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Sonntag

»Oha.« Der Schweigende war heute eher schweigsam und trank bedächtig seinen Kaffee. Seine zerbeulte Emailletasse hatte er mitgebracht. »Hm, hm. Jo. Hm.« Er überlegte. »Jo. Aber das müssen wir machen, wenn …« Er senkte die Stimme und man beugte sich am Frühstückstisch gemeinsam nach vorn, damit man alles verstand.

»Prima«, sagte Julius, und Philipp klopfte dem Schweigenden auf die Schulter. »Du bist ein guter Kumpel … äh, sag mal, wie heißt du eigentlich?«

»Ach, das tut nichts zur Sache. Ist kompliziert.«

»Ja, das hat Claas ganz am Anfang auch schon gesagt. Aber wie kann denn ein Name kompliziert sein?«, fragte Elisa, die dauernd Richtung Niedergang schielte. Aber keine Nelly war zu sehen. Die schlief noch fest. »Nun sag schon.«

Der Schweigende wuchs einige Zentimeter. »Mein Name ist Thor-Magnus zu Kronstein-Adriennenburg der Freiherren zu Edeltal, pfälzischer Markgraf derer vom Graf Thomasus Wiffalderburg und dem Prinzen Lorenz zu Haidachbergen.«

»Ach«, machte Julius, und nun trank der Schweigende ein Schlücklein Kaffee und spreizte ganz adlig den kleinen Finger ab.

»Ihr könnt mich Toto nennen«, sagte der Schweigende. »Toto ist kurz und schmerzlos.«

»Toto heißen Schildkröten oder Nymphensittiche und unser schwuler Nachbar in Bremen, der eigentlich Thorsten heißt und eine niedliche Abkürzung gut findet. Aber doch nicht du.« Feli fand den Namen schrecklich. »Toto, also ich bitte dich. Du siehst aus wie jemand, der Jailhouse-Johnny oder Mister Kaltblut heißen könnte. Und da sagst du Toto.« Sie war völlig außer sich.

»Ja, wollt ihr immer meinen ganzen Namen sagen? Bevor ihr fertig seid, habt ihr keine Stimme mehr«, sagte der Schweigende und kratzte seine Glatze, während seine goldene Kreole hin und her baumelte.

»Claas nennt dich den Schweigenden, und so haben wir auch über dich gesprochen.«

»Hä?«, machte der selbst ernannte Toto. »Bin ich ein Schwachkopf oder was? Der Schweigende! Ihr seid wohl nicht ganz dicht inne Birne! Ich bin doch keine Hohlbratze, die, ohne was zu sagen, durch die Gegend läuft.« Er dachte nach. »Also eigentlich find ich Mister Kaltblut gut«, sagte er dann. »Das schüchtert ein. Bei manch einem ist das vielleicht gar nicht so schlecht. Also, gebongt?« Alle nickten.

»Guten Morgen.« Mit verstrubbeltem Haar kam Nelly nach oben. Sie hatte ein Sommerkleid übergezogen und sah immer noch verschlafen aus. Sie begutachtete den Frühstückstisch. »Wer hatte denn Brötchenholdienst?«

»Ich!« Leon, der natürlich auch noch da war und im Salon übernachtet hatte, was er selbstverständlich als Zumutung empfand, hob den Arm.

»Und wo ist meine Laugenbrezel?« Nelly sah ihn anklagend an.

»Es hieß, dass ich nur Brötchen holen sollte.« Er stand auf. »Ich kann mit einem der Räder natürlich noch mal losfahren, das ist überhaupt kein Problem.«

»Ja«, sagte Nelly und setzte sich hin. Ein bisschen war sie nun wieder die Prinzessin auf der Erbse.

