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»EC-Karte nehmen wir nicht, wir sind eine Baaaaaaaarkasse!«, brüllte der Mann mit der Kapitänsmütze ins Mikrofon, und alle Anwesenden der Hafenrundfahrt schmunzelten. Aha, den Spruch hatte man wohl von Claas übernommen.

»Danke, Philipp.« Feli lehnte sich zurück. »Ich hätte ihr sonst die Augen ausgekratzt. So eine arrogante Kuh.«

Philipp hatte alle zusammengetrommelt und beschlossen, erst mal runterzukommen und eine Hafenrundfahrt zu machen. Sie hatten die letzte Barkasse für diesen Tag erwischt und schipperten nun auf der Elbe entlang. Drei Japaner schrien bei jeder kleinen Welle und fotografierten ansonsten den Boden der Barkasse, die Bänke der Barkasse, den Mann mit der Kapitänsmütze und das trübe Wasser der Elbe, anstatt sich mal darauf zu konzentrieren, was sie mit den Augen vor sich sahen.

Julius saß da und hielt sich krampfhaft an der Bank fest. »Gleich fängt es an zu regnen«, sagte er dauernd. »Dann werden wir klatschnass, hier ist ja nichts überdacht.«

»Du redest wie deine eigene Großmutter«, sagte Elisa. »Schau doch mal, die Werft. Und da liegt ein riesengroßes Motorboot. Was macht man eigentlich mit einem achtzig Meter langen Motorboot?«

»Herumfahren«, erklärte Nelly. »Was denn sonst?«

»Es ist aber doch so groß«, sagte Elisa.

»Findet ihr eigentlich, dass diese Caitriona gut aussieht?«, wollte Nelly dann plötzlich wissen.

»Schon, aber das ist ja nicht alles.« Philipp schüttelte den Kopf. »Was nützt das denn, wenn man ansonsten dumm ist wie ein Strumpf oder einen schlechten Charakter hat?«

»Nichts«, sagte Julius. »Ich finde ja, ich sehe gut aus und habe einen guten Charakter. Und ich bin teamfähig, das hat der Küchenchef heute wieder zu mir gesagt. Lediglich das Wetter macht mir Sorge. Schaut doch mal, dieser giftige Himmel.«

»Ich kenne niemanden sonst, der ›giftiger Himmel‹ sagen würde.« Nelly lachte. »Du bist echt witzig, Julius. Und ja, dein Dressing war super und niemand sonst wird während unserer gemeinsamen Zeit auf der Ersten Liebe Salatdressing machen, niemand.«

»Endlich mal jemand, der mich versteht. Ich glaube fast, der Wellengang ist stärker geworden«, sagte Julius verzweifelt. »Nicht dass wir kentern.«

»Merken Sie’s, meine Damen und Herren, da schlägt das Wetter um und es fängt gleich an zu schaukeln. Wenn Sie Ihre Frau loswerden wollen, müssen Sie sie jetzt loslassen, hahaha. Meine Frau weiß schon, warum sie nicht mitkommt auf ’ne Rundfahrt, hahaha!«, machte der Kapitänsmützenmann. »Wir haben ja auch nur Rettungswesten für die Männer an Bord. Hahaha!«

Die Japaner schrien nun im Sekundentakt.

»Vielleicht können wir umkehren.« Julius deutete auf den schwarz werdenden Himmel.

»Nix da, Sie haben doch bezahlt. Und Regen ham wir hier erst, wenn die Fische auf Augenhöhe vorbeischwimmen, hahaha! In einer Stunde sind Sie erlöst, so lange müssen Sie mich noch ertragen, hahaha!«

»Kann dem mal jemand sagen, dass er still sein soll, das ist ja furchtbar«, sagte Julius.

»Stell dich nicht so an.« Feli war immer noch auf Zinne. »Da sagt die zu mir, ich soll mich nicht einmischen. Sonst ist wohl alles in Ordnung, ja? Also wirklich! Die ist mir sooo unsympathisch.«

»Mir auch«, sagte Philipp.

»Manchmal habe ich auch unsympathische Tote vor mir liegen und muss die dann waschen«, sagte Feli, und nun schauten alle Fahrgäste zu ihr, und auch der Kapitänsmützenmann schwieg. »Und schminken. Ich kann das dann unglaublich schwer, weil ich einfach spüre, dass es keine guten Menschen waren. Warum schaust du mich eigentlich dauernd so komisch an?«, fragte sie dann einen jungen Mann in ihrem Alter, der sich vorsorglich einen Schal um den Kopf und Teile des Gesichts gelegt hatte, um sich vor dem nahenden Regen zu schützen. Vielleicht war es aber auch ein gesuchter Serienkiller, der eine Auszeit brauchte.

»Äh, ’tschuldigung, du kamst mir nur bekannt vor, aber du bist es nicht, ich hab dich verwechselt«, nuschelte der junge Mann und sah auf den Boden. Nun fing es an zu regnen.

