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»Nee, das glaub ich nicht.« Marko hatte die Arme verschränkt. Der ganze Typ war eine einzige Abwehrhaltung. »Und selbst wenn, wer sagt denn, dass es von mir ist?«

»Weil du der Einzige bist«, sagte Feli und musste sich ganz schrecklich zusammennehmen. Sie war so froh, dass Nelly und Elisa bei ihr waren. Wie gut das war!

»Das kann ja jede behaupten.« Marko war sauer. »Und wieso kommst du hier mit so einem Überfallkommando an? Das kannst du mir doch auch so sagen.«

Feli ging gar nicht auf seine Worte ein. »Wir müssen doch drüber reden. Immerhin waren wir ja beide dran beteiligt.«

»Was denn reden? Überlegst du etwa, das Kind zu kriegen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Also ehrlich, Feli, willst du dir die ganze Zukunft versauen? Du hast doch noch nicht mal deine Ausbildung richtig angefangen und dann ein Baby. Das schaffst du doch nie.«

Elisa sagte: »Es gibt doch immer eine Lösung«, obwohl sie momentan auch keine hatte.

Feli hatte schon wieder Tränen in den Augen. »Ich dachte, du hättest dich geändert«, sagte sie.

»Hab ich ja auch. Aber krieg du mal gesagt, dass du Vater wirst.« Marko war ganz durcheinander. »Da dreht man doch am Rad. Und in keinstem, in keinstem Fall möchte ich jetzt ein Kind großziehen müssen.«

In keinstem. Wie Nelly diese blöden Ausdrücke haste. Ja, ich bin auch sad, ist das lash hier und so weiter. Ätzend.

»Und natürlich will ich wissen, ob ich wirklich der Vater bin.«

»Das sollte nicht das Problem sein.«

»Wollen wir beide vielleicht allein drüber reden?«, schlug Feli vor, aber Marko schüttelte den Kopf.

»Ich hab jetzt überhaupt keine Zeit, ich muss das auch erst mal sacken lassen, ich will, dass du jetzt gehst.« Er schob sie zur Tür. »Ich krieg auch gleich noch Besuch, ein Freund kommt, ich …«

Da stand plötzlich eine Frau in ihrem Alter im Flur. »Marko, kommst du heute auch noch mal zurück oder willst du den Tag hier draußen verbringen? Hi«, sagte sie und winkte allen zu. Sie trug ein weites weißes Herrenhemd und keine Schuhe.

»Äh, ja, das ist …«, fing Marko an, musste aber gar nicht weitersprechen.

»Ich weiß Bescheid«, sagte Feli und rannte aus der Wohnung, dicht gefolgt von Nelly und Elisa.

Als sie zurück aufs Schiff kamen, hatte Feli sich wieder halbwegs beruhigt.

»Gut, dass du dich nicht mehr aufregst«, sagte Nelly. »Der ist es doch gar nicht wert. Jan war ja nun wirklich ein Griff ins Klo, aber dass dieser Marko zweigleisig fährt und nichts von seinem Kind wissen will, sondern sogar noch behauptet, es sei ja vielleicht gar nicht von ihm, das ist schon heftig.«

»Frag mich mal, wie ich mich fühle«, sagte Feli und streichelte ihren Bauch. »Das arme Würmchen da drin. Sein Vater will es nicht.«

»Bitte hör auf, das ist ja …«

»… entsetzlich!«, sagte Feli und seufzte. »Wenn ich bloß wüsste, was ich tun soll. Oma Angie wäre bestimmt eine tolle Uroma, aber so eine hab ich nicht. Ich hab nur meinen Vater und meine Tante, und beide wären nicht begeistert. Jedenfalls weiß ich nun, dass Marko nicht der Mensch ist, für den er sich ausgegeben hat. Doof ist er, keine Verantwortung will er übernehmen. Habt ihr das Baby vorhin gesehen? Das war so süß. Meines wäre bestimmt auch ganz süß. Aber ich kann ja kein Kind bekommen, das ist unmöglich. Wenn es ein Mädchen wird, könnte man ganz viel rosa Sachen kaufen. Wenn es ein Junge wird, dann eben blau. Oder grün. Papa wird durchdrehen, das weiß ich jetzt schon. Unmöglich kann ich ihn zum Opa machen …« Und so schwafelte Feli weiter und weiter, ohne Punkt und Komma.

