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Freitagabend

Elisa und Nelly saßen mit Kakao an Deck und hatten sich in zwei Decken gehüllt, weil es doch ziemlich kühl war, sobald die Sonne sich dazu entschlossen hatte, unterzugehen.

»Was für eine Woche.« Elisa schaute in den Himmel.

»Aber gut. Jedenfalls für mich. Für dich doch auch, oder?«

»Absolut. Die Kollegen sind klasse, und gerade mit Sanni verstehe ich mich super.«

»Ach, die andere Volontärin.« Nelly erinnerte sich.

»Genau. Erst dachte ich, sie ist sauer, weil Inga Cavall, die Chefredakteurin, meine Themen besser findet als ihre, aber Sanni ist klasse und sagt, dass sie von mir doch nur lernen kann und dass es zum Leben dazugehört, dass andere nun mal bessere Ideen haben.«

»Wow. Das finde ich groß.« Nelly nickte anerkennend.

Elisa kam wirklich wunderbar mit allen zurecht. Und gerade mit Sanni ganz besonders.

»Es tut mir so leid, dass Frau Cavall das Dieselthema nicht gut fand«, hatte Elisa noch am gleichen Tag der Themenkonferenz zu Sanni gesagt. »Dabei redet doch im Moment jeder über dieses Fahrverbot.«

»Es ist nun mal so. Ein gutes Thema ist nur dann ein gutes Thema, wenn Inga es für gut erachtet.« Sanni hatte mit den Schultern gezuckt. »Das war vor hundert Jahren so und wird in hundert Jahren immer noch so sein. Gut möglich, dass der Diesel nächste Woche dann irgendwann der Aufmacher ist, wenn ihr danach ist. Aber deine Idee mit den alten Geschäften ist davon abgesehen wirklich klasse.«

»Danke, Sanni. Also für das Lob und dafür, dass du nicht sauer bist.«

»Hör mal! Wir sind Kolleginnen. Und in so einem Job ist das nun mal so.«

Elisa war richtig froh gewesen und hatte begeistert mit dem Recherchieren angefangen.

»Hast du deinen Jan wiedergesehen?«, fragte sie nun Nelly.

»Klar. Jeden Tag. Und jeden Tag ist er genauso nett und irgendwie gar nichts zu mir. Als sei ich gar nicht da. Nein, falsch, als sei ich jemand, der neben ihm in einem Bus sitzt oder so. Hallo, Tschüs und schönen Tag und brauchst du was und hast du das verstanden, wie er das meinte, ach so, ja, danke, bitte. Ich glaube, wenn ich eine Scheibe Brot wäre, würde er mich einfach essen.«

»Vielleicht ist das einfach seine Art.«

»Brot zu essen?«

»Du weißt genau, was ich meine. Er dreht den Spieß um. Oma sagt doch immer: Willst du was gelten, mach dich selten.«

»Das ist doch albern«, sagte Nelly.

»Scheint aber zu funktionieren.« Elisa grinste. »Und nun komm. Die Reeperbahn wartet.«

»Kiez«, wurde sie von Nelly korrigiert. »Als Hamburger geht man auf den Kiez. Nicht auf die Reeperbahn. Nur Touris gehen auf die Reeperbahn und sagen zur Polizeistation auf dem Kiez Davidswache.«

»Wie heißt sie denn?«

»Davidwache.«

»Ach. Das ist ja unglaublich wichtig.«

»Ist es auch.« Nelly nickte. »Ich will mich nicht blamieren. In Italien bestellt man auch keinen Cappuccino nach dem Essen.«

Elisa verdrehte die Augen. »Von mir aus. Du kannst unten ins Bad. Ich geh rüber in den Hafenwaschraum und übe, Kiez und Davidwache zu sagen, damit du dich nicht mit mir blamierst.«

»Vielen Dank«, sagte Nelly. »Wusstest du übrigens, dass die wenigsten Spanier Nachos essen?«

