Kapitel 1

Die schreckliche Normalität des Wahnsinns

Stellen Sie sich vor, Sie müssen drei Kinder gleichzeitig für einen Herbstausflug fertig machen. Ehe das letzte Fettröllchen in gestreiften Strumpfhosen verschwunden ist, alle drei ihre bunten Pullover und ihre Matschhosen sowie die gelben Regenstiefel von Oma übergestreift haben, zieht sich das erste Kind schon wieder aus, weil es die Lust am Abenteuer verloren hat. Wenn dann doch endlich alle drei ihre Regenjacken mit den sternförmigen Reflektoren bis zum Kinn zugezogen haben, auf jedem der drei Köpfe eine Haube mit lustigem Bommel sitzt und die finale Spielzeugsammlung eingepackt ist, will ein Mädchen ein Käsebrot, weil es am Abend zuvor das Essen verweigert hat, und ein Junge muss aufs Klo. So kann ein kleiner Ausflug zu viert schnell zu einer großen Herausforderung werden. Wenn Sie selbst Kinder oder Enkelkinder haben, haben Sie das sicher schon erlebt.

Nun stellen Sie sich bitte das gleiche Szenario mit 25 Kindern vor und ja, das erfordert Schnelligkeit, Empathie, Durchsetzungsvermögen, Erfahrung, Geduld und eine gewisse Leidensfähigkeit, ist aber dennoch der ganz normale Wahnsinn im täglichen Berufsleben von Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen. Wir machen das, und wir machen es gerne, auch wenn es tatsächlich an die Leistungsgrenzen gehen kann. Die Kinder verdienen es, dass jemand für sie da ist und sich um sie kümmert. Ob sie gerade anstrengend sind oder nicht, darf dabei keine Rolle spielen.

Jetzt stellen Sie sich vor, unter diesen 25 Kindern wäre ein verhaltensauffälliges. Es versteht nicht richtig, was hier vorgeht. Es ist unzugänglich für die Idee Herbstausflug. Es würde lieber weiter in seiner Ecke in der Gruppe sitzen und vor sich hinstarren und fängt angesichts der nun aufkommenden Veränderung zu schreien an. Es schreit nicht, wie Kinder mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten eben schreien, weil sie ihren natürlichen negativen Emotionen wie Wut, Ärger und Ablehnung Ausdruck verleihen wollen, sondern es schreit wie am Spieß. Es ist nicht zu beruhigen. Es schreit hysterisch und ist untröstlich.

Auch damit können wir umgehen. Verhaltensauffällige Kinder hat es schon immer gegeben. Je nach Art der Verhaltensauffälligkeit haben wir Strategien, um auch sie zu managen, selbst in Stresssituationen wie bei einem Aufbruch. Wir können den Extra-Raum und die Extra-Aufmerksamkeit, die sie brauchen, eigentlich nicht erübrigen, schaffen es aber trotzdem irgendwie.

Jedes Mal, jeden Tag. Ein solches Kind läuft in der Dynamik der Gesamtgruppe gewissermaßen mit. Auch die anderen Kinder lassen sich davon nicht irritieren. Wir schaffen das. Gemeinsam.

Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, in dieser Gruppe von 25 Kindern gäbe es nicht nur ein solches Kind, sondern noch zwei weitere, die genauso auf den Aufbruch reagieren und noch einige andere mit anderen diagnostizierten oder nicht diagnostizierten Verhaltensauffälligkeiten sowie diversen Entwicklungsverzögerungen. Der Aufbruch verzögert sich. Die ersten angezogenen Kinder fangen unter ihren Hauben an zu schwitzen, während ein Junge, der nie gelernt hat, seine basalen Bedürfnisse auszudrücken, aufs Klo muss, und nun unversehens Urin von dem Windrad tropft, das im Topf des Gummibaumes im Gruppenraum steckt.

