»Ich sag es ungern, aber ich muss es sagen, Claas: Dein Sohn und die Zecke sind böse Menschen, und böse Menschen kriegen irgendwann ihre Strafe«, sagte Philipp. »Ich weiß nicht, wann und wie, aber ich weiß es.«
»Ich kenn den Boxer-Fiete vom Kiez«, mischte der Schweigende sich ein. »Der boxt so lange, bis er kriegt, was er will. Soll ich den mal eben anrufen? Er bricht auch Knochen.«
»Hör auf mit so einem Unfug«, regte Philipp sich auf. »Hier wird kein Auftragskiller angerufen. Das fehlt noch.«
»Da weißt du ja mehr als ich«, sagte der Schweigende. »Boxer-Fiete boxt meines Wissens nur. Er mordet nicht. Noch nicht.«
»Wir haben vier Wochen«, sagte Julius. »Dann müssen wir ausziehen. Oder wir gehen zum Anwalt.«
»Das ist doch Quatsch. Der Vertrag ist rechtskräftig. Claas hat im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte die Erste Liebe seinem Sohn geschenkt. Was der damit macht, ist egal, denn in dem Vertrag steht nun mal nicht drin, dass er darin Wohnrecht auf Lebenszeit hat oder das Schiff an Dritte vermieten kann. Da steht nur, dass das Schiff, falls jemand drauf wohnen sollte, innerhalb von vier Wochen geräumt und übergeben wird.«
Nelly hatte den Vertrag gelesen und ein wenig mit dem Handy herumgegoogelt. Die Rechtslage war eindeutig. »Wir können natürlich versuchen, Claas für unzurechnungsfähig zu erklären und zu entmündigen, und behaupten, er hätte in einem desolaten Zustand unterschrieben, aber das ist wohl auch keine Option. So wie ich die Schwiegertochter einschätze, bringt sie Claas noch in die Psychiatrie, bloß um an Geld zu kommen.«
»Da hat sie recht«, sagte Claas traurig. »Ich bin ratlos. Dann ist das jetzt eben so. Unser Mietvertrag ist hinfällig. Ich habe ein Schiff vermietet, das mir gar nicht mehr gehört.« Schlaff saß er da.
Sie waren fertig und wütend. Wie hatte das passieren können? Ausgerechnet der liebe Claas bekam nun sein Schiff weggenommen. Sie dachten nach und dachten nach.
»Wir können die Erste Liebe immer noch entführen«, meinte Philipp.
»Das ist eine Straftat.« Nelly schüttelte den Kopf und ging zur Abwechslung mal an ihr Smartphone. Ihre Mutter hatte schon siebenundzwanzig Mal angerufen. »Ja, Mama?« Man hörte Henrietta kreischen, und dann wurde Nelly blass und sagte: »Das glaube ich nicht.«
Henrietta blökte weiter, und dann hörte es sich so an, als würde eine Sirene eingeschaltet.
»Sie heult«, erklärte Elisa den anderen. »Das hört sich immer so an.«
»Wie hält man so was denn bitte aus?« Der Schweigende war bestürzt. »Das ist ja furchtbar. Was hat sie denn? Hat man ihr bei vollem Bewusstsein ein Bein amputiert?«
»Wahrscheinlich war ein Friseurbesuch nicht nach ihrem Geschmack oder Nagellack ist abgesplittert. Man weiß nie«, sagte Elisa aus kluger Erfahrung. »Manchmal heult sie auch, weil die Putzfrau in den Urlaub will.«
Henriettas Gejaule hörte sich mittlerweile so an, als würde ein Kojote an seinen eigenen Stimmbändern hängen. Es drang durch Mark und Bein. Aber Nelly schien das gewöhnt zu sein. Jedenfalls hielt sie das Handy immer noch dicht am Ohr.
»Oh Mama, oh Mama, ja, ich, ja, ich, ja … verstehe. Äh, ich weiß nicht, ob das die Lösung ist, warte doch mal. Willst du nicht erst noch mal mit ihm … Mama … Mama?«
Henrietta hatte aufgelegt. Entsetzt schauten alle Nelly an.
»Was ist denn nur los?« Philipp stellte letztendlich die Frage.