»Ja«, antwortete Elisa. »Die kommen nämlich aus Mexiko.«

»Kommen wir heute auch noch mal los?«, rief Philipp zum gefühlt hundertsten Mal. »Wieso brauchen Frauen immer so lange im Bad?«, fragte er Julius kopfschüttelnd. »Was machen die da?«

Julius wusste es: »Ihre Haare, ihre Nägel, dann wird der passende Lippenstift gesucht, der zum Kleid passt, und wenn sie sich entscheiden, das Kleid oder die Jeans oder den Pulli doch nicht anzuziehen, dann muss ein anderer Lippenstift gefunden werden. Zwischendurch telefonieren sie oder, wie in unserem Fall, reden ununterbrochen miteinander darüber, welche Schuhe jetzt wozu passen und warum, und wenn sie dann endlich fertig sind, fragen sie uns, ob wir denn heute noch mal losgehen wollen, wie spät das denn schon sei.«

»Du weißt ja gut Bescheid.«

»Denk einfach an Geli und Lena.«

»Stimmt. Du bist durch eine gute Schule gegangen.« Philipp grinste. Julius hatte Zwillingsschwestern, die zwei Jahre älter waren als er und ihm teilweise den letzten Nerv geraubt hatten.

Elisa und Nelly kamen endlich in den Salon.

»Kommen wir heute auch noch mal los?«, fragte Nelly. »Seid ihr noch nicht fertig?«

Philipp stand auf. »Also erstens warten wir seit einer Stunde, zweitens seht ihr wirklich super aus, und das meine ich ganz ernst, und drittens: Feli fehlt noch.«

Nelly und Elisa konnten sich in der Tat sehen lassen. Beide hassten es, sich übermäßig aufzubrezeln und bevorzugten als Basics eher unauffäligere Klamotten. Also Jeans, Bluse ganz dezent, dann aber mit einer großen Kette oder knalligen Ohrringen, so wie Elisa sie trug. Es waren große Kreolen mit bunten Steinen, die sie mit Nelly auf einer gemeinsamen Urlaubsreise in Nizza gekauft hatte. Nelly hatte eine grüne weite Bluse an und eine bunte Kette. Beide trugen Jeans und Stiefel, kein Make-up, nur ein wenig Gloss und Wimperntusche.

Nelly drehte sich vor Julius und Philipp. »Fällt euch nichts an mir auf?«

»Äh.« Das war eine der schwierigen Frauenfragen, das hatten die beiden schon gelernt. Darauf musste man unbedingt die richtige Antwort geben, und eine der immer richtigen Antworten war keine Antwort, sondern die Frage: »Hast du abgenommen?«

Julius fragte es.

»Bin ich etwa zu dick?«, fragte Nelly erschrocken.

»Nein, nein, so war das nicht gemeint«, sagten beide schnell. Nelly war weder zu dick noch zu dünn, sondern genau richtig. Philipp fand ganz dürre Frauen noch schrecklicher als Julius. Und beide konnten das Gerede über Gewicht nicht ertragen. Warum machten alle Menschen weiblichen Geschlechts so ein Trara darum?

»Feli!«, rief Nelly. »Wird es denn heute noch was mit dir?«

»Steht mir dieses Rot wirklich?« Elisa haderte mit der Farbe ihres Pullis.

»Ja«, sagten alle im Chor, und Elisa war zufrieden.

Und dann sagte Julius: »Oh!«, und setzte sich auf die Bank.

Elisa und Nelly drehten sich um.

Da stand eine junge Frau und sah sie vorsichtig an.

»Ich glaube«, sagte Philipp stolz, »ich habe ganze Arbeit geleistet.«

»Ist das cool hier. Und wie genial, dass der Schweigende mal mit uns gesprochen hat«, sagte Nelly und bohrte die nackten Füße in den Sand. Sie waren an der Elbe in einer sehr geilen Location: Das Strand Pauli liebten sie alle. Eine Beachbar mit chilliger Musik, kalten Getränken und leckeren Burgern. Vor einem floss die Elbe, und gegenüber waren die Beschäftigten der Werft wie immer am Ackern. Nelly hatte vorhin noch gegoogelt. Das Hamburg del Mar, von dem Jans Leute gesprochen hatten, war ein Beachclub, genau wie das Strand Pauli. Nelly war fast ein bisschen enttäuscht, dass sie nicht im del Mar waren, weil da vielleicht Jan war, aber vielleicht war es besser so. Von diesen ganzen reichen Mädels hatte sie sich verunsichern lassen.