»Nein«, sagte Philipp. »Du bleibst hier, Leon. Es sind genügend andere Sachen da.«

Nelly zog eine Augenbraue hoch. »Ich möchte aber …«

»Du bist jetzt ruhig. Wir müssen was mit dir besprechen. Hier, nimm Kaffee. Und wenn wir mit der Besprechung fertig sind, machen wir auf der Ersten Liebe mal klar Schiff.«

»Wozu denn noch?«, fragte Feli traurig. »In vier Wochen …«

»Nein«, unterbrach Philipp sie. »Genau so wollen wir nicht denken. Wir denken positiv.«

»Arbeitest du jetzt als Coach und benutzt merkwürdige Ausdrücke? Dass du uns da und da abholst und wir achtsam sein sollen und zeitnah was erledigen?«, fragte Julius. »Nicht mit mir.«

»Blödsinn. Ich will nur, dass wir das Schiff richtig sauber machen. Außerdem lenkt uns das den Tag über ab. Bis heute Abend dauert’s ja noch.« Philipp nahm sich noch Kaffee. Er war voller Tatendrang.

21 Uhr 30

»Also, Nelly, du weißt Bescheid«, sagte Philipp. »Nun ruf ihn an und sag ihm, dass er herkommen soll. Dass du eine mega Überraschung hast und alleine auf dem Schiff bist.«

»Und wenn er es nicht macht?« Nelly war verzweifelt. »Wenn er das alles an meiner Stimme hört? Ich bin nicht gut in so was.«

Das stimmte. Elisa musste an einige Situationen denken, in denen Nelly kläglich versagt hatte, als sie lügen sollte. Sie wurde grundsätzlich knallrot und fing an, sich zu verhaspeln, und irgendwann heulte sie, weil sie nicht mehr weiterwusste. Das war bei Fragen wie »Habt ihr Englisch zurückbekommen?« oder »Warst du gestern wirklich um zehn zu Hause?« gang und gäbe gewesen. Nelly konnte einfach nicht die Unwahrheit sagen. Selbst ein Blinder mit Krückstock würde ihr nicht glauben, wenn sie »J-j-ja kkkkkklll-a-r, äh, äähhh« stammelte.

Nun war ihre Aufgabe, Jan dazu zu bringen, hier zum Hafen aufs Schiff zu kommen. Dann würde es die Überraschung geben, und wie die aussah, könnte Jan sich ja in seiner Fantasie ausmalen, das sollte sie ihm in ihren Worten sagen.

Nelly stand mit aufgerissenen Augen da und starrte auf ihr Smartphone. »Ich kann doch auch eine WhatsApp …«

»Nein.« Julius hob abwehrend beide Hände. »Wer weiß, wann er die liest. Ich habe keine Lust, bis morgen früh hier zu stehen und zu warten. Ich muss um sechs Uhr im Hotel sein. Frühdienst.«

»Musst du um sechs schon kochen?«, fragte Leon ungläubig.

»Schon mal was von Frühstücksbuffet gehört?«

»Ach so.« Leon wurde rot. Er war am aufgeregtesten von allen.

»Das ist eine Straftat, was ihr vorhabt, oder?«, fragte er dauernd.

»Nein, das ist Rache.« Philipp wollte gar nicht über mögliche Konsequenzen nachdenken. »Rache an einem mistigen Arsch.«

»Mistiger Arsch«, wiederholte Leon ungläubig und fasziniert zugleich.

»Also«, sagte Philipp. »Nelly. Ruf. Jetzt. An.«

»Ihr müsst weggehen. Wenn ihr alle zuhört, geht das nicht, das kann ich dann nicht«, sagte Nelly fix und fertig. »Geht nach unten, geht weg.«

Augenrollend begab sich die Gruppe ins Schiffsinnere und hörte Nelly kurz darauf sprechen. Dann rief sie nach unten. »Er kommt. Er kommt tatsächlich!«

Philipp war als Erster wieder oben. »Okay. Holt Mister Kaltblut und sagt, dass es so weit ist.«

Feli war schon auf dem Weg und kam mit dem Schweigenden zurück.

»Alle runter ins Schiff. Keinen Mucks will ich hören. Nicht ein Wort. Ihr atmet leise. Keiner hustet. Keiner muss niesen.«

»Hatschi«, machte Elisa. »Entschuldigung. Das ist die Aufregung.«

»Jeder weiß, was er zu tun hat, wenn dieser Jan kommt. Ist das klar?«

Alle nickten.