Nelly war ein bisschen blass um die Nase und sah zu Elisa. »Papa hat Mama verlassen.«
Elisa zog die Augenbrauen hoch. »Nur«, sagte sie bloß.
»Was meinst du denn mit ›nur‹?«
»Ich wundere mich nicht so wirklich«, sagte Elisa ruhig. »Es war sowieso nur eine Frage der Zeit, bis dein Vater den Zirkus nicht mehr mitmacht.«
»Ach.« Nelly fühlte sich warum auch immer in die Ecke gedrängt. »Das sagst du mir jetzt erst? Hättest du das nicht mal früher sagen können?«
»Oh, so bitte nicht, Nelly.« Elisa wurde sauer. »Ich habe hundertmal davon angefangen, und du hast immer gesagt, ich würde übertreiben und alles sei gar nicht so, wie es aussieht. Dabei hat es doch jeder geahnt. Nur ich hab es auch mal ausgesprochen.«
»Was?«
»Dass deine Mutter sich unmöglich deinem Vater gegenüber verhält. Sie ist nie zufrieden und will immer noch mehr. Drei Wochen Karibik, lächerlich, nee, es muss ein vierwöchiges Inselhopping in der Südsee sein. Eine Uhr von Cartier, nee, es muss eine von was weiß ich einer Marke sein. Das Haus ist zu klein, der Porsche ruckelt, der Range Rover ist zu hoch, der Pool zu schmal, zu breit, zu groß, zu flach, zu tief.«
»Du spinnst ja«, sagte Nelly. »Ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, aber seit Kurzem bist du … echt scheißätzend.«
»Das ist möglich«, sagte Elisa. »Vielleicht hat mein neues Umfeld damit zu tun.«
»Heißt das, wir sind scheißätzend?«, fragte Julius erschüttert, und Leon legte ihm kopfschüttelnd und brüderlich die Hand auf die Schulter.
»Natürlich nicht«, sagte Feli. »Ich weiß genau, was du meinst, Elisa. Bei mir ist es ja ähnlich. Und ihr meckert auch an mir rum. Dabei bin ich durch euch ja in der kurzen Zeit erst so geworden. Selbstbewusst, froh, und ich sage meine Meinung.«
»Und du hast Marko gezeigt, dass er dich nicht mehr Zombie nennen darf«, vervollständigte Julius. »Das war richtig cool. Eigentlich hätten wir das filmen und bei Insta reinstellen sollen.«
»Man muss nicht alles bei Insta reinstellen«, sagte Philipp genervt. »Ich finde das dämlich, diese ganzen Leute, die ihr Essen und anderen Mist fotografieren.«
»Es ist ja schön, dass du das findest, Philipp.« Nun war Nelly zur Abwechslung mal die arrogante, reiche Tochter und redete hochnäsig. »Es interessiert mich aber nicht.«
»Okay, dann nicht.« Philipp hatte keine Lust auf eine sinnlose Auseinandersetzung. »Wir haben sowieso Wichtigeres zu besprechen. Was sollen wir jetzt nur tun?«
»Wir müssen in vier Wochen hier ausziehen«, klagte Julius. »Und dann? Was wird aus der Ersten Liebe, was wird aus dir, Claas? Was wird überhaupt aus uns?«
Claas’ Lippen zitterten, und dann fing er lautlos an zu weinen. Alle schauten ihn an. Henrietta war erst mal vergessen. Es zerbrach ihnen fast das Herz, Claas so zu sehen.
»Bitte überlegen Sie es sich doch noch mal«, flehte Philipp, der sein bestes Hemd angezogen hatte. »Sie können doch Ihrem armen Vater nicht das Liebste wegnehmen, was er hat.«
»Claas is ’n alter Mann«, sagte die Zecke. »Was will der denn noch mit dem Schiff? Alleine rausfahr’n kann er doch sowieso nicht mehr. Das ist doch viel zu groß, das Schiff. Und wenn da so Kroppzeuch wie ihr wohnt, da ist das Schiff doch ganz schnell gar nix mehr wert. Man kennt doch die jungen Leute. Nur Feierei im Kopp. Nix da. NIX! Schluss und aus. Hansjörg, sach auch mal was.«
Hansjörg nickte. »Punkt.«
»Außerdem ist Vaddern doch gut versorgt bei Grusche. Da kriegt er doch alles, wird bekocht, kann spaziern geh’n, und die Grusche kümmert sich. Soll er doch zufrieden sein. Besitz belastet ab ’nem gewissen Alter, sach ich immer«, erklärte die Zecke wichtig.