Der Schweigende war aufgetaucht, als sie die Erste Liebe gerade verlassen hatten. »Hallo«, hatte er klar und deutlich und in normaler Lautstärke gesagt und sie damit fast zu Tode erschreckt. Alle waren erleichtert, dass es sich nur um einen kurzen Anflug von Normalität in der Ausdrucksweise gehandelt hatte, denn nun nuschelte der Schweigende kaum hörbar weiter und gab stichwortartig von sich, dass es im Schuppen hinter dem ehemaligen Hafenmeisterbüro alte Leihfahrräder geben würde, die keiner mehr bräuchte außer ihm, wenn er mal einkaufen müsste. Ansonsten stünden die rum. Eine Luftpumpe hatte er auch parat. Das alles teilte er in einem Satz mit: »Gibträderimschuppenbrauchtkeinerkönntihrhabenhieristnepumpe.« Dann hatte er ihnen alles gezeigt.

»Was ist jetzt eigentlich mit dem Schiff?« Der Satz kam halbwegs klar.

»Was soll sein?«, wollte Julius wissen.

»Wegen der Zecke.«

»Ach, die Tochter?«

»Ja, das is doch die Zecke. Ist auch nicht die Tochter, ist die Schwiegertochter, die Zecke.« Der Schweigende hatte die Zähne fest zusammengepresst und quetschte die Worte hervor. Man musste sich wirklich anstrengen. Aber mit der Zeit konnte man die Worte erraten.

»Da ist alles klar«, sagte Elisa. »Also Claas hat gesagt, das sei kein Problem, falls Sie das mit dem Boot meinen.«

»Was mein ich mit dem Boot?«

»Dass Claas da was unterschrieben hat angeblich, hat er aber nicht«, sagte Elisa.

»Aha«, hatte der Schweigende gesagt. »Dann is ja gut.«

»Ja, alles bestens.«

»Ich hab letztens mitgekricht, dass die Zecke hier war und euch beschimpft hat.« Der Schweigende war nun rot im Gesicht. Offenbar konnte er die Zecke nicht leiden.

»Hat sich alles erledigt. Also danke für die Räder und die Pumpe.«

»Ich hab hier ein Schloss. Da müsst ihr aber alle Räder zusammen anschließen. Hab nur eins.«

»Klasse. Prima, danke.«

»Nicht dass das wegkommt, dann is was los.«

»Nein, nein.«

»Denn man to«, hatte der Schweigende ihnen nachgerufen.

Dann waren sie losgefahren, an der Elbe entlang. Der Abend war lauwarm und schön, das Wetter spitze, und Hamburg zeigte sich von seiner schönsten Seite. Sie fuhren die Elbchaussee entlang und waren kurz darauf am Strand Pauli gewesen. Und nun saßen sie hier. Zur Feier des Tages hatten sie sich Longdrinks gegönnt, vielmehr hatte Nelly allen was spendiert. »Ach, hört schon auf mit dem Bezahlen«, hatte sie gesagt. »Einen Vorteil muss es ja haben, reiche Eltern zu haben. Ich bezahle genug dafür, indem ich mir ständig Mamas Generve anhören muss. Also hebt das Glas, ihr Ehrenmänner und -frauen. Ein Hoch auf uns! Wir sind schon ’ne coole Runde. Gut, dass wir uns gefunden haben. Also meiner Meinung nach.«

»Ich auch«, sagte Julius. »Wobei ich sagen muss, dass ich ein wenig mehr Lob für mein Dressing angebrachter gefunden hätte.«

»Wir haben dauernd gesagt, dass es super schmeckt«, verteidigte Elisa sie alle. »Prost!«

»Aber nicht von selbst«, fing Julius wieder an. »Ich musste erst fragen. Und auf meine Nachfrage, ob noch was fehlt, kamen nur recht genervte Antworten.«

»Julius, bitte«, sagte Philipp. »Du kannst einen echt in den Wahnsinn treiben.«

»Dir hat es ja überhaupt nicht geschmeckt.« Julius war verschnupft.