Ich brauche mal fünf Minuten für mich, dachte Nelly und ließ Elisa und Feli alleine. Außerdem musste sie aufs Klo, und natürlich hatte irgendjemand vergessen, Klopapier nachzulegen. Wie Nelly das hasste. Sie holte eine neue Doppelpackung, riss sie auf und wollte gerade die Plastikhülle in den Mülleimer werfen, da fiel ihr etwas auf.

»… und du wartest am Eingang, bis ich fertig bin. Ich hab mit einem Freund telefoniert, einem Hacker, mit dessen Hilfe komm ich ins System rein«, erklärte Leon dem aufgeregten Julius. »Dann ändere ich alles.«

»Ist das jetzt so was wie die Watergate-Affäre?«, wollte Julius wissen.

»Das hier«, sagte Leon ernst, »ist natürlich viel existenzieller. Es geht um den Ruf deiner Mitbewohnerin. Und um Mobbing. Und um Stil und darum, dass man so was nicht macht. Wenn die Leute nicht von sich aus ehrbar sind, dann müssen wir eben ein bisschen nachhelfen.«

»So wird’s gemacht«, nickte Julius.

»Wir warten, bis es dämmert«, erklärte Leon. »Dann geht es los.«

»Sollten wir uns vielleicht Strumpfmasken aufziehen?«, schlug Julius vor. »Nicht dass wir jemanden töten müssen, weil er uns erkennt.«

»Die Idee ist gar nicht so schlecht. Frag mal Feli, ob sie uns Strumpfhosen gibt.«

»Mach ich.« Leon wollte gerade nach unten gehen, da kam Nelly wie ein Wirbelwind den Niedergang hochgeschossen. In der Hand hielt sie eine Plastiktüte. Und die donnerte sie jetzt vor Feli auf den Tisch.

»Was ist da drin?«

»Äh, meine Tests.«

»Genau genommen sind es zwölf Tests«, wurde sie von Nelly informiert. »Alle mit demselben Ergebnis.«

»Ja, dass ich schwanger bin.« Feli war schon wieder den Tränen nahe. »Ein armes Würmchen wartet auf seinen Vater. Es …«

Nelly holte drei Tests aus der Plastiktüte. »Was ist da zu sehen?«

»Na, ein Strich.«

»Elisa, schau du bitte auch.«

»Ich sehe auch einen Strich.«

»Genau. EIN Strich. Nicht ZWEI Striche, du Hohlbirne! Und daneben steht es noch auf dem Ding. Ein Streifen: nicht schwanger. Zwei Streifen: schwanger.«

»Oh«, machte Feli und streichelte weiter ihren Bauch. »Aber ich war doch beim Arzt.«

»Was genau hat der denn gesagt?«

»Also, erst mal hab ich ihm gesagt, dass ich unter gar keinen Umständen ein Kind haben kann und hoffe, dass ich nicht schwanger bin. Und dann hat er nach der Untersuchung gesagt, dass er gute Nachrichten für mich hätte. Und da bin ich davon ausgegangen, dass er mir freudig mitteilen wollte, dass ich schwanger bin. Ich hab dann aber nicht weiter zugehört.«

»Man sollte dich schütteln«, sagte Nelly. »Vorsichtshalber rufst du morgen noch mal in der Praxis an und fragst, aber ich bin mir sehr sicher, dass du kein Kind bekommst.«

»Das ist doch prima«, sagte Elisa.

»Hättet ihr euch nicht gefreut?« Feli war ganz enttäuscht.

»Also, ich sag es mal diplomatisch: So ist es, glaub ich, besser«, meinte Nelly und überlegte, wo auf dem Schiff sie keiner finden würde. Aber so viele Verstecke bot ihres Wissens die Erste Liebe nicht.

