Platon definierte den Menschen als zweifüßiges Wesen ohne Federn. Und auch wenn ihm die breite Masse zustimmte, empfand Diogenes diese Beschreibung als nicht umfassend genug. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, brachte er ein gerupftes Huhn in Platons Schule und präsentierte es mit den verächtlichen Worten: »Das ist Platons Mensch!«
Ich kann Platons Bild aber einiges abgewinnen. Auch wenn sich der Mensch von einem Vogel natürlich durch mehr als nur das Federkleid unterscheidet, sind sie sich in einigen Dingen gar nicht so unähnlich. Ohne die elterliche Fürsorge sind beide Arten nämlich lebensunfähig. Es ist für beide zu Beginn überlebensnotwendig, dass man sich um sie kümmert.
Sowohl Küken als auch Neugeborene haben das in der Biologie sogenannte Nestprivileg. Denn anders als ein Rehkitz, das bereits nach kurzer Zeit auf seinen wackeligen Beinen stehen und schon bald mit der Mutter mitlaufen kann, krabbeln Babys nicht schon wenige Minuten nach der Geburt im Kreissaal herum.
Auch Küken würden beim frühzeitigen Verlassen des Nestes ihrem sicheren Tod entgegenstürzen. Um das zu verhindern und die Eltern dazu zu motivieren, ihren Nachwuchs zu pflegen, ist die Bindung entscheidend. Denn wo kein Bezug ist, gibt es auch kaum Motivation, das Bündel Fleisch am Leben zu erhalten. Außerdem würden sie es sich dann von vornherein sparen, Tage oder gar Wochen umherzuziehen, um die passenden Äste für den Bau des Nestes zu finden. Vogeleltern investieren also eine immense Energie und viel Zeit in ihren Nachwuchs. Aber warum haben auch wir Menschen dieses Nestprivileg?
Bereits bei dem Skelett des Australopithecus afarensis-Mädchens Lucy stellten die Forscher jene körperlichen Voraussetzungen fest, die für einen aufrechten Gang von Nöten sind. Um über einen längeren Zeitraum auf zwei Beinen gehen zu können, mussten vor Millionen von Jahren einige Adaptionen stattfinden. Zum Beispiel entwickelte sich die Fußwölbung und der große Zeh verlor seine Fähigkeit zur Opposition. Von nun an wurde er nur noch zum Laufen und nicht mehr zum Greifen eingesetzt. Weiters musste das Hauptjoch nach vorne verlagert werden, um das Gewicht des Schädels auf der Wirbelsäule ausbalancieren zu können. Und auch die Form der Wirbelsäule selbst musste sich im Laufe der Evolution verändern. Denn nur die heutige S-Form ermöglicht einen über den Füßen liegenden Schwerpunkt, ohne dabei die inneren Organe zu verdrängen. Bei Tieren, die sich hauptsächlich auf vier Beinen fortbewegen, ist dagegen eine C-Form zu verzeichnen. Und schlussendlich musste sich auch das Becken an die neue Art der Fortbewegung anpassen. Der Beckengürtel wurde schmäler und die Conjugata Vera, die die engste Stelle des Geburtskanals markiert, durfte einen Durchmesser von zehn Zentimetern nicht mehr überschreiten. Ansonsten würde das Laufen zur Herausforderung werden. Letzteres ist der Grund, weshalb Kinder nicht länger im Mutterleib verbleiben können. Ansonsten würden sie sich mit dem zu großen Kopf den Weg durch den Geburtskanal versperren.
Das führt dazu, dass sich das Gehirn nicht vollständig entwickeln kann, was wiederum zur Folge hat, dass sie ihr Leben zunächst nicht alleine meistern können, sondern nach der Geburt in höchstem Maße auf externe Betreuung angewiesen sind. Damit die Mutter das Bedürfnis entwickelt, das Neugeborene intensiv zu umsorgen, ist die Bindung essenziell.
Aber sie braucht Zeit, Mutter und Kind müssen sie aufbauen. Dieser Prozess beginnt bereits in der Gebärmutter, wo das Ungeborene schon in der dreißigsten Woche die Bewegungen der Mutter erkennen und ihre Stimme zuordnen kann. Doch die Bindung ist nicht allein von den sanften Worten der Mutter oder dem liebevollen Streicheln ihrer Hände über den prallen Bauch abhängig, sondern sie wird zusätzlich hormonell unterstützt. Und gerade deshalb ist es ein Trugschluss zu behaupten, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind austauschbar sei. Schließlich wurde sie schon vor der Geburt von Mutter Natur in Stein gemeißelt.