»Doch. Ich wollte dich nur ärgern.«

»Das gehört sich aber nicht.«

»Gut. Julius, es tut mir leid. Okay?«

»Heißt das, dass ich zukünftig wieder Dressings zube–«

»Jaha, das heißt es!«, riefen alle. »Können wir jetzt bitte trinken? Die Eiswürfel schmelzen schon«, sagte Feli und setzte ihr Glas an. Mit Julius war es wirklich manchmal nicht zum Aushalten.

»Jetzt lass dich aber noch mal anschauen, Feli. Ich kann’s immer noch nicht glauben.«

»Weißt du was? Ich auch nicht.« Feli stand auf und drehte sich.

»Philipp, wie bist du denn auf diese geniale Idee gekommen?«

»Weil ich gesehen habe, wie unglücklich Feli war, als die Tochter vom Chef da mit mir stand und sie gemustert hat, als sei sie ein Stück Schmutz. Davon mal ganz abgesehen, dass diese Caitriona sowieso grenzwertig ist, macht man so was einfach nicht.«

»So sah ich aber auch aus«, verteidigte Feli Caitriona, obwohl sie das gar nicht wollte. »Ich habe ja den ganzen Tag im Staub verbracht. Und habe die Jahre 1971 und 1972 händisch gelocht. Ich habe übrigens jetzt ein gutes System entwickelt.« Niemand fragte: »Oh, Wahnsinn, welches System denn?«

»Sie hat dich doof und von oben herab und arrogant angeschaut, das ist so«, regte Philipp sich auf. »Und das mag ich nicht. Na ja, und dann hatte ich eine Eingebung und bin mit Feli in die Stadt gefahren.«

»Eine Eingebung? Bist du Jesus?«, wollte Nelly wissen.

»Ja, gut dass du es endlich merkst. Erst wollte Feli nicht, aber dann!«

»Philipp ist ein Schatz«, sagte Feli glücklich. »Wenn ich nicht das Gefühl hätte, als wärst du so was wie ein Bruder für mich, könnte ich mich glatt in dich verlieben.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte Julius. »Ich könnte die Hochzeitstorte machen. Dreistöckig. Was würdet ihr von einer Basis aus Zitronen–«

»JULIUS!« Dann lachten alle und bewunderten Feli, die unglaublich toll aussah.

Sie trug eine sandfarbene hochgekrempelte Chino, eine enge hellblaue Bluse und hatte einen Pulli locker über die Schultern gelegt. Philipp hatte sie auch zur Kosmetikerin geschleppt, und nun waren Fuß- und Fingernägel in einem dunklen Beerenton lackiert, was bis eben überhaupt niemandem aufgefallen war. Feli hatte Hawaiian-Flipflops an, trug zwei große Ringe mit blauen Steinen und dazu passende Ohrringe. Der Friseur, bei dem sie dann heute noch gewesen war, hatte ihre langen roten Haare, die sie bis dahin immer nur zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, bis zu den Schultern abgeschnitten und ihr ein paar kaum sichtbare goldene Strähnchen verpasst. Ein paar Haare fielen ihr zu einem kleinen Pony. Feli hatte sich nach Anweisung der Kosmetikerin für heute Abend ein bisschen, aber sehr wirkungsvoll geschminkt. Die blauen Augen mit schimmerndem Lidschatten betont, ein bisschen Eyeliner, ein wenig Mascara, einen Gloss in einem ähnlichen dunklen Rot wie der Nagellack, und Feli sah Bombe aus.