Hauptsache, ihrer Mutter und dem Schweigenden ging es gut. Von denen war nichts zu hören und zu sehen.

Wo waren eigentlich Philipp, Claas und Angie? Nelly sah sich um und entdeckte die drei oben auf der großen Fläche neben den Waschräumen. Claas schien von Oma Angie ein Fahrtraining zu bekommen, was aber nicht so richtig zu funktionieren schien, denn dauernd kippte er noch vor dem Anfahren mit dem großen Motorrad um. Philipp war dann jedes Mal zur Stelle und half beim Aufrichten.

So konnte man seinen Tag natürlich auch verbringen.

Also wirklich. Das brauchte ja kein Mensch. Man sollte Feli durch den Wolf drehen.

Und hoffentlich, hoffentlich kriegte Leon das alles so hin, wie er es gesagt hatte. Nicht dass er sich nur hatte wichtigmachen wollen. Eine Anzeige wäre das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnten.

»Bingo.« Gegen dreiundzwanzig Uhr waren Julius und Leon endlich wieder auf der Ersten Liebe. Die anderen saßen zusammen und warteten ungeduldig, und niemand hatte sich getraut, auf den Handys der beiden anzurufen. Wenn der Klingelton jemanden aufmerksam gemacht hätte …

»Alles erledigt und nicht nachverfolgbar, dass ich das war«, ließ Leon Elisa und die Gruppe wissen, woraufhin ein gruppendynamisches »Gott sei Dank« erklang.

»Du bist ein Schatz, Leon, wirklich.« Nelly stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ohne dich wären wir völlig aufgeschmissen gewesen.«

»Ja.« Auch Elisa nickte. »Ich weiß gar nicht, wie ich mich revanchieren soll.«

»Ach, musst du nicht. Ich hab nur einen Wunsch.«

»Welchen denn?«

Leon sagte: »Ich würde mir wünschen, dass ihr auch zukünftig nett zu mir seid. Einfach nett. Und ich bin nett zu euch. Ich will nicht mehr so ein dummes Anhängsel sein, das niemand mag. Ich bemühe mich auch wirklich, euch nicht auf den Keks zu gehen.«

»Ha!«, machte Philipp. »Das heißt im Klartext, dass er vorhat, noch länger hierzubleiben.«

»Schon …«, sagte Leon, und dann lachten alle.

»Ich werde in den nächsten Tagen nach Hause fahren«, teilte Henrietta ihnen mit. »Ich muss einiges mit meinem Mann besprechen, das muss ja alles vorangehen.«

»Ich werde hier auf dich warten«, sülzte der Schweigende verliebt.

»Wie schön, Thor-Magnus«, sülzte Henrietta zurück.

»Ich bleibe auch noch ein bisschen.« Oma Angie lächelte Claas an, der nicht mehr ganz so traurig aussah. »Claas zeigt mir Hamburg und will den Motorradführerschein machen.«

»Vielleicht übt ihr vorher noch etwas«, schlug Philipp vor. »Wenn er dauernd vor dem Losfahren mit dem Ding umkippt, besteht er keine praktische Prüfung.«

Claas hob den Finger. »Obacht! So redest du nicht mit einem harten Seefahrer.« Und dann machte er weiter Angie-Hamburg-Pläne. Auf den Michel, die große Kirche, wollte er unbedingt, die Aussicht da war grandios. Radausflüge könnten sie auch machen, durch den Alten Elbtunnel und dann ins Alte Land. Es gab so viel!

»Sag mal, Claas, was ist eigentlich mit Grusche?« Nelly wollte bloß klare Verhältnisse. Diese ganzen verschwurbelten Dinge konnte sie nicht mehr ertragen.

»Grusche habe ich von meinem Glück schon erzählt«, strahlte Claas. »Sie freut sich sehr für mich. Ich habe lange mit mir gehadert, ob ich es ihr sagen soll, also die Sache, die Sache mit Angie … weil ich dachte, dass Grusche vielleicht mehr in mir sieht als einen guten Freund. Aber glücklicherweise war sie erleichtert und hat zugegeben, dass sie mit meinem alten Kumpel Gottfried angebändelt hat. So sind wir alle glücklich und zufrieden.«

Wenigstens das.