»Die Erste Liebe belastet Ihren Vater nicht. Er liebt sie. Er wollte, dass nette Leute drauf wohnen, wenn er selbst woanders wohnt, und wir sind nicht wie die anderen jungen Leute«, sagte Julius.
»Wir haben sogar einen Putzplan«, erklärte Feli und zog ihn hervor, aber das interessierte die blöde Zecke nicht.
»Es ist beschlossene Sache, das Schiff wird verkauft, und in einem Monat seid ihr wech. Und nu ham wir keine Zeit mehr.«
»Aber …«, fing Elisa an, doch die Zecke hob die Hand.
»Nix aber, Schluss. Hansjörg, sach auch ma was.«
»Punkt«, sagte Hansjörg folgsam.
Sie saßen an Deck, und zwei Petroleumlampen brannten, die schummriges Licht verteilten. Julius und Philipp waren noch mal los und hatten Bier gekauft, und nun schwiegen sie hier zusammen. Nur das Abstellen der Bierflaschen auf dem Holztisch war zu hören. Claas war irgendwann zu Grusche ins Kapitänshaus abgedackelt. Er tat ihnen so leid, dass sie es nicht in Worte beschreiben konnten. Nun starrten sie in die Lampen und überlegten, kamen aber auf keinen grünen Zweig.
»Selbst wenn wir zur Zecke gehen und sagen würden, dass wir das Boot wollen, uns würde sie es nicht geben«, sagte Elisa.
»Woher willst du das wissen?« Feli war sich da nicht so sicher. »Es geht ihr doch nur um viel Geld.«
»Ja. Das stimmt. Aber können wir so viel Geld aufbringen? Philipp, was meinst du, was ist ein realistischer Kaufpreis?«
»Muss ich nachgucken. Das Schiff ist gut in Schuss und wurde immer pfleglich behandelt. Andererseits sind die alten Pötte eher Liebhaberstücke und es gibt viele davon. Ich schaue nachher gleich mal.«
»Okay, das ist ein Plan.« Elisa dachte über weitere Möglichkeiten nach, aber ihr fielen keine ein. Wer konnte denn so was auch ahnen? Sie hatten doch einfach nur hier wohnen wollen.
Der Schweigende kam über den Steg gelaufen. »Hallo.« Nun war er wieder wortkarg. Er sah bedrückt aus. »Wie geht’s denn so?«
»Wie soll es uns denn gehen? Das ist alles eine Katastrophe«, stellte Philipp ganz richtig fest.
»Das hat Claas nich verdient. Was unterschreibt er so was auch?«
»Hallo, die haben ihn doch betrunken gemacht!«, konterte Julius. »Sonst hätte er das nie getan, da bin ich sicher.«
»Trotzdem. Er hätte doch was sagen können.« Der Schweigende schwieg und starrte ins Wasser. »Und jetzt das.«
»Nelly, sag mal, kannst du nicht deinen Vater fragen, ob er uns das Geld gibt?«, fragte Elisa. »Wir können den Betrag doch unter uns aufteilen und es ihm zurückzahlen.«
Nelly wirkte abwesend. »Mhm. Ich kann fragen. Aber keine Ahnung, ob er jetzt für so was Zeit hat. Ich muss ihn sowieso nachher mal anrufen.«
»Aber fragen kannst du doch«, bohrte Elisa weiter. Nellys Vater hatte schon so oft gesagt, dass er sich von Henrietta trennen würde, dass sie fast erleichtert war.
»Ich hab gesagt, ich frage!«
»Wann denn?« Elisa ließ nicht locker.
»Wenn ich will.« Nelly war bockig.
»Dann ist es vielleicht zu spät!«
»Mann!« Nelly, die auf dem Boden gesessen hatte, stand auf. »Kannst du mich vielleicht auch mal in Ruhe lassen! Einfach in Ruhe lassen!« Sie lief Richtung Niedergang und war eine Sekunde später verschwunden.