Eine besondere Rolle kommt dabei dem Hormon Oxytocin zu, welches bei der Mutter sowohl bei der Geburt als auch beim Stillen vermehrt freigesetzt wird. Wenn der Vater die Geburt miterlebt, schüttet er dabei das Hormon Vasopressin aus, welches ebenso wichtig für die Brutpflege ist. Dadurch werden in ihm schlummernde Kräfte freigesetzt, wenn es um die Verteidigung seines Territoriums und seiner Kinder gegen ein fremdes Männchen geht.
Das Kind, das nun auf der Welt ist, erinnert sich natürlich noch an das intrauterine Leben. Es weiß, wie die Mutter riecht, es weiß, wie die Mutter redet, es weiß, wie die Mutter sich anfühlt. Und vor allem erinnert es sich noch ganz genau an das Gefühl der Geborgenheit, das es die letzten neun Monate empfunden hatte.
Das ist der Grund, warum es gerade in den ersten Jahren so wichtig ist, dass das Kind so oft wie möglich abgeschmust und gestreichelt wird. Und auch wenn die Mutter dafür die naturgemäß beste Kandidatin darstellt, kann diese Aufgabe auch von einer anderen Person übernommen werden, solange der Kern des kindlichen Wohlbefindens, also diese Bindung, gegeben ist. Denn schon Aristoteles erkannte den Menschen als zutiefst »soziales Lebewesen«. Dementsprechend schlecht geht es einem Säugling, der keine Beziehung zu der eigenen Mutter oder generell zu einem anderen Menschen aufbauen kann.
Hier kommt die Epigenetik zum Tragen, die den Aktivitätszustand von Genen beeinflusst. Denn auch, wenn das Genom bereits bei der Empfängnis angelegt wird, werden die Gene erst in den frühen Lebensjahren durch den Erhalt einer elektrischen Ladung aktiviert. Und genau diese Acetyl-Reste sind der Grund dafür, dass sich manche Gene bemerkbarer machen als andere.
Und wenn dem Kind in dieser Entwicklungsphase durch die Trennung oder Abwesenheit einer Bezugsperson eine Stresssituation signalisiert wird, ist der Glukokortikoid-Rezeptor, der auf ebendiesen reagiert, bei ihm später überrepräsentiert.
Und diese Modifikation bleibt ein Leben lang.
Deshalb reagieren diese Kinder später auf eine stressige Situation schneller und gewaltiger, da die zuständigen Rezeptoren in zu großer Menge vertreten sind. Eine fehlende Bindung im Kleinkindalter kann also mit emotionalen Überreaktionen und einer nicht vorhandenen Stressresistenz im Erwachsenen-Leben einhergehen.
Andererseits ist es im Tierreich der Fall, dass ein Vogel, der dauerhaft um sein Leben fürchten muss, stärkere Federn bekommt und dementsprechend besser fliegen kann. Das lässt sich auf den Menschen unterschiedlich übertragen. Einerseits könnte man sagen, dass aus einem gestressten Baby ein abgehärteter Erwachsener wird. Doch andererseits lässt sich ein dichteres Federkleid auch mit einem höheren Maß an Aggression gleichsetzen, das sich im Verhalten vieler vernachlässigter Kinder widerspiegelt.
Doch um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, braucht der Mensch sein Nest. Und im Gegensatz zum Vogel, der eines realen Nests bedarf, das ihn vor Fressfeinden beschützt, braucht der Mensch im übertragenen Sinne ein emotionales Nest, das ihn davor bewahrt, von innen aufgefressen zu werden. Die Bindungslosigkeit und das fehlende Gefühl der Sicherheit eines menschlichen Babys ist wie der Wurf eines Kükens aus dem Nest.
Beide sind dem Tode geweiht.
Wenn wir uns also die Frage stellen, warum die Gesellschaft sich verändert hat und die Jugendlichen nicht mehr so sind, wie sie es vor einigen Jahrzehnten noch waren, müssen wir nur einen Blick in ihre frühe Kindheit werfen. Denn nicht nur eine gestörte Reaktion auf Stress lässt sich von der fehlenden Bindung in dieser entscheidenden Zeit ableiten. Es gibt sogar Theorien, dass es einen Zusammenhang zwischen einem zu niedrigen Oxytocin-Spiegel in der Schwangerschaft und dem Auftreten von Autismus gibt. Seit man über diese Korrelation Bescheid weiß, versucht man, den betroffenen Menschen soziale Interaktionen durch die zusätzliche Einnahme des Hormons zu erleichtern oder die Entwicklungsstörung sogar zu heilen.