Später nahm Nelly ihre Mutter zur Seite. »Mama, hast du dir das auch alles gut überlegt?«

Henrietta sah sie mit festem Blick an. »Oh ja. Es ist nicht das erste Mal, dass Papa eine … Freundin oder Geliebte, nenn es, wie du willst, hat. Irgendwann ist der Punkt da, an dem man nicht mehr kann. Ich weiß, dass ich auch meine Fehler habe und dass es mir in vielerlei Hinsicht sehr gut, wenn nicht zu gut geht, aber was zu viel ist, ist zu viel.«

»Mama! Aber woher willst du denn wissen, dass der Schweigende, ich meine Mister Kaltblut, ich meine …«, jetzt hatte sie auch noch den Namen vergessen, »er jedenfalls … es ehrlich mit dir meint? Außerdem hab ich gelesen, dass Beziehungen direkt nach einer Trennung nicht lange halten.«

»Ich hab doch gar nicht vor, eine Beziehung einzugehen«, sagte Henrietta fröhlich. »Und Thor-Magnus, wie er übrigens heißt, auch nicht. Wir wollen einfach Spaß haben. Einfach Spaß! Irgendwann wirst du mich hoffentlich verstehen, Kind.«

»Ich versteh dich ja, ich versteh’s nur nicht.« Nelly wusste, dass sie wirr redete. Sie gönnte ihrer Mutter, dass sie glücklich war, aber Eltern gehörten doch immer zusammen. Andererseits war sie jetzt erwachsen und doch gar nicht mehr auf die Eltern angewiesen – hatten die nicht auch beide das Recht auf Glück und sollten die nur zusammenbleiben, weil man das eben so machte? Nee. Das war doch auch nicht richtig. Nelly konnte sich zwar nicht vorstellen, dass diese Bianca die Richtige für Paps war, aber schließlich musste er wissen, was er tat.

Sie konnte nicht in ihre Eltern reingucken und hatte keine Ahnung von allem, was gewesen war.

Das mussten die beiden schon selbst mit sich ausmachen.

Auch wenn es mittlerweile zu spät war, rechnete sie es ihrem Vater hoch an, dass er ihnen jede Menge Geld für das Schiff gegeben hätte.

»Ich bin stolz auf dich und dass du dich dafür einsetzt«, hatte er am Telefon gesagt. »Ich wundere mich ehrlich gesagt. So kenn ich dich gar nicht.«

»Ich fühle mich mitverantwortlich«, hatte Nelly erklärt. »Claas ist so hilflos. Wir müssen was für ihn tun. Das ist doch nicht richtig.«

»Dass ich so was mal von dir höre«, hatte er gesagt. »Find ich toll. Und das andere, das klär ich mit Mama. Ich weiß nicht, wie es enden wird, aber in jedem Fall seid du und Alex nicht die Leidtragenden, das verspreche ich.«

»Ihr müsst wissen, was ihr tut«, war Nellys Meinung gewesen, und das stimmte ja auch.

»Einen Teil des Geldes spende ich euch, einen Teil zahlt ihr gemeinsam zurück, ist das ein Wort?«

Nelly hatte die anderen gefragt und einstimmig ein »JA« gehört.

So hätte alles seinen Gang gehen können.

Aber nein, die Zecke war so raffgierig, dass sie das Schiff an den erstbesten Deppen verkaufte. Was für ein dummes Stück!

So. Und nun musste sie sich unbedingt ausruhen.

Sie legte sich auf ihre Bettseite. Zwei Minuten später war sie mit dem wohligen Gefühl, ein guter Mensch zu sein, eingeschlafen.

Dieses Gefühl war genauso neu für sie wie das Lob ihres Vaters.

Überhaupt, auch wenn alles dramatisch war, hatte sie den Eindruck, dass sie alles richtig gemacht hatte und machte.

Über Jan würde sie auch hinwegkommen … irgendwann.

»Geht’s Ihnen denn ein bisschen besser, Herr Barding?«, fragte Frau Reiners fürsorglich, als Philipp ihr Guten Morgen gesagt hatte.