»Mir ist noch nicht mal aufgefallen, dass deine Nägel schon lackiert waren«, musste Elisa zugeben. »So unauffällig warst du die ganze Zeit. Die kleine graue Maus ist verschwunden. Wenn dein Vater dich so sehen würde.«

»Ich habe ihm ein Selfie geschickt«, gab Feli zu. »Das zweite meines Lebens. Geantwortet hat er noch nicht, wahrscheinlich ist er der Länge nach umgefallen.«

»Hoffentlich in einen gepolsterten Sarg«, wünschte sich Julius. »Bei einfachen Stürzen kann so viel passieren. Und auch sonst. Ein Freund von mir hat sich mal beim Aufstehen den Fuß gebrochen, einfach so.«

»Diese Geschichte erzählst du mir seit fünf Jahren«, sagte Philipp. »Am Anfang war es eine Prellung des rechten kleinen Fingers.«

Julius wurde rot und wechselte schnell das Thema. »Ganz ehrlich, ich habe dich vorhin wirklich nicht wiedererkannt«, sagte er bewundernd. »Ich bin immer noch fassungslos.«

»Ich auch«, sagte Feli. »Ich fühle mich auch so komisch. Ich hatte noch nie solche Flipflops an. Ich habe es vorhin geübt, bin aber dreimal gestolpert.«

»Sag ich doch, beim Stolpern … ist ja schon gut, ich bin still.« Julius schwieg, weil Philipp ihn böse anschaute.

»Wie bitte, Feli?« Nelly und Elisa trauten ihren Ohren nicht.

»Immer nur Turnschuhe hab ich getragen«, erklärte Feli eifrig. »Und so braune Halbschuhe, die kennt ihr ja.«

»Solche trägt meine vierundachtzigjährige Uroma«, sagte Julius. »Mit so Löchern vorne drin, damit Luft an den Fuß kommt.«

»Papa hat immer gesagt, ein Fuß ist nicht dafür gemacht, gezeigt zu werden, sondern dafür, um uns durchs Leben zu tragen«, erklärte Feli und war für einen kleinen Moment wieder das altmodische Mädchen. Sie seufzte. »Manchmal war ich neidisch auf die Füße von toten Frauen.«

»Was?«, riefen alle im Chor, während einige Besucher des Strand Pauli, die neben ihnen saßen, sie merkwürdig ansahen und ein Stück von ihnen wegrutschten.

»Ja. Wenn die so gepflegte Füße hatten. Manche waren kurz vor ihrem Tod noch bei der Pediküre.«

»Extra?«, wollte Nelly fassungslos wissen.

Feli nickte. »Ja, manche machen das. Gerade ältere Frauen wollen gepflegt sterben. Manche gehen auch noch zum Friseur. Ich hatte mal eine alte Dame daliegen, die habe ich für die Angehörigen zurechtgemacht, und die hatte sich kurz vor ihrem Tod die Haare lila färben lassen, damit sie einmal was Cooles gemacht hat.«

»Mit Lila?«, fragte Julius.

»Ja, sie wollte flott aussehen. Für manche ist Lila die Krönung.«

»Für dich ja auch«, sagte Julius. »Also quasi. Dunkelrot, nicht Lila, aber trotzdem.«

Feli dachte kurz nach. »Stimmt. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich siebzehn und nicht siebenundneunzig bin, aber sonst hast du recht. Jedenfalls sind die Füße vieler toter Frauen glatt und ohne Hornhaut und sie haben schön lackierte Fußnägel. Ich finde das irgendwie rührend.«

»Die armen Frauen.« Elisa hatte Tränen in den Augen und sog an ihrem Strohhalm. »So schlimm. Sie hatten ja nichts mehr davon.«

»Ja, es ist teilweise wirklich entsetzlich.« Auch Feli war kurz vorm Heulen.

Philipp verdrehte die Augen. »Ihr fangt jetzt nicht an, wegen toter Frauen mit lackierten Fußnägeln zu weinen.«

Die Leute setzten sich noch ein Stück weiter weg.