Feli schaute auf die Uhr. Hoffentlich dauerte das nicht so lange. Sie musste ja noch weg …

»Ich wusste doch, dass du letztendlich mitmachst«, sagte Jan und lächelte Nelly an. Die hätte ihm am liebsten eine geknallt. »Und ich verspreche dir, ich lösche nachher alle Fotos. Aber eben nachher.«

»Du weißt schon, dass das Erpressung ist.« Nelly kochte innerlich. Sie war immer noch sauer auf sich selbst.

»Och, wieso denn Erpressung? Das ist ja wirklich ein bisschen was anderes. Du machst das doch bestimmt eigentlich gern.«

Ja, klar. Nelly wurde immer wütender. Sie hatte schon ein Rauschen in den Ohren.

»Also.« Jan lächelte sie wieder an. »Ich wär dann so weit.«

In diesem Moment tauchte ein Schatten hinter ihm auf, und zwei Arme legten ein Seil um seine Brust und zogen es fest zu, um dann einen Knoten zu machen.

»Hey, was soll das denn?«, fluchte Jan, der seine Arme nun nicht mehr bewegen konnte.

»Ich bin Mister Kaltblut«, sagte der Schweigende in drohendem Ton. »Und du kannst gleich was erleben.« Er trat nach vorn und richtete eine Taschenlampe auf sein Gesicht. Er sieht ja richtig gefährlich aus, dachte Nelly entsetzt, denn der Schweigende, das bemerkte sie erst jetzt, hatte eine Augenklappe aufgesetzt, und das andere Auge war blutunterlaufen. Er war gut vorbereitet. Vielleicht sollte man ihm vorschlagen, als Statist beim Theater vorzusprechen. Pestopfer brauchte man doch sicher immer.

Jan war stinksauer. »Du Miststück, du Schlampe«, sagte er. »Sofort macht ihr mich los.«

»Gemach, gemach«, sagte Mister Kaltblut. »Kennst du eigentlich Boxer-Fiete vom Kiez? Den hab ich gefragt, was er mit Typen wie dir macht. Soll ich dir mal sagen, was der Boxer-Fiete geantwortet hat? Willst du es wissen?«

Trotz der Dunkelheit sah Nelly, dass Jan blass wurde.

»Nelly«, sagte Jan. »Hiiiilfäää!«

»Diese Hände hier haben schon in Blut gebadet«, erklärte Mister Kaltblut ernst. »Und sie dürsten nach mehr. Bluuuut!«

»Mach mich los, mach mich los!« Jetzt wurde Jan lauter.

»Zwing mich nicht, dich mit einem … toten Fisch zu knebeln«, drohte der Schweigende. »Mit Mister Kaltblut ist nicht zu spaßen. So. Geh mal zum Mast da. Gut. Stehen bleiben.« Er löste den Knoten. »Wag es nicht wegzulaufen. Boxer-Fiete ist nämlich hier. Hier auf dem Schiff. Ein Fluchtversuch, und Boxer-Fiete und Mister Kaltblut machen dich platt.«

Nelly wurde das alles ein bisschen zu viel, aber sie sagte nichts. Sie hoffte nur inständig, dass Jan später nicht zur Polizei gehen würde. Andererseits hatte er keine Zeugen. Aber Fotos von ihr, die er gemacht hatte, als sie bei ihm eingeschlafen war.

»Ausziehen!«

»Was?«

»Aus-zie-hen! Oder soll ich dir helfen?«, sagte der Schweigende ganz in mafiöser Manier.

Und dann, als Jan getan hatte, was ihm befohlen worden war, da kamen die anderen hoch – und fingen an, Jan zu fotografieren.

»Ihr Schweine!«, schrie Jan.

»Können wir nur zurückgeben«, sagte Philipp ruhig. »Dein Handy. Wo ist es?«

»Ihr seid kriminell«, machte Jan. »Ja, kriminell seid ihr!«

»Ich habe eine Idee«, sagte Feli. »Wir könnten Jan doch ein bisschen schön zurechtmachen. Ich hole ein Sommerkleidchen und einen Lippenstift.«

»Nein! Ich bin doch keine Schwuchtel!«, rief Jan entsetzt.