»Nicht so wirklich. Wir haben es gerade so verpasst«, erklärte er. »Der Vater meiner Mitbewohnerin wollte uns das Geld teilweise schenken und leihen, aber dann kam der Anruf, dass das Schiff verkauft wurde.«

»Ach, das tut mir aber leid!«, rief Frau Reiners. »Dabei waren Sie doch alle so engagiert.«

»Schlimm ist es für Claas, dem die Erste Liebe gehörte«, sagte Philipp. »Der ist jetzt nicht nur sein Schiff los, sondern auch die Bewohner. Ich hab keine Ahnung, wo wir alle landen werden.«

Sie hatten schon nach WG-Wohnungen geguckt, aber entweder waren sie zu teuer oder man suchte nur eine oder zwei Personen oder nur Frauen oder nur jemanden für drei Monate oder man musste ganz viel renovieren oder ganz viel Ablöse für marode Einbauküchen und Teppichböden bezahlen, die kein Mensch brauchte. Dass sie zu fünft eine Wohnung finden würden, war wohl eher unwahrscheinlich.

»Verdammt«, hatte Julius gesagt. »Ich will mit euch zusammenbleiben, das ist doch voll cool alles. So ein Mist.«

Ja, es funktionierte wirklich perfekt. Sogar die Putzpläne wurden eingehalten und die Einkäufe erledigt. Die gemeinsame Kasse wurde gut verwaltet – es könnte einfach nicht besser sein.

Es war zum Heulen.

Aber es war so, wie es war.

Sie konnten es nicht ändern. Also suchten sie auch einzeln nach Wohnungen und hofften, bald was zu finden.

Elisa bat um einen Termin bei Frau Cavall. Bevor sie die Bombe platzen ließ, wollte sie es noch mal so versuchen. Nichts lag ihr ferner, als jemanden in die Pfanne zu hauen, ob er nun Mist gebaut hatte oder nicht. Elisa war zwar im Recht, trotzdem fand sie, die Sache mit der Datei sollte man nur in der allergrößten Not anwenden.

Aber Frau Cavall war nicht bereit, sich mit ihr zu beschäftigen. Sie solle sich lieber um ihre Aufträge kümmern.

Also ging Elisa zu Sanni, die sich einen anderen Platz im Großraumbüro erbeten hatte und ihr nicht mehr gegenübersaß.

»Ich muss wegen dieses Ideenklaus mit dir sprechen«, sagte Elisa freundlich. Immerhin hatte doch jeder eine zweite Chance verdient.

Leon hatte ihr versichert, dass alles so geklappt hatte, wie es geplant war. Er hatte sich bei Dunkelheit in die Redaktion geschlichen, als der Sicherheitsdienst eine Pause machte, und innerhalb von zwanzig Minuten hatte er alles an Sannis und auch an Elisas Rechner so verändert, dass nun klar zu sehen war, wer die Datei wann erstellt hatte. Nämlich Elisa. Die hatte zwar nie eine erstellt, weil sie ja spontan die Idee mit den alten Geschäften gehabt hatte, aber wenn sie darauf angesprochen werden würde, könnte sie einfach sagen, sie habe in der ganzen Aufregung und wegen der Beschuldigung einfach vergessen, dass sie sich Notizen gemacht hatte. Sie hatte Leon genau aufgeschrieben, was er in ihre Datei reinschreiben sollte, und er hatte gesagt, er könne das auch so drehen, dass diese Datei zu einem Zeitpunkt geöffnet wurde, in der Elisa nachweislich nicht und Sanni nachweislich in der Redaktion gewesen waren.

So sah also der Plan aus. Ganz wohl fühlte Elisa sich nicht dabei.

Nun schaute sie Sanni an und wartete auf eine Antwort, die auch kam.

»Willst du dich entschuldigen?«, fragte Sanni. »Vergiss es. Erst in der Sitzung. Vor allen.«

»Das werde ich nicht tun«, sagte Elisa und hoffte, eine feste Stimme zu haben.