»Schon gut.« Elisa schluckte, und Feli schnäuzte in ein Papiertaschentuch. Diesmal klang es, als habe ein Killerwal einen Asthmaanfall.

Nelly schüttelte den Kopf. »Also, Feli. Du bist wirklich eine … ach, ich weiß auch nicht, als was ich dich bezeichnen soll. Jedenfalls siehst du großartig aus. So erwachsen und einfach toll. Mir ist vorher gar nicht aufgefallen, wie hübsch du bist.«

»Das macht nur die getönte Tagescreme.« Feli war das peinlich. »Oder die Augenbrauen. Die Kosmetikerin hat sie gezupft. Das hat ganz schön geziept.«

»Feli hat geschrien, als würde sie ohne Betäubung den Kopf abgeschnitten bekommen.« Philipp freute sich, dass Felis Aussehen so gut ankam. »Ganz viele Männer haben sich nach ihr umgedreht.«

»Während sie geschrien hat?«, fragte Julius fassungslos. »Da waren Zuschauer bei der Kosmetikerin?«

»Natürlich nicht. Als wir mit allem fertig und auf dem Heimweg waren. Meine Güte, Julius. Denk doch mal mit.«

»Julius wird sich nicht mehr ändern. Dafür ist es zu spät«, war Nellys Meinung. »Das hat was mit dem Gehirn zu tun, hab ich mal in Bio mitgekriegt. Glaub ich jedenfalls. Ab einem gewissen Alter ändert der Mensch sich nicht mehr.«

»Ich finde nicht, dass ich mich ändern müsste«, sagte Julius böse. »Nur weil ich Dinge hinterfrage und …«

»Ist ja gut. Kinder, lasst uns jetzt mal dieses Wochenende feiern. Auf uns, das schöne Leben und auf dass wir gemeinsam eine tolle Zeit auf der Ersten Liebe haben werden!«

»Jawohl!«, riefen sie.

»Sag mal, Feli.« Nelly stand kurz darauf mit Feli am Tresen und wartete auf einen neuen Schwung Getränke. »Die Klamotten, der Friseur und die Kosmetikerin, das war doch bestimmt total teuer, oder?«

»Ja«, sagte Feli. »Ich hätte es mir nicht leisten können. Papa hält mich ziemlich knapp.« Sie drehte sich zu Nelly um. »Philipp hat es bezahlt.« Sie wurde rot. »Aber ich gebe es ihm wieder. Nach und nach.«

»Philipp hat das bezahlt? Aber warum denn?«

»Ich weiß es nicht. Er sagte, das Geld von seinem Sparbuch sei gut angelegt. Im Grunde glaube ich aber, er hat es wegen dieser Cainochwas gemacht.«

»Aha.«

»Ja, es war so, als wolle er ihr was beweisen. Er wirkte richtig sauer, weil die so arrogant geguckt hat. Kommen wir heute vielleicht auch mal dran? Das dauert ja ewig.«

»Ej, mach kein Auge«, sagte die Bedienung, die ihre Worte gehört hatte.

»’tschuldigung.« Sofort verfiel Feli wieder in ihre alte Rolle. »Ich wollte nicht aufdringlich sein.« Lahm wie eine Schnecke mixte die Bedienung die Drinks.

»Mein Gott, nenn mich eine Spießerin, aber ich hasse diese Ausdrücke«, sagte Nelly.

»Ich schwöööre, ich auch«, antwortete Feli und sagte dann »Yalla yalla« zur Bedienung, die daraufhin noch langsamer agierte, obwohl das eigentlich gar nicht mehr möglich war.

»Ich glaube, bald ist Weihnachten«, sagte Nelly dann, aber die junge Frau verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Nach einer gefühlten Ewigkeit gingen sie mit den Getränken zu den anderen zurück.