Oxytocin ist ein Kuschelhormon, es vermittelt den Kindern ein wunderbares Gefühl von Geborgenheit. Seine Ausschüttung verlangsamt die Atmung sowie die Herzfrequenz und löst Anspannung. Zusätzlich blockiert es die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, welches nachweislich das Immunsystem schwächt. Neben Cortisol werden auch die Schmerzrezeptoren im Rückenmark behindert. Deshalb ist es so effektiv, ein weinendes Kind, das sich verletzt hat, in den Arm zu nehmen und zu streicheln.
Außerdem fördert Oxytocin die Reifung der Synapsen im Gehirn und trägt damit zu einer erhöhten Gedächtnisleistung bei. Dieses erstaunliche Bindungshormon macht uns also nicht nur sozialer und bindungsfähiger, sondern gleichzeitig entspannter, gesünder, schmerzresistenter und sogar klüger.
Die erste Bindung unseres Lebens ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir müssen sie ganz einfach unseren Kindern schenken. Davon profitieren nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familie und die ganze Gesellschaft. Ob die Mutter, der Vater, die Oma oder notfalls auch ein Fremder diese Aufgabe übernimmt, ist hierbei nicht von Relevanz, solange das Kind ein Gefühl von Sicherheit verspürt.
Um das zu ermöglichen, sollte zunächst einmal den Eltern bewusstwerden, dass sie mit der Zeugung eines Kindes eine Verpflichtung eingehen.
Eltern übernehmen nichts Geringeres als die
Verantwortung für ein neues Leben.
Sollte das nicht mehr wert sein als
die nächste Gehaltserhöhung?
Niemand muss seine Karriere komplett an den Nagel hängen. Aber die Eltern sollten es so einrichten, dass sich in den ersten drei magischen Jahren intensiv um ihr Kind gekümmert wird. Wenn es möglich ist, sollten sie selbst in dieser Zeit weniger arbeiten. Ist dies nicht möglich, brauchen sie eine ausgezeichnete Fremdbetreuung, in der alle Bedürfnisse des kleinen Wesens erfüllt werden.
Wenn man diese Phase gut übersteht, kann man ein körperlich und seelisch gesundes Kind in die Welt entlassen. Ist es nicht das schönste Gefühl überhaupt, zu wissen, dass man einen neuen Menschen für die nächsten siebzig oder achtzig Jahre, die er auf dieser Welt verbringen wird, gut vorbereitet hat?
In Relation zur ganzen Lebensspanne sind diese drei Jahre nur ein kleiner Bruchteil, doch dieser ist wie der erste Stein eines Turmes. »Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen,« pflegte schon Aristoteles zu sagen.
Kinder sind die Basis der Gesellschaft.
Ihr eigenes psychisches und körperliches
Fundament bildet das aller Menschen.
Wir müssen unbedingt mehr auf ihr
Wohl achten.
Wir müssen die Zeit, die wir in sie investieren, für Eltern attraktiver gestalten. Der erste Schritt in diese Richtung wäre die fortlaufende Auszahlung des Lohns bis zum dritten Lebensjahr des Kindes. Denn selbst wenn sich eine Frau gerne der Erziehung ihres Kindes widmen, es beim Aufwachsen begleiten möchte und in dieser Rolle aufblühen würde, ist das aufgrund der sich immer weiter auflösenden Familienstrukturen heute oftmals nicht mehr möglich. Schließlich kann sich vor allem eine alleinerziehende Frau meistens nicht einfach mal so drei Jahre Vollzeit der Erziehung ihrer Kinder widmen, wenn sie weiterhin ein Dach über dem Kopf und regelmäßig ein warmes Essen auf dem Tisch haben möchte.
Ein Mensch, der an Krebs erkrankt, erhält über Jahre hinweg einen Teil seines Gehalts. Und dabei geht es um das Wohl eines Einzelnen. Da sollte es doch auch im Rahmen des Möglichen sein, einem neuen Erdenbürger, einem neuen Steuerzahler und einem neuen Mitglied der Gesellschaft einen bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglich. Zu seinem individuellen aber eben auch dem kollektiven Wohlbefinden! Denn dass diese Zeit magisch und von größter Bedeutung ist, hat die Wissenschaft schon lange erkannt. Nur in den Köpfen der Menschen muss sich der Schleier der Uneinsichtigkeit noch lichten.