Noch bevor seine Aktion in den Mittelpunkt des Interesses rücken kann, brüllt ein anderer Junge eine gefährliche Drohung durch den Raum und seine sich überschlagende Stimme und sein kalkweißes, verzerrtes Gesicht vertreiben jeden Zweifel daran, dass er es ernst meint. »Ich hasse dich«, schreit er. »Ich bringe dich um!«

Ein hölzerner Sessel fliegt durch den Gruppenraum, der auf der Stirn eines Kindes eine blutige Wunde hinterlässt, während ein anderes Mädchen weint, bis es sich vor Erschöpfung übergibt, ehe es sich, sich selbst umklammernd, in den Schlaf zu wiegen versucht.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Pädagogin und wie ich, zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse, noch neu im Job. An Ihrem ersten Arbeitstag hat Ihnen Ihre Vorgesetzte wortlos eine Gruppe von 25 Kindern übergeben, die mit den engelsgleichen Wesen aus den elementarpädagogischen Lehrbüchern nicht das Geringste zu tun haben. Jetzt befinden Sie sich in der Mitte dieses Wahnsinns aus Schweiß, Urin, Blut, Tränen und Erbrochenem. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen erscheint Ihnen Ihre Aufgabe unerfüllbar. Sie sind selbst den Tränen nahe und würden am liebsten Ihren Mantel nehmen und die Gruppe sich selbst überlassen.

Sie fangen an, nachzudenken. Sie fragen sich, wie Sie auch nur einen weiteren Tag hier überstehen sollen. Denn Sie sind auf das Verhalten der Kinder vorbereitet, nicht aber auf ihre multiplen Verhaltensauffälligkeiten, die Sie hier vorgefunden haben und die einen nennenswerten Teil der Kinder weitgehend unkalkulierbar in ihren Reaktionen machen. Sie können sich nicht vorstellen, dass zunehmende Erfahrung die Situation wesentlich verbessern wird.

Denn der Wahnsinn, den Sie hier vorgefunden haben, ist im Wortsinn unfassbar. Er lässt sich kaum einordnen, nicht voraussehen und damit auch nicht managen. Es sei denn, es stünden für so eine Gruppe mindestens sieben Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen zur Verfügung.

Sie hadern mit dem Schicksal und entwickeln Verschwörungstheorien darüber, warum ausgerechnet Sie so eine Problemgruppe bekommen haben. Als Sie am Abend Ihres ersten Tages mit einer Kollegin sprechen, nickt sie verständnisvoll und bedauernd. »Der erste Arbeitstag ist immer hart. Die Neuen bekommen aber die leichteren Gruppen«, sagt sie. »Wir wollen sie nicht gleich komplett überfordern oder lass es mich anders ausdrücken: Dass wir sie überfordern, ist ohnedies klar, auch wir selbst gehen jeden Tag an unsere Grenzen. Aber wir wollen es ihnen so leicht wie möglich machen und versuchen, sie so gut es geht zu unterstützen.«

Sie begreifen es mit Schrecken: Der Wahnsinn scheint hier ganz normal zu sein.

Fragen über Fragen

Genauso ist es mir an meinem ersten Arbeitstag als Elementarpädagogin ergangen und genau das habe ich erfahren. Ich war nicht Teil einer Sozialstudie unter Extrembedingungen, bei der nicht informierte Probandinnen und Probanden am Ende zur Belohnung eine Reise nach Teneriffa bekommen. Es war kein Spuk, kein Albtraum, der auch wieder vorübergeht, um einer erträglichen Alltagsroutine Platz zu machen. Das hier war bereits der Alltag und die einzige Chance, die ich offenbar hatte, war zu lernen, mit täglichen Herausforderungen und Unvorhersehbarem umzugehen. Als ich noch zur Schule ging, gab es in einer Klasse ein übergewichtiges Kind, das es besonders schwer hatte. Jetzt gibt es viele übergewichtige und unsportliche Kinder, es ist leider normal geworden. Genauso ist das mit den Verhaltensauffälligkeiten oder Entwicklungsverzögerungen. »War es früher ein einzelnes verhaltensauffälliges Kind, sind es heute viele, und es werden von Jahr zu Jahr mehr«, sagte meine Kollegin zu mir.