»Was hat sie denn nur?« Julius war ganz besorgt. »Irgendwie ist sie anders, seitdem sie mit diesem Jan zusammen war über Nacht. Hat der sie schlecht behandelt oder was?«
»Ich weiß es doch auch nicht.« Elisa überlegte, ob sie der Freundin nachgehen sollte, entschied sich aber dagegen. Wenn Nelly bockig war, konnte man auf sie einreden, wie man wollte, es nützte nichts.
»Lasst sie doch mal in Ruhe«, sagte Philipp. »Immerhin haben sich ihre Eltern getrennt, da kann man schon mal schlechte Laune haben.«
Das stimmte. Sie ließen Nelly unten allein.
Da meldete Elisas Smartphone, das in ihrer Badetasche lag, eine neue WhatsApp.
Sie griff in die Tasche und holte es raus. Auf dem Display stand etwas, womit sie nichts anfangen konnte. Dann sah sie anhand des Hintergrundbilds, dass das gar nicht ihres, sondern Nellys Smartphone war. Ohne nachzudenken strich sie über das Glas und gab den Entsperrungscode ein, den Nelly ihr mal gegeben hatte. Dann las sie den ganzen Nachrichtenverlauf.
Dann stand sie auf und ging ohne ein Wort zu Nelly runter.
»Schsch«, machte Elisa zum fünfzigsten Mal. »Alles wird gut. Bald klärt sich alles.« Sie lagen in ihrer Koje nebeneinander im Bett.
»Bald, bald«, heulte Nelly. »Bald ist alles zu spät. Wenn ich ihm bis morgen Abend um zweiundzwanzig Uhr nicht geantwortet hab, dann stellt er das alles ins Netz. Du hast es doch gelesen.«
So ein Mistkerl, dieser Jan. Elisa war aufgebracht. Wie konnte er es wagen, Nelly betrunken zu machen, auszuziehen und im Schlaf zu fotografieren! Das war das Allerletzte. Und sie dann noch damit erpressen wollen, nach dem Motto, entweder du schläfst mit mir oder jeder im Netz kann dich nackt sehen.
»Ich wollte nicht gleich mit ihm ins Bett«, hatte Nelly geheult. »Dann kam er mit Whisky oder so an, und du weißt doch ganz genau, wie wenig ich vertrage …«
»Wir gehen zur Polizei. Gleich morgen früh«, sagte Elisa.
»Nein, wer weiß, was der dann macht«, weinte Nelly. »Ach, Elisa, wie konnte er nur so was tun. Du hast ihn doch gesehen, sah er nicht sooo lieb aus?«
Das musste Elisa zugeben. Aber wie sagte ihre Oma immer: Du kannst niemandem hinter die Stirn gucken. Und da hatte die Oma nun mal recht.
»Versuch jetzt mal zu schlafen, Nellyschatz«, sagte Elisa und zog die Bettdecke hoch bis an Nellys Kinn.
»Ich kann nie wieder schlafen«, klagte Nelly.
»Doch, kannst du. Sei jetzt einfach mal ruhig und entspann dich. Schsch«, machte Elisa, und tatsächlich wurden Nellys Atemzüge gleichmäßiger und tiefer. Das hatte Elisa sich gedacht. Nelly konnte nämlich überall und immer einschlafen.
Vorsichtig löste sie ihre Arme von der Freundin und ging hoch zu den anderen.
Dieser Jan! Der konnte was erleben!
Sie setzte sich hin und erzählte.
Die anderen waren fassungslos und rückten eng zusammen. Sie diskutierten, beratschlagten und hatten letztendlich einen Plan ausgeheckt. Jetzt mussten sie nur noch den Schweigenden einweihen und auf ihre Seite bringen. Denn der musste ihnen einen Kontakt herstellen.
In dieser Nacht schliefen alle schlecht. Julius und Elisa hatten Albträume, Nelly heulte im Schlaf, Feli wachte auf, weil die Erste Liebe knarzte wie noch nie zuvor, und Philipp hatte das Gefühl, dass das Schiff an den Leinen zerren würde, obwohl überhaupt kein Wind ging.
Es war eine merkwürdige Nacht, und alle waren froh, als es endlich Morgen war. Es war, als hätte das Schiff versucht, sich gegen seine Zukunft zu wehren.