»Gleich, gleich.« Der Schweigende grinste. »Jetzt entschuldigt sich der gute junge Mann erst mal bei Nelly. Und zwar laut und deutlich. Nimm es auf, Philipp.«

»Es ist doch gar nichts passiert!«, rief Jan. »Hört auf!«

»Ich höre …«, sagte der Schweigende, der über sich selbst hinauswuchs.

»Nein! Von dir Glatzkopf lass ich mir gar nichts sagen.«

»Gut.« Der Schweigende hatte schon wieder ein Seil in der Hand. »Dann heißt es jetzt für dich, Kiel holen!«

»Kiel holen?« Elisa verstand nicht. Manchmal stand sie bei solchen Aussagen auf dem Schlauch. Wie konnte man denn eine Stadt hierherholen? Wie sollte das denn gehen? Und warum?

»Jawohl! Kiel holen!« Feli schien die Idee auch gut zu finden.

»Kann mich mal jemand aufklären?«, fragte Nelly, die auch nichts verstand.

»Kielholen war früher eine schwere Disziplinarstrafe in der Seefahrt. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein wurde beim Kielholen der Bestrafte an einem Tau unter dem Rumpf des Schiffes durchgezogen«, erklärte der Schweigende mit tiefer, knarrender Stimme. Elisa fragte sich, ob er vorher geübt hatte.

»Manch einer kennt vielleicht den Film Meuterei auf der Bounty mit Marlon Brando als Christian Fletcher«, mischte Leon sich nun ein. »Also ich zumindest kenne ihn. Da war ein böser Kapitän, der hat auch einen Matrosen kielholen lassen. Der wurde dann von einem Hai gefressen.«

»Das ist dann natürlich ungünstig.«

»Hier gibt es keine Haie, nein, nein!« Nun schrie Jan fast.

»Halt die Klappe. Entweder Kielholen oder du entschuldigst dich bei Nelly, und zwar so, dass wir es alle mitkriegen, und es wird dokumentiert.« Der Schweigende war unnachgiebig.

Jan antwortete nicht.

»Gut, deine Entscheidung.« Der Schweigende zuckte mit den Schultern und holte ein weiteres langes Tau. »Dann wollen wir mal.«

»Buhuuuuu!« Jan heulte nun wie Feli, und die hob schnell ihr Handy und filmte ihn. Je mehr Material man als Druckmittel hatte, desto besser.

»Also dann.« Der Schweigende kam näher. »Leider passiert es immer wieder, dass beim Kielholen Leute … na ja …«, sagte er. »Das ist dann nicht so schön.«

»ENTSCHULDIGE BITTE! ES TUT MIR LEID, NELLY!« Jan schrie fast, und alle dankten Gott, dass hier niemand auf seinem Boot war, nur sie.

»Noch mal bitte.« Philipp betätigte die Aufnahmefunktion an seinem Smartphone. Und Jan entschuldigte sich erneut.

Mittlerweile hatte Julius auch dessen Handy gefunden. »Den Code bitte.« Und Jan nannte ihn. Julius tippte ihn ein, das Handy war entsperrt, und Julius suchte die Bilder, die er auch fand.

»Gibt es noch mehr?« Er hielt Jan das Handy hin. »Hast du was auf einem USB-Stick gespeichert? Auf einem Laptop?«

»Nein!«

»Schwöre!«

»Ich schwöre! Pass mit dem Handy auf. Lass das nicht fallen, das ist neu!«, krakeelte Jan.

»Och«, machte Julius. »Das schöne Handy.« Er löschte nacheinander die Bilder und ging dann zur Reling. »Huch. Wie dumm von mir.« Er schaute nach unten ins Wasser. »Jetzt ist es mir in die Elbe gefallen. So was Blödes.«

Er holte sein eigenes Handy aus der Tasche und fing auch an, Jan zu fotografieren. Der zeterte und versuchte zu verhindern, dass man ihm Lippenstift auftrug, was aber nicht gelang.