Diese Gruppe, die meiner Einschätzung nach »abnormaler« kaum hätte sein können, war also in Wirklichkeit eine ganz »normale«. Ich konnte es kaum glauben und trotzdem war es die Realität. Fragen schwirrten mir durch den Kopf, Fragen, auf die mir meine langjährige Ausbildung keine Antworten mitgeliefert hatte. Fragen, die sich um die Ursachen dieser offensichtlichen Krise, die momentane Bewältigung und die zutiefst beunruhigende Zukunft drehten:

Auf der Suche nach den Wurzeln

Ich selbst hatte eine schöne Kindheit. Meine Eltern haben mich von Anfang an unterstützt. Sie haben uns Geschwister nie miteinander verglichen und keinen Konkurrenzdruck zwischen uns aufgebaut. Mir standen alle Türen offen und ich konnte mich frei entscheiden, wie ich mein Leben gestalten wollte, das haben sie mir früh vermittelt. Ich hatte genug Freiheiten, genug Freundinnen und Freunde und genügend Freizeit – selbstverständlich auch Regeln. Vor allem hatte ich eine Mutter und einen Vater, an die ich mich immer mit meinen Problemen wenden konnte, und von denen ich wusste, dass sie immer gemeinsam mit mir nach Lösungen suchen würden.

Meine Eltern, die meine ausgeprägte soziale Ader erkannten, waren es auch, die mir statt des Besuches eines gewöhnlichen Gymnasiums bis zur Matura die Ausbildung zur Elementarpädagogin nahelegten. Wenige Jahre später hatte ich mein Maturazeugnis. Meine Ausbildung war abgeschlossen und ich hatte große Träume. Vielleicht eine Weltreise oder doch lieber studieren? Es wurde dann weder das eine noch das andere, vielmehr stürzte ich mich direkt ins Berufsleben. Ein Maturazeugnis und die damit verbundene Studienberechtigung hatten schließlich kein Verfallsdatum und es reizte mich, mein erlerntes Wissen in der Praxis anzuwenden. Ich wollte mit Kindern arbeiten. Für sie da sein. Sie begleiten und fördern. Als ich feststellte, um wie viel anstrengender dieser Job war, als ich als idealistische Studentin gedacht hatte, gab ich dennoch nicht auf. Jeden Tag aufs Neue gab ich alles, um das Beste aus den Kindern herauszuholen.

Ich setzte mich mit den Kindern auseinander und versuchte, auf jedes einzelne einfühlsam und individuell einzugehen. Zum Beispiel auf Sophie, dem Mädchen, das an meinem ersten Arbeitstag so lange geweint hatte, bis es sich vor Erschöpfung übergeben hatte. Sie wollte sich nicht von ihren Eltern trennen. Das war ihr Problem. Sie hatte panische Angst davor, ohne sie im Kindergarten zu bleiben. Doch was sollten die Eltern tun? Sie mussten zur Arbeit und überließen Sophie meiner Obhut.

Ein halbes Jahr lang wiederholte sich das gleiche Ritual. Sie weinte, bis sie sich übergab. Dabei blieb sie unnahbar. Sophie ließ keine Berührungen zu.

Obwohl in der Gruppe so viele Kinder mit großen Problemen waren, gab ich nicht auf. Ich probierte jeden Tag aufs Neue, sie zu beruhigen und in die Gruppe zu integrieren. Dabei sorgte ich dafür, dass immer etwas in ihrer Nähe war, auf dem sie schaukeln konnte. Schaukeln beruhigte Sophie, das hatte ich beobachtet. Nach einem halben Jahr normalisierte sich ihr Verhalten. Das motivierte mich. Diesen Kindern, die als Problemfälle zur Welt gekommen zu sein schienen, war also zu helfen.

Das erste Feuer

Katharina Angerer, jene Pädagogin mit dreißig Jahren Berufserfahrung, nickte, als ich ihr davon erzählte. »So haben wir alle angefangen, mit einer Menge jugendlichem Schwung«, sagte sie. »Bloß erfordert das ein Maß an Selbstausbeutung, das sich auf Dauer nicht durchhalten lässt.«

Deshalb arbeite sie selbst seit acht Jahren nur noch in Teilzeit, erzählte sie mir. Und zwar nicht, weil sie so viele Ideen für ihre Freizeitgestaltung habe. Vielmehr sei die ganz normale Arbeitsbelastung von Elementarpädagoginnen vielleicht für hoch motivierte Berufseinsteigerinnen zu stemmen. Aber wenn einmal das erste Feuer vorüber sei, drohe rasch das Burnout.