»Ich hab es doch gesagt«, klagte Julius. »Natürlich hat keiner einen Schirm dabei.«

Die Barkasse fing an zu schaukeln, weil von irgendwoher plötzlich Wind kam, gefühlt aus allen Richtungen. Ein großes Containerschiff fuhr langsam vorbei und tutete.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell.

»In Bremen haben wir auch oft schlechtes Wetter, da gewöhnt man sich dran«, sagte Feli, während der junge Mann sie weiter anschaute.

»Ich fass es nicht«, sagte er dann.

»Was denn?«

»Du bist es wirklich«, sagte der junge Mann und zog seinen Schal vom Kopf.

Feli wurde unter ihrer getönten Tagescreme ganz blass. Sie stand auf. Die Barkasse wackelte immer mehr. Nun fing es an zu schütten, und der Wind knallte mit voller Wucht auf die Barkasse.

»Mist!«, rief der Kapitänsmützenmann. »Gert, mal mehr backbord. Die Leute werden uns ja vom Kahn gepustet.«

»Ich verstehe gar nichts«, sagte Julius. »Ich verstehe nur, dass ich in mein warmes Bett möchte. Vorhin war das Wetter doch noch wunderbar.«

»So ist das in Hamburg«, sagte Philipp.

»Als ob du das wüsstest.« Julius fror.

»Ich glaub es nicht«, sagte Feli, und nun stand auch der junge Mann auf.

Dann sagte er »Der Zombie lebt ja doch noch«, und dann stürzte Feli sich auf ihn, und gemeinsam fielen sie zu Boden, standen wieder auf und Feli schrie: »Das sagst du nicht noch mal zu mir!« Und dann packte sie ihn mit aller Kraft, und er hielt sich an ihr fest, ein neuer Windstoß kam, der Boden der Barkasse war vom Regen rutschig, und dann passierte, was passieren musste: Während die Japaner eifrig das Geschehen fotografierten, hielten sich Feli und der junge Mann aneinander fest, verloren das Gleichgewicht auf dem schaukelnden Schiff und stürzten gemeinsam in die Elbe.

»Um Himmels willen, so tut doch was!«, brüllte Julius. Ein Rettungsring wurde geworfen, alle riefen durcheinander, und in der Elbe tobte ein Kampf. Man könnte meinen, dass die beiden von hungrigen Piranhas drangsaliert würden, das Wasser schien zu kochen. Feli und der junge Mann kämpften miteinander, als gäbe es kein Morgen mehr. Auf der Barkasse brach ein Tumult los.

»So helft doch, so helft doch!«, schrien alle, während die Japaner Selfies von sich und den beiden Gekenterten machten.

Der Wind war mittlerweile zu einem Sturm geworden, und der Regen schoss nun fast waagerecht heran.

»Ich bring dich um!«, brüllte Feli im Wasser.

»AH! AH!« Der junge Mann versuchte wegzuschwimmen, wurde aber von Feli daran gehindert.

»Vielleicht sollten wir eine Tür ins Wasser werfen. Als die Titanic untergegangen ist, hat das bei Jack und Rose doch auch funktioniert«, sagte Elisa verzweifelt.

»Nur Rose passte auf die Tür«, korrigierte Nelly sie.

»Ich kapiere gar nichts«, rief Philipp. »Wer ist das?«

»Das kann ich euch sagen«, sagte Nelly, während sie vom Wind fast weggeweht wurde.

»Der da im Wasser, das ist Marko!«

Zwei Stunden später

»Das war nicht ich«, sagte Feli. »Eine innere Macht hat von mir Besitz ergriffen. Ich konnte nichts dafür. Plötzlich kamen die ganzen Beleidigungen wieder hoch.«

»Ich wusste, dass er es ist, als er gesagt hat, dass der Zombie lebt. Dass du ihn nicht erkannt hast …«

»Na ja, Bankräuber mit Skimasken erkennt man ja auch nicht«, verteidigte Philipp Feli.

»Ich habe ihn ja dann erkannt.« Feli nahm einen Schluck Tee. Sie waren zu Hause auf der Ersten Liebe und hatten sich erst mal umgezogen. Alle waren klatschnass bis auf die Knochen, und Feli hatte ihre neuen Flipflops verloren, was für sie fast am schlimmsten von allem war. »Das waren die ersten Flipflops meines Lebens, und dann auch noch mit Blumenmuster.«

»Wie kommt denn dieser Marko nach Hamburg?«, fragte Philipp.

»Von Bremen ist das nicht so weit. Möglicherweise mit dem Zug«, versuchte Julius zu erklären. »Oder mit einer Mitfahrgelegenheit.«

Philipp war genervt. »Ich weiß, wie man nach Hamburg kommt«, sagte er. »Darum geht es doch nicht.«

»Worum geht es denn dann?«, fragte Julius.

