren werden oder einheiraten. Mehr nicht. Also bitte.«

»Dass du so still daliegen kannst. Also, erzähl weiter.«

Und Elisa erzählte von den beiden Royals, von Meghans strahlendem Lächeln und wie sympathisch die beiden wirkten.

»Und es gab superleckere Schnittchen und Cremant«, schloss sie den Bericht ab.

»Meghan hat bestimmt nichts davon gegessen, sie achtet so auf ihre Figur«, seufzte Nelly. »Ein paar Möhrchen wird sie zu sich genommen haben, sonst nichts. Vielleicht gedünsteten Fenchel. Ach, ach. Und Alkohol hat sie bestimmt nicht getrunken, sie ist ja schwanger.«

»Hat sie auch nicht. Ich kam also in die Redaktion zurück und Sanni, also meine Kollegin, die andere Volontärin, hat gesagt, bis zur Sitzung müsse es fertig sein, und dann kamst du ins Spiel. Durch dich konnte ich noch coole Details mit in die Story reinnehmen. Danke, danke, danke!«

»Und wie war es dann in der Sitzung?«, fragte Nelly neugierig.

»Die Chefredakteurin, Inga Cavall heißt sie, war erst mal skeptisch, so von wegen erster Tag und so, aber als sie es gelesen hatte, war sie völlig begeistert, völlig begeistert, völlig beg–«

»Ich hab es jetzt verstanden. Und dann?«

»Hat sie mich vor allen gelobt und gesagt, eigentlich sei ja nur eine halbe Seite eingeplant gewesen, jetzt würden sie was anderes streichen und eine Doppelseite machen. Und als Aufmacher sowieso.«

»Was musste denn gestrichen werden?«

»Ein Artikel über Plastikmüll, den Sanni geschrieben hat.«

»Aha. Und die war nicht sauer?« Nelly runzelte die Stirn.

»Nein, Quatsch, die hat sich mit mir gefreut. Am ersten Tag so eine Geschichte, hat sie gesagt, das muss man erst mal hinkriegen. Sanni ist sowieso klasse. Total hilfsbereit. Ach, und einen Hausausweis hab ich jetzt auch. Mit Foto! Ich gehöre also jetzt richtig zum Team. Sanni freut sich sehr, dass ich da bin.«

»So, so«, sagte Nelly, die sich nicht vorstellen konnte, dass ein gleichgestellter Kollege jubilierte, wenn seine Geschichte ersatzlos gestrichen wurde. Aber gut. Vielleicht waren die da in der Redaktion so.