»Ich glaube, auf das Sommerkleid können wir verzichten. Wir haben genügend Material«, sagte der Schweigende dann.

»Eins noch, Junge. Sollten doch irgendwo Fotos auftauchen, dann gnade dir der Allmächtige.«

»Es gibt wirklich keine mehr.« Jan war ganz kleinlaut.

»Wenn du so was noch einmal machst, und damit meine ich nicht Nelly, sondern egal welche Frau, ich schwör dir, ich krieg es raus, und dann kannst du dich richtig warm anziehen. Hast du das kapiert?« Der Schweigende hatte beide Hände zu Fäusten geballt.

»Ja«, wisperte Jan, der völlig am Ende war.

»Dann bindet ihn jetzt los und jagt ihn aus dem Hafen. Ich will den Mistkerl nie wieder sehen! Mach, dass du fortkommst, bevor ich meine neunschwänzige Peitsche hole!«

Und das tat Jan auch.

Nelly war so froh, dass sie sich ununterbrochen bei allen bedankte. »Ohne euch hätte ich nicht gewusst, was ich tun soll«, sagte sie dauernd und war von einem halben Bier, das sie intus hatte, schon beschwipst, weil sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Und sie sagte: »Danke, danke, danke.« Und sie sagte: »Ihr seid wahre Freunde.« Und sie weinte, weil »ich war so böse zu dir, Elisa, bitte sei nicht sauer. Ich hab dich doch so lieb. Feli, dich hab ich auch lieb, ich liebe euch alle!«.

»Meine Fresse«, sagte der Schweigende. »Jetzt ist es mal gut, hör auf mit diesem Gejauner. Ich bin jetzt noch fix und alle.«

»Wieso? Du hast das doch superklasse gemacht. Als hättest du nie was anderes getan«, wurde er von Philipp gelobt.

»Meinst du wirklich?« Der Schweigende war gebauchpinselt.

»Klar. Wie ein echter Kiez-Schläger«, sagte nun auch Julius.

»Meint ihr wirklich? Ach … so glaubwürdig war ich?« Der Schweigende suhlte sich nun so wohlig wie ein Wildschwein im Schlamm.

»Wie hast du das denn mit dem blutunterlaufenen Auge hingekriegt?«, wollte Feli ehrfürchtig wissen.

»Ich habe eine Viertelstunde lang eine halbe Zwiebel vor mein Auge gehalten. Damit es schön tränt und rot wird.«

»Ein Wahnsinn!« Nelly war noch ehrfürchtiger.

Feli stand nun auf und gähnte. »Meint ihr nicht, wir sollten mal ins Bett gehen?«, fragte sie. »Also ich will morgen fit sein.«

»Ich würde gern noch ein bisschen hier sitzen bleiben mit den anderen«, sagte der Schweigende. »Immerhin habe ich euch geholfen, da wird man wohl noch ein Bier trinken dürfen. Ich hatte übrigens Angst, dass ich diesen Jan wirklich Kiel holen lassen müsste. Ich weiß ja gar nicht, wie das geht. Aber ich wollte auch nicht unglaubwürdig rüberkommen. Strafe muss sein, und ein Mr Kaltblut steht zu seinem Wort.«

»Und ich habe ein schlechtes Gewissen wegen des Handys.« Julius seufzte. »So was macht man doch eigentlich nicht.«

»Jan ist das beste Beispiel für einen Mistkerl«, sagte Nelly. »Mich erst einzulullen, erinnert euch bitte mal, wie er hier aufgetaucht ist. Dann so was! Nee, das ist schon richtig gewesen. Ich möchte auch noch ein bisschen hier sitzen, weil …«

»Ich finde, einer muss hier mal vernünftig sein«, sagte Feli. »Und das bin ich. Und ich sage, wir gehen jetzt schlafen.«

Ein Geräusch im Hafen ließ alle aufhorchen. Etwas knatterte. Es hörte sich an wie ein Motor.