Eine Analyse und ein typischer Bewältigungsmechanismus, was mir inzwischen viele Kolleginnen und Kollegen bestätigt haben. Auch solche, die schließlich ganz aufgaben und das Betätigungsfeld wechselten.

Ich schaffte es jedenfalls mit meinem jugendlichen Schwung, mir weiterhin Kraft aus kleinen Erfolgserlebnissen zu holen. Unter anderem von dem Jungen, der an meinem ersten Tag in die Zimmerpflanze uriniert hatte. Er konnte noch immer nicht selbstständig die Toilette benutzen, obwohl er es seinem Alter entsprechend längst hätte können müssen. Nach einer Menge weiterer Windeln und nasser Hosen war auch das geschafft.

Was ich mit diesen Beispielen zeigen will: Die Kinder kommen aus den Familien anders bei uns an, als wir in unserer Ausbildung darauf vorbereitet werden. Sie sind anders, als das in der Zeit meiner eigenen Kindheit der Fall war. Die Arbeit mit ihnen ist schwieriger als erwartet, aber sie lohnt sich. Das war mein erstes Zwischenresümee.

Der gefährliche leichte Weg

Nachdem ich einem Jungen erklärt hatte, dass Sessel nicht dafür da sind, durch die Luft geschossen zu werden, und einem anderen, was eine Morddrohung ist und wie sie bei anderen ankommt, begann ich mich zu fragen, ob hier wirklich die Kinder das eigentliche Problem waren. Irgendwo, dachte ich, mussten diese extremen Verhaltensweisen doch ihre Wurzeln haben. Und bei einem Kleinkind ließen sich die möglichen Ursachen relativ gut eingrenzen, weil die Zahl an Menschen, mit denen sie Kontakt haben, von denen sie lernen und von denen sie sich vieles abschauen, doch sehr begrenzt ist.

Rasch landete ich bei den Eltern. Immerhin waren zuallererst sie für die positive Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich. Sie hatten ihnen beizubringen, weder andere noch sich selbst zu verletzen. Auch zu letzterem neigten leider einige Kinder in meiner Gruppe. Von den Eltern sollten sie lernen, das Klo zu benutzen, sie hatten ihnen Regeln beizubringen und Grenzen zu setzen. Und sie hatten ihnen ein Gefühl der Sicherheit und des Selbstvertrauens zu geben, aus dem sie auch in ihrer Abwesenheit schöpfen konnten.

Ich stellte bei ihnen eine Art Gegenbewegung zu ihrer eigenen Erziehung fest, die bei den meisten noch eher autoritär gewesen war. Während sie selbst noch strenge Eltern gehabt und darunter tendenziell gelitten hatten, wollten sie nun in der Beziehung mit ihren Kindern die Guten sein. Sie wollen nicht streng sein, sie wollen nicht diskutieren, und sie wollen nicht Nein sagen müssen. Sie wollen sich offen und tolerant zeigen. Und übersahen dabei eine feine, aber wichtige Grenze.

Denn falsche Verhaltensweisen durchgehen zu lassen und nicht darauf zu reagieren, war meiner Ansicht nach pädagogisch weder wertvoll noch sinnvoll. Es konnte auch bedeuten, den leichteren Weg zu wählen, Verantwortung nicht zu übernehmen und die Erziehung der Kinder anderen zu überlassen, dem Kindergarten zum Beispiel und den Schulen.

Irgendjemand muss die Erziehung schließlich übernehmen, dachte ich. Denn genauso, wie sich Erwachsene an Regeln halten müssen, müssen das auch die Kleinsten tun, und das zu erlernen, ist nun einmal ein Prozess. Wenn sie die Zuständigkeit dafür an andere abgaben, um in ihrer eigenen Wahrnehmung perfekte Mütter und Väter zu sein, schadeten sie ihren Kindern in Wirklichkeit mehr, als sie ihnen nutzten.