Sanni drehte sich nun auf ihrem Stuhl zu ihr um. »Dann werde ich eben sagen, dass du nicht den Mut hast, zu deinem Fehler zu stehen. Bitte, wenn du es so willst, kannst du es so haben.«

Elisa wurde wütend. Was maßte Sanni sich an!

»Du weißt wie ich, dass ich dir keine Idee geklaut habe, sondern dass es meine eigene Idee war mit den alten Geschäften. Und den Text über die Royals hab ich auch selbst geschrieben.«

»Blabla«, sagte Sanni und pustete eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

Elisa fragte sich, wo die freundliche, herzliche Kollegin abgeblieben war.

»Spar dir dein Gelaber. Die Cavall glaubt mir«, sagte Sanni nun. »Und übrigens, die anderen wissen schon alle Bescheid.«

»Warum machst du das?« Elisa war auf einmal richtig traurig.

Nun stand Sanni auf und kam näher. »Bist du so blöd oder tust du nur so? Wir sind beide Volontärinnen, und nur eine kann bleiben. Also tut man doch alles dafür, dass man selbst diejenige ist, oder?«

»Das wusste ich nicht, dass nur eine von uns bleiben kann«, sagte Elisa. »Aber das ist doch ganz egal. Es hat doch nichts mit der Art und Weise zu tun, wie du dir das erschleichst. Das ist doch mir gegenüber fies und widerwärtig.«

»Von mir aus. War’s das?« Sanni sah gelangweilt aus.

»Du tust mir leid«, sagte Elisa, drehte sich um und ging.

Bitte. Dann eben anders.

Plötzlich freute Elisa sich richtig auf die Sitzung, die in einer halben Stunde beginnen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie schadenfroh.

»Ja?« Feli war mit Max dabei, Ordnung in Herrn Mortensens Buchhaltungschaos zu bringen. Mit dem händischen Lochen war es jetzt auch vorbei. Max war sofort losgelaufen und hatte Ordner und Locher und Heftklammern und Post-its und Eddingstifte und einen Computer und Drucker gekauft und Papier, denn so konnte das ja nicht weitergehen.

Das Hannelörchen hatte schon wieder vergessen, dass Augustus tot war, und suchte ihn immer mal wieder. Sie hatten beschlossen, es ihr nicht jedes Mal aufs Neue zu sagen, weil sie dann schuldbewusst anfing zu weinen. So war es einfacher. Wenn sie nicht suchte, polierte sie Särge oder telefonierte mit ihrer Schwester, die ebenfalls dement war. So ein Telefonat konnte dann mal ein paar Stunden dauern, weil sie ständig von vorne anfingen. Feli und Max war das sehr recht, so hatten sie herrliche Arbeitsruhe.

Herr Mortensen lag im Nebenraum in der Kühlung und wartete auf seine Bestattung, die in einer Woche stattfinden sollte. Max hatte den Sonntagsanzug seines Opas aus dem Schrank geholt und ihn abgebürstet, und Feli hatte die Karten in Auftrag gegeben und an die Leute verschickt. Sie hatte Torte bestellt und mit dem Pfarrer gesprochen, Blumenschmuck besorgt, genau wie ein Kondolenzbuch. Ein Arzt war da gewesen, und auch sonst war alles so organisiert, wie es eben organisiert sein musste.

Mit Max überlegte sie, wie man Herrn Mortensen am besten unter die Erde bringen sollte, und Max sagte, Opa hätte kein Brimbamborium gewünscht, also entschieden sie sich für einen schlichten Sarg und eine Feuerbestattung. Die Urne war aus Jade und gefiel dem Hannelörchen so gut, dass sie Plätzchen darin aufbewahren wollte, was sie dummerweise nicht wieder vergaß, weswegen es zwischen ihr und Feli fast zu einem Scharmützel gekommen wäre.

Ansonsten lief alles in geordneten Bahnen ab, und Feli genoss es, zu schalten und zu walten, wie sie wollte – ohne Papas Unzufriedenheit und strenges Regiment und ohne das ewige »Hast du daran gedacht« und »Du musst das noch machen« ihrer übereifrigen Tante.