»Haaaaaalloooooooo!«, riefen da zwei Stimmen.

Elisa stand auf. »Das glaub ich jetzt nicht«, sagte sie fassungslos. Aber es stimmte, und sie irrte sich nicht.

Zwei Frauen kamen den Steg entlang.

»Mama.« Nun stand auch Nelly auf.

»Oma«, sagte Elisa.

»Was macht ihr denn hier?«, fragten dann beide.

Oma Angie winkte lachend. »Na was wohl? Mal schauen, wie es euch geht. Deine Mutter hatte die Idee, und da dachte ich, warum eigentlich nicht? Ich hab ja Zeit. Und deine arme Mama braucht jetzt Ablenkung, Nelly.«

»Genau.« Henrietta hatte mittlerweile ihren Helm abgezogen und sah zum ersten Mal, seit Nelly und Elisa denken konnten, ungestylt aus. Ihre blonden Locken umrahmten ihr ungeschminktes Gesicht, und die Lederkluft, die sie trug, saß wie angegossen. »Ich musste weg aus Oberursel. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Dein Vater kann sehen, wo er bleibt. Reisende soll man nicht aufhalten, hat Angie auch gesagt.«

»Weiß Papa, dass du fort bist?«, fragte Nelly.

»Nö. Interessiert ihn auch nicht. Er hat ja Bianca.«

»Wer ist das?«

»Papa hat sich noch nicht mal die Mühe gemacht, ein bisschen kreativ zu sein. Bianca ist seine Assistentin. Das typische Klischee also. Mir war es schon an seinem vierzigsten Geburtstag klar, dass so was passieren würde. Als er plötzlich diese engen Jeans trug, so was Unvorteilhaftes. Aber nicht mit mir! Ich kann auch anders.«

»Hin und wieder kannst du aber wirklich anstrengend sein, Henrietta.«, sagte Elisa ganz richtig.

»Weißt du, wie mein lieber Mann war? Nein. Anderen gegenüber hat er immer die Schokoladenseite gezeigt. Soll er doch mit seiner Bianca glücklich werden. Passt ja. Bernhard und Bianca. Sie nennt ihn ›meinen wilden Mäuserich‹. Kann man sich das bitte vorstellen?«

Nelly wollte solche Sachen gar nicht wissen. Was war denn hier nun los, jetzt tauchten auch noch ihre Mutter und Elisas Oma auf. Wie gut, dass sie nicht gekommen waren, als Jan nackt und geschminkt am Mast gefesselt war. Nicht auszudenken.

»Wie lange bleibt ihr?« Elisa stellte eine wichtige Frage.

»Och, wir haben Zeit«, lautete die Antwort, die niemandem recht war. Eltern und Großeltern schön und gut, aber bitte mit Ansage, wie lang.

»Ist das ein schönes Schiff«, sagte Oma Angie. »Da kommt man sich ja vor wie in einem alten Spielfilm. Gibt es einen Klabautermann? Ich will alles sehen. Ach, ist das schön. Das ganze Holz. Wo sollen wir schlafen?«

»Ja, genau, wo sollen wir schlafen?«, fragte nun auch Henrietta.

»Na ja, Leon schläft momentan im Salon, und sonst ist eigentlich alles besetzt. Könnt ihr nicht in ein Hotel gehen?«, fragte Nelly. »Das ist auch viel bequemer und komfortabler, Mama. Hier gibt es … Kakerlaken.« Irgendwas musste sie sagen, damit ihre Mutter in der Zeit, in der sie hier war, woanders wohnte.

»Ach, die machen mir nichts. Hauptsache, ich bin mal raus aus Hessen und weg vom Fenster, das tut so gut, sage ich euch. Ich will endlich frei sein und leben. Sagt dein Vater auch. Er faselt was von Scheidung und gütlich auseinandergehen. Der wird mich kennenlernen! Ich werde einen Krieg führen!« Henrietta schrie nun. »ICH LASSE MICH NICHT EINFACH AUFS ABSTELLGLEIS SCHIEBEN! KÄMPFEN WERDE ICH BIS AUFS BLUT!«

»Hast du was genommen?« Nelly erkannte ihre Mutter nicht wieder. Die stand da mit geballter Faust, die Augen glänzten, sie sah aus wie eine Amazone in der Schlacht.