Unter Druck

Bald erkannte ich, dass dies nur die Spitze eines Eisberges vieler Ursachen war, die zu den dramatischen Fehlentwicklungen unter den Kleinsten führten, und dass es viel zu kurz gegriffen wäre, den Eltern die alleinige Schuld daran zuzuschieben. Denn ich erkannte, dass viele Eltern die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder nicht der Einfachheit halber an andere abgaben, sondern weil die Art und Weise, wie wir uns als Gesellschaft organisiert haben, und die politischen Rahmenbedingungen, in denen sie sich für Kinder entschieden hatten, ihnen letztendlich keine andere Wahl ließen.

Je mehr mich der tägliche Druck, das Kinderchaos zu bewältigen, selbst belastete, und je mehr ich miterlebte, was der Druck mit älteren Kolleginnen und Kollegen bei gleichzeitiger mangelnder gesellschaftlicher Wertschätzung machte, desto klarer wurde mir: Das Problem ist viel zu groß und viel zu sehr strukturell bedingt, als dass Einzelkämpferinnen und -kämpfer eine Chance haben.

Wir leben in einer Welt, in der sich selbst Durchschnittsverdiener entscheiden müssen, entweder in Vollzeit arbeiten zu gehen oder an der Armutsgrenze zu schrammen, besonders, wenn es sich um Alleinerzieherinnen oder Alleinerzieher handelt. Wir leben in einer Welt, in der die meisten Menschen sich schmerzhaft zwischen existenziellen Sorgen und dem Hintanstellen der Kinder entscheiden müssen. Was tun? Zuallererst bräuchten wir endlich politische Reformen, und dafür lohnt es sich zu kämpfen. Anders werden sich die Probleme, die fast alle Kindergärten gleichermaßen betreffen, nicht lösen. Denn es kommt noch einiges erschwerend dazu: der durch die Inflation ständig wachsende wirtschaftliche Druck auf die Familien, der Einfluss der Digitalisierung, oder auch negative Umwelteinflüsse und eine zunehmend falsche Ernährung mit viel zu vielen hochverarbeiteten Lebensmitteln. Davon war ich bald überzeugt.

Die Gewerkschaft wurde auf mich aufmerksam und stellte mich vor eine schwierige Entscheidung: politisches Engagement für Kinder oder tägliche Arbeit mit Kindern? Ich sah, wie sehr die Kinder helfende Hände brauchten und wie sehr solche Hände an allen Ecken und Enden fehlten.

Wenn ich tatsächlich zwei oder drei Kinder mit aufmerksamer, empathischer Hilfe in ihrem Leben weiterbringen konnte, und sei es auch nur ein kleiner Schritt, war dies vielleicht ein größerer Gewinn als jede politische Brandrede, dachte ich. Andererseits sah ich in anderen Regionen, in Skandinavien zum Beispiel, dass kinderfreundlichere politische Strukturen sehr wohl durchsetzbar sind. Ich begriff, dass eine solche Politik nicht nur zwei oder drei Kindern helfen würde, sondern zehntausenden, hunderttausenden.

Stark für die Schwachen

Lange wog ich ab, doch schließlich entschied ich mich für die politische Ebene, um dort für eine bessere Welt für die Kleinsten sowie für bessere Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten zu kämpfen, denn sie haben sich dies verdient.

In dieser Rolle konnte ich endlich meinen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ausleben, der meinen Eltern früher so manches Mal Kopfzerbrechen bereitet hatte. Jetzt war genau das gefragt, jetzt kam es genau darauf an. Darauf, mich für die Schwachen stark zu machen und den Stimmlosen eine Stimme zu geben. Jetzt bewertete das meine Umgebung nicht mehr als frech oder aufmüpfig, sondern als engagiert für die gute Sache. Meine soziale Ader, die meine Eltern früh entdeckt hatten, führte mich auf diese Weise über die Kinder und deren Eltern in die Politik.