»Na klasse«, sagte Feli und nickte zu der jungen Frau, die sich neben Philipp gesetzt hat. »Das ist diese Caitriona.«

»Ach.« Nelly taxierte Caitriona, die so aussah, als hätte sie Tage für ihr Styling gebraucht, damit alles gewollt undone wirkte. Ihre Ballerinas hatte sie ausgezogen und die nackten Füße in den Sand gesteckt. Sie trug ein lässiges dunkelgrünes T-Shirt-Kleid und jede Menge Goldketten und klimpernde Armreifen. Ihre Louis-Vuitton-Tasche hatte sie so hingestellt, dass auch bloß jeder sie sehen konnte.

Philipp schien irgendwas irre Lustiges gesagt zu haben, denn nun lachte sie perlend, zeigte ihre weißen, geraden Zähne und legte eine Hand auf Philipps Arm, dann beugte sie sich nach vorn und flüsterte ihm was ins Ohr. Philipp lächelte höflich, dann sah er Feli und Nelly kommen, stand auf und nahm ihnen die Getränke ab. Caitriona blieb sitzen.

»Hi.« Nelly nickte ihr zu.

Caitriona lächelte huldvoll und setzte dann ihre Sonnenbrille auf, um Nelly zu ignorieren.

Feli schien sie nicht zu erkennen. Sie wurde ebenfalls ignoriert.

»Was ist nun?« Sie zog einen Schmollmund. »Komm doch mit zu meinen Leuten. Wir haben richtig Spaß. Das ist nicht so ein lahmer Haufen wie hier, wo ihr nur rumsitzt.«

»Erstens mal sitzen alle hier rum, und zweitens habe ich dir schon im Krankenhaus gesagt, wie mein Wochenende abläuft.« Philipp lächelte Caitriona an und die lächelte jetzt nicht mehr.

»Du bist echt spießig«, sagte sie. »Und außerdem verpasst du was. In meine Clique wollen sie alle. Aber wir lassen echt nicht jeden rein.« Sie kramte in ihrer Tasche herum und zog ihr Gucci-Portemonnaie heraus, um dann Julius, der neben Philipp saß, einen Hundert-Euro-Schein hinzuhalten. »Hol uns mal Getränke. Ich will ’nen Caipi.«

Bevor Julius wie bedröppelt automatisch das Geld entgegennehmen konnte, mischte Feli sich ein. »Von uns ist hier keiner angestellt. Hol dir deine Getränke doch selbst.«

Caitriona schob ihre Sonnenbrille ins Haar. »Dich hab ich bestimmt nicht gefragt, also misch dich da nicht ein.«

»Ich misch mich aber ein.« Felis Stimme war fest und klar. »Lass das also bitte sein.«

»Also, ist ja kein Problem, ich …«, fing Julius an, aber Feli feuerte aus ihren Augen ein paar Blitze auf ihn ab, daher kniff er die Lippen zusammen und starrte in den Sand.

Nelly und Elisa glotzten Feli ungläubig an. Wie konnte man sich bitte innerhalb von vierundzwanzig Stunden sooo verändern? Feli wirkte stark und selbstsicher, sie sprach nicht mit ihrer »Papa wird böse sein«-Stimme, sondern fest und klar und deutlich, sie strahlte aus, dass man mit ihr, Felicitas!, so nicht sprach.

Caitriona sah Feli nun spöttisch an und stand auf. »Ich streit mich doch nicht mit einer wie dir«, sagte sie abfällig, nahm ihren Drink, strich Philipp im Vorbeigehen noch über den Arm und ging. Feli ballte die Hände zu Fäusten und war kurz davor, hinter ihr herzugehen und sie in den Sand zu stoßen, aber da stand Philipp vor ihr und hielt sie fest.

»Du machst dich hier nicht zum Idioten«, sagte er leise. »Die ist es doch gar nicht wert. Hör auf. Ich will das nicht.« Liebevoll und gleichzeitig ernst schaute er Feli an.

Die entballte ihre Hände.

»Jetzt zählen wir mal bis zehn, und dann ist alles vergessen«, sagte Philipp. »Eins, zwei …«