Von Stunde zu Stunde wurde das Büro ordentlicher, und als Feli die letzten Unterlagen abgeheftet hatte, war sie sicher, eine Staublunge zu haben, aber die Ordnung hier war die Sache wert. Sie freute sich darüber, dass alles an seinem Platz war, es nun richtig professionell aussah und vor allen Dingen, dass sie es zu verantworten hatte.

Später am Nachmittag musste sie mit Max, der das Auto fahren würde, zu zwei Hinterbliebenenfamilien, die das Institut beauftragt hatten. Sie brauchte dringend einen Führerschein.

Feli suchte die benötigten Unterlagen zusammen und bereitete auch sonst alles vor.

Sie fühlte sich gut.

Da klingelte ihr Handy.

»Ja?«

»Hier ist … Marko.«

»Ja.« Felis Herz klopfte nicht wie noch vor Kurzem, als Marko sie umgarnt hatte und alles von früher wiedergutmachen wollte.

Sie war nicht mehr so blöd wie noch vor ein paar Tagen.

Na ja, um ehrlich zu sein, war sie ganz schön blöd. Wenn man an die zwölf Schwangerschaftstests dachte, konnte man kein anderes Adjektiv für sie finden. Außerdem hatte sie heute auch in der Praxis des Gynäkologen angerufen und dort erfahren, dass definitiv keine Schwangerschaft bestand.

Sie hätte sich im Nachhinein noch ohrfeigen können für ihre dämliche Dummheit. Aber das war jetzt Vergangenheit. Und glücklicherweise verspürte sie nun das untrügliche Ziehen im Unterleib, das ihr sagte, dass alles seinen gewohnten Gang ging. Herrlich!

»Was willst du?«, fragte sie, als Marko nicht gleich antwortete.

»Also … ich wollte mal fragen, ob du … also, ob du … eine Entscheidung getroffen hast.«

»Was denn für eine Entscheidung?«

»Mpf, äh …«

Feli fand es gut, ihn zappeln zu lassen.

»Wegen des Kindes.«

»Ach so. Rufst du an, weil du alles gemeinsam mit mir durchstehen willst, in guten wie in schlechten Tagen?« Jetzt redete sie wie ein Pfarrer, aber egal.

»Äh, mpf, nein. Ich wollte ja nur noch mal sagen, dass ich das nicht so unterstütze, äh.«

»Ach.«

»Mpf.«

»Was heißt das genau?«

»Äh … ich bin dafür, dass du es wegmachen lässt. Und dann kann doch alles wie vorher sein.«

»Marko?«

»Ja?«

»Ich will dich nie wiedersehen. Ruf mich auch nie wieder an. Du bist wie ein …« Jetzt fiel ihr kein passendes Wort ein. »Wie ein Pudding«, sagte sie letztendlich. Und obwohl das albern klang, fühlte sie sich noch besser als vorher und drückte Marko weg. Dann blockierte sie die Nummer.

»Äh …«, hörte sie da und drehte sich um. Max stand vor ihr.

»Ich wollte gar nicht lauschen, ich wollte nur Formulare holen«, sagte er. »Aber dann hab ich zugehört.«

»Das macht nichts«, antwortete Feli.

»Hast du gerade mit deinem Freund Schluss gemacht?«

»Das war nie mein Freund«, stellte Feli klar. »Ich hab nur gerade so richtig kapiert, dass er ein totaler Idiot ist.«

»Wie schön«, sagte Max. »Dann kannst du ja heute Abend mit mir ins Kino gehen!«

Feli drehte sich nun ganz zu ihm um. »Ins Kino?«

»Ja, was ist denn daran falsch?«

»Oh«, sagte Feli, der gerade auffiel, dass Max sehr schöne braune Augen und dichte Wimpern hatte. »Nichts. Gar nichts. Es fühlt sich sogar richtig richtig an.«

»Das ist schön«, sagte Max, und sie lächelten sich an.