»Egal«, sagte Philipp. »Du machst mich wahnsinnig.«

»Danke.«

»Gern.«

»Ich dachte immer, ich hätte mich ganz gut unter Kontrolle. Aber seitdem ich mit Philipp einkaufen und beim Friseur war, habe ich das Gefühl, ein anderer Mensch bricht aus mir heraus.« Feli starrte ins Licht der Petroleumlampe. Es war gemütlich unter Deck, und so langsam wurde es allen wieder warm.

Es war tatsächlich Marko gewesen, mit dem Feli über Bord gegangen war.

»Du bist ja auch ein anderer Mensch. Also eigentlich natürlich nicht, aber uneigentlich.« Elisa wusste nicht, wie sie es erklären sollte. »Die Veränderung ist schuld. Du bist selbstbewusster geworden. Mit einem karierten Rock und Pferdeschwanz hättest du Marko nicht über Bord geworfen.«

Feli schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Aber nun habe ich es getan. Und das Schlimme: Ich finde es richtig. Am liebsten hätte ich … Wer kann denn das sein?« Von draußen klopfte jemand an die Reling.

Philipp stand auf und schaute aus einer der Luken. »Jemand, den ich nicht kenne.« Er kletterte nach oben und kam eine Minute später mit einem jungen Mann zurück.

Nelly wurde knallrot und stand auf. »Jan!«

Jan stand da. »Äh, hi.«

»Woher weißt du denn, wo ich wohne?«

»Ich bin euch nachgefahren.«

»Wie jetzt?«

»Also ich hab dich im Strand Pauli gesehen, weil ich da auch war und auf einen Freund gewartet habe, und dann seid ihr gegangen. Danach hab ich am Hafen gewartet, bis ihr von der Rundfahrt zurückgekommen seid.«

»Warum denn?«, fragte Nelly.

»Äh … ich wollte dich fragen, ob wir was trinken wollen, aber dann wart ihr alle ganz durchnässt, und dann diese Prügelei.«

Das Handgemenge war weitergegangen, nachdem man Feli und Marko aus der Elbe gezogen hatte. Noch an den Landungsbrücken waren die beiden aufeinander losgegangen, bis sie Feli endlich in die Mitte genommen und auf ein Fahrrad gesetzt hatten. Bis kurz vor der Ankunft bei der Ersten Liebe war sie außer sich gewesen vor Zorn darüber, dass Marko aufgetaucht und sie wie früher Zombie genannt hatte.

»Ich dachte, ich wäre drüber weg«, hatte Feli die ganze Fahrt über gesagt. Zusätzlich war sie wütend über die verloren gegangenen Flipflops, weil es ja die »ersten in meinem Leben« gewesen waren und »so was hebt man auf«.

Nun stand Jan da und lächelte Nelly an.

»Was denn trinken?«, fragte Nelly.

»Nelly.« Elisa stand nun auch auf. »Jan meint sicher einen Caipi oder Aperol Spritz oder eine Apfelschorle. Vielleicht solltest du ihm einfach mal was anbieten.«

»Was denn?« Nelly starrte Jan an.

»Was möchtest du denn trinken?«, fragte Elisa nun Jan.

»Weiß nicht.« Jan starrte Nelly an.

»Hallo. Erde an euch beide.« Julius stand auf und winkte mit beiden Händen vor Nellys und Jans Gesichtern herum.

»Was trinkst du am liebsten?«, fragte Jan.

»Kakao«, sagte Nelly apathisch.

»Oh, ich auch.« Jan kam näher.

»Vielleicht ist das ein Zeichen.«

»Was?« Jan starrte weiter.

»Dass wir beide Kakao am liebsten trinken.« Nelly war so ergriffen von der Möglichkeit, dass das ein Zeichen war, dass sie sich an der Salontischkante festhalten musste.

Sie sahen sich an. Dann sagte Jan: »Das Wichtigste muss ich dich jetzt fragen.«

»Was ist denn hier los?«, fragte Feli verwirrt.

»Ruhe«, sagte Elisa wie verzaubert.

»Was musst du mich denn fragen?«, wollte Nelly wissen.

»Mit oder ohne Sahne?«

»Mit.«

»Frische oder haltbare Sahne?«

»Frische.«

»Ganz steif geschlagen oder nur halb?«

»Ganz.«

»Oh mein Gott«, sagten dann beide synchron.

Schade, dachte Elisa, dass hier niemand Violine spielt. Das wäre jetzt der Einsatz gewesen.

Einen Moment lang schwiegen die beiden sich an, dann beugte Jan sich nach vorn und strich Nelly liebevoll über die Wange, und die schloss die Augen und ging einen Schritt auf ihn zu. Jan umarmte sie fest.

»Das ist alles so unwirklich«, sagte Philipp leise. Niemand von ihnen hatte so was schon mal erlebt.

»Guten Abend«, sagte da eine weitere Person.