»Was denn genommen? Nö. Aber was nicht ist, kann ja noch werden«, lachte Henrietta ihre entsetzte Tochter an.

»Was sagt denn Alex?« Nelly hoffte, dass ihr vernünftiger Bruder die Mutter ein bisschen auf den Boden zurückgeholt hatte.

»Was soll er sagen? Er sagt, ich muss wissen, was ich tue. Außerdem hat er irgendeine Nora kennengelernt und ist für normale Menschen nicht mehr erreichbar. Wenn die beiden nicht zusammenkleben, telefonieren sie. Also, wo schlafen wir?«

»Ich mache einen Vorschlag«, sagte der Schweigende und wurde nun zum ersten Mal von Angie und Henrietta wahrgenommen.

»Oh«, machte Henrietta. »Ein Pirat«, sagte sie dann ehrfürchtig.

»Also, erst mal herzlich willkommen«, erwiderte der Schweigende. »Und was halten denn alle davon, wenn zwei Jungs Platz machen. Ich dachte, Leon und Julius oder Leon und Philipp oder Philipp und Julius oder …«

»Ja, das haben wir jetzt verstanden«, sagte Nelly.

»Äh, ja. Die können doch bei mir schlafen oder von mir aus auch alle drei, und dann habt ihr Mädels das Schiff für euch, solange ihr Besuch habt. Ich hab Platz. Ist kein Thema.«

Nelly tötete den Schweigenden mit Blicken, aber der grinste sie nur treudoof an.

»Prima, dann wäre das ja geklärt.« Henrietta war fröhlich. »Danke, Herr … wie heißen Sie denn?«

Bitte sag jetzt nicht Mister Kaltblut, dachte Nelly verzweifelt. Nicht dass ihre Mutter glaubte, dass ein Schwerverbrecher ihr Nachbar war.

Der Schweigende knallte die Hacken zusammen und machte eine Verbeugung. »Mein Name? Thor-Magnus zu Kronstein-Adriennenburg der Freiherren zu Edeltal, pfälzischer Markgraf derer vom Graf Thomasus Wiffalderburg und dem Prinzen Lorenz zu Haidachbergen.«

»Ooooooh …«, säuselte Henrietta und um sie war es geschehen. Nun kicherte sie wie ein pubertierendes Mädchen. »Wie schöööön«, wisperte sie dann.

Himmel.

»Nun ist es aber gut, Henrietta«, sagte Oma Angie.

Ach. Per Du waren sie also auch schon. Wie konnte sich denn eine Mutter innerhalb von kürzester Zeit so dermaßen verändern? Das war ja eine Kehrtwendung sondergleichen.

»Dann wäre ja alles geklärt, und wir können schlafen gehen, es ist ja auch spät.« Nelly klang wie ihre eigene verknöcherte, grauhaarige, gichtgeplagte und jungfräuliche Gouvernante.

»Schlafen gehen?« Oma Angie schaute sie an, als hätte sie noch nie was von dem Wort schlafen gehört.

»Wir müssen morgen alle früh aufstehen.«

»Na gut«, sagte Henrietta. »Dann reden wir morgen weiter. Schön, dass wir hier sind.«

»Ja, das ist toll, ganz toll«, sagte Nelly und scheuchte Elisa, Angie und Henrietta nach unten.

Der Schweigende nahm Philipp, Julius und Leon mit rüber auf sein Schiff.

Niemandem war aufgefallen, dass Feli fehlte.

Die betrat morgens um halb fünf die Erste Liebe, kurz bevor Julius vom Boot des Schweigenden kam, um sich für den Dienst anzuziehen. Feli hörte ihn, sah ihn aber nicht, und so konnte sie auch nicht mitkriegen, dass Julius völlig durcheinander war und komplett neben der Spur.