Hier stehe ich nun, mit beiden Beinen in einer Organisation, die nach Lösungen sucht, die für die Rechte der Kleinsten und der Beschäftigten in den ersten Bildungseinrichtungen einsteht und für Veränderung kämpft. Und das ist unglaublich schwierig. Denn vor mir bauen sich düstere Szenarien auf, besonders dann, wenn ich mit den Kolleginnen und Kollegen in den Kleinkindgruppen, Kindergärten und Horten spreche. Denn für sie wird das Leben nicht leichter. Der Druck, für Kinder da sein zu müssen, die auf immer vielfachere Weise verhaltensauffällig sind, wird immer größer. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, dieses Tabu tatsächlich zu Fall zu bringen und offen zu zeigen, was vor Ort wirklich passiert: in den Kindergärten, wo die künftigen Generationen ihren Weg durchs Leben beginnen. Die ganze Wahrheit über den Zustand unserer Kinder mag erschreckend und beängstigend sein, aber nur wenn wir hinschauen, haben wir auch die Möglichkeit, etwas für sie zu tun sowie zu verändern – im Sinne aller.

Pädagoginnen schlagen Alarm

In die Kindergärten kommen heute Mädchen und Buben, die zu einem hohen Anteil verhaltensauffällig und entwicklungsverzögert sind und die daheim nicht mehr gelernt haben, Regeln einzuhalten, Grenzen zu akzeptieren, sich alleine zu beschäftigen, etwas Angefangenes zu Ende zu führen, sich gegenseitig zu unterstützen oder sich um andere zu kümmern. Offensichtlich waren die Eltern mit der Erziehung ihrer Kleinkinder überfordert und gaben diese Aufgabe an die Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen ab.

Das hatte mein erster Blick auf das chaotische System namens Kindergarten ergeben. Aus meiner politischen Sicht besteht das Hauptproblem darin, dass die Beschäftigten diese Aufgabe nicht meistern können, selbst wenn sie das wollen. Nicht alle haben eine sonderpädagogische Ausbildung, dazu kommt, dass es insgesamt viel zu wenig pädagogisches Personal in den ersten Bildungseinrichtungen gibt. Denn um all diese Probleme zu managen, müssten auf 25 Kinder mindestens fünf, besser noch acht Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen kommen.

Wenn Pädagoginnen und Pädagogen bis zu 25 Kinder, von denen jedes einzelne auch seine ganz normalen individuellen Bedürfnisse und spezifischen Ansprüche mitbringt, alleine »betreuen« müssen, sind sie chancenlos.

Hier haben wir aber auch schon das nächste Problem, denn der Kindergarten ist keine Betreuungsstätte für die Kleinsten. Er ist die erste Bildungseinrichtung im Leben eines Menschen, wo Mädchen und Buben ganzheitlich gefördert sowie auf die Schule vorbereitet werden. In der Realität des Kindergartenalltags müssen wir auch Regeln aufstellen und »erziehen«. Wir haben es aber zunehmend mit Kindern zu tun, die vor ein bis zwei Jahrzehnten noch alle als »schwer erziehbar« gegolten hätten und deshalb an für sie vorgesehene Sondereinrichtungen übermittelt worden wären.

Dennoch gelingt es uns als Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen nicht, die Dinge einfach schleifen zu lassen und mangels Alternativen nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen. Dafür ist die uns übertragene Aufgabe zu wichtig. Die Entwicklung der Kinder liegt uns am Herzen, sonst würden wir diesen oft schlecht bezahlten Job gar nicht machen.

Wir wissen, wie wichtig es gerade in den ersten drei Lebensjahren für Kinder ist, sich gewisse Grundkompetenzen anzueignen und bestimmte Verhaltensweisen zu verinnerlichen. Tun sie das nicht, ziehen sie ein ganzes Leben lang einen Rattenschwanz an Problemen hinter sich her.