»Und nun«, sagte Inga Cavall, »warte ich noch auf die angekündigte Entschuldigung der werten Kollegin.« Auffordernd sah sie Elisa an. Alle Teilnehmer der Konferenz schienen auf einmal gerader zu sitzen. Gespannt warteten sie auf die demütigende Entschuldigung. Elisa sah in die Runde. Die Blicke waren nicht gerade freundlich. Konnte sie ja verstehen. Aber: Musste man sich nicht immer zwei Seiten anhören? So hatte ihre Mutter es ihr beigebracht.

Elisa stand nun nicht etwa auf und machte vor Sanni einen Kniefall, wie es bestimmt einige gehofft hatten, sondern holte einen Schnellhefter aus ihrer Schultertasche.

»Ich hab Einiges dazu zu sagen. Aber bitte macht euch doch selbst ein Bild.« Sie ließ Ausdrucke der von Leon geänderten Datei herumgehen. Auf den Papierbögen stand das Datum der Erstellung.

»Ich hab alles chronologisch aufgelistet«, sagte Elisa und schaute Sanni nun mit festem Blick an. »Ich habe keine Idee geklaut, sondern die Kollegin Sanni. Bitte, überzeugt euch alle. Und – wo wir gerade dabei sind, habe ich hier noch einen Ausdruck des WhatsApp-Verkehrs zwischen meiner Freundin Nelly und mir am Tag, an dem Harry und Meghan in Hamburg waren. Daraus ist ersichtlich, dass sämtliche Infos, die in den WhatsApps standen, nicht von Sanni kamen, sondern von meiner Freundin. Und wie gut, dass ich ihr den Text dann auch noch mal gemailt habe, bevor ich ihn weitergab. Das alles war nämlich in einem Zeitfenster, in dem Sanni gar nicht da war. Sie hatte einen Außentermin mit den Nominierten vom Radiopreis. Und sie kam erst dann zurück, als ich den Text schon längst abgegeben hatte. Nein, Frau Cavall, lassen Sie mich bitte ausreden.« Elisa hob die Hand, und tatsächlich war Frau Cavall still, während Sanni abwechselnd rot und blass wurde.

Glücklicherweise war Elisa vorhin noch selbst auf die Idee gekommen nachzusehen, wann sie was geschrieben hatte und wo Sanni da war. Wenn irgendjemand zweifelte, konnte man ja in Handy und Festnetztelefon nachschauen, ob Sanni bei Elisa angerufen hatte oder umgekehrt. Und das war definitiv nicht der Fall gewesen.

Genau so erzählte Elisa es.

»… und deswegen werde ich mich nicht bei dir entschuldigen, Sanni. Ich müsste eine Entschuldigung von dir verlangen.«

»Du lügst«, sagte Sanni.

»Ach.« Elisa holte ihr Handy hervor. Sie war ja nicht blöd.

Sie drückte den Abspielknopf, und der Dialog zwischen ihr und Sanni von vorhin ertönte:

»Du weißt wie ich, dass ich dir keine Idee geklaut habe, sondern dass es meine eigene Idee war mit den alten Geschäften. Und den Text über die Royals hab ich auch selbst geschrieben.«

»Blabla. Spar dir dein Gelaber. Die Cavall glaubt mir. Und übrigens, die anderen wissen schon alle Bescheid.«

»Warum machst du das?«

»Bist du so blöd oder tust du nur so? Wir sind beide Volontärinnen, und nur eine kann bleiben. Also tut man doch alles dafür, dass man selbst diejenige ist, oder?«

»Das wusste ich nicht, dass nur eine von uns bleiben kann. Aber das ist doch ganz egal. Es hat doch nichts mit der Art und Weise zu tun, wie du dir das erschleichst. Das ist doch mir gegenüber fies und widerwärtig.«

»Von mir aus. War’s das?«

»Du tust mir leid.«

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Elisa hatte das Gefühl, im Dauerlauf einen Achttausender hochgeklettert zu sein. Ihr Herz raste. Aber es war ein gutes Rasen.

Sie schaute Sanni an. Die sah auf die Tischplatte und war nun kalkweiß.

Frau Cavall stand auf. »Sie beide in mein Büro. Jetzt.«