Wenn sie den Kindergarten verlassen und in die Volksschule eintreten, müssen bei ihnen ganz »normale« menschliche Grundkompetenzen bereits angelegt sein, damit die Lehrkräfte darauf aufbauen können. Sind sie das nicht, haben die Lehrerinnen und Lehrer noch viel schlechtere Chancen, etwas nachzuholen, als wir Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen. Es geht entweder gar nicht oder es ist so zeitintensiv, dass sie dann erst recht überfordert sind. Gerade in einer Welt, die immer schnelllebiger wird, haben Volksschullehrerinnen und Volksschullehrer keine Zeit, Kindern zu zeigen, wie ihre Gliedmaßen funktionieren, wie sie eine Toilette benutzen oder wie sie Schuhbänder binden.

No Future?

Die hauptsächliche Aufgabe der Lehrkräfte ist es vielmehr, dem Lehrplan zu folgen und Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln. Wenn Kinder schon bei diesem Stoff nicht mitkommen, aus Unfähigkeit, sich länger als zwei Minuten auf etwas zu konzentrieren, aus Verweigerung von allem, das sie nicht kennen oder aus einem wie auch immer gearteten inneren Leidensdruck heraus, wird es sehr schwierig.

Wenn dann keine intensive Unterstützung seitens der Eltern kommt, scheitern die schulischen Laufbahnen dieser Kinder, noch ehe sie richtig begonnen haben. Vielleicht schummeln sie sich durch die Grundschule noch irgendwie durch, aber spätestens dann häufen sich auch die schulischen Probleme und die oft damit verbundenen schlechten Noten. Selbst wenn sie über Talente verfügen, und das tun alle Kinder, haben sie keine Chance, sie während ihrer schulischen Laufbahn zu erkennen, zu entwickeln und hinterher in ihrem Berufsleben darauf aufzubauen. Anders ausgedrückt: Wenn die Eltern und das Bildungssystem hinschauen, die Probleme mit den neuen Generationen von Kindern erkennen sowie akzeptieren und sich gemeinsam mit den Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in dieser Schlüsselphase des Lebens für die Kinder einsetzen, lässt sich manches vielleicht noch verbessern. Wenn nicht, dann stranden diese Generationen im Leben, ehe die Reise ihres Lebens richtig begonnen hat. Das hat Folgen und wir alle bekommen in zehn oder spätestens zwanzig Jahren die Rechnung für unsere Untätigkeit präsentiert.

Denn diese Kinder haben später weder die Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, noch eine Lehre zu beginnen. Selbst wenn sie die Auswahlprozesse dafür meistern würden, wäre es mehr als fraglich, ob sie die Ausbildung dann erfolgreich abschließen könnten. Viel wahrscheinlicher wäre es, dass es ihnen dafür an Biss mangelt. Die meisten von ihnen würden in den Abwärtsstrudel negativer Rückmeldungen kommen und am Ende lieber arbeitslos daheimbleiben und an ihren Handys hängen, um mit dieser Welt nichts zu tun haben zu müssen.

Für Jobs kämen sie nicht mehr infrage, selbst wenn sie sich für einen interessieren würden. Die gleichen Verhaltensmuster, die sie in der Schule scheitern ließen, würden sie auch im Berufsleben scheitern lassen. Nach einigen kläglichen Versuchen wäre es dann wohl auch vorbei mit dieser Laufbahn für sie.

Die Horde der Einzelgänger

Was für eine Gesellschaft entsteht, wenn solche Kinder erwachsen werden? Wer das Elementarpädagoginnen und -pädagogen fragt, bekommt eine Antwort, die perspektivisch verzerrt sein mag, die sich wie eine Dystopie anhört und zu der doch sehr viele dieses Berufsstandes kommen, egal ob sie in Brennpunktkindergärten oder in bürgerlichen Gegenden arbeiten, in denen die Welt auf den ersten Blick noch heil zu sein scheint. Es ist fraglich, wie lange die Gesellschaft, wie wir sie heute kennen, noch besteht. Wenn es weitergeht wie bisher, kann sie nur zerfallen. Denn in den Kindergärten können wir schon jetzt sehen, dass sich die Bevölkerung weg von einer solidarischen Gemeinschaft hin zu einer Horde engstirniger und egoistischer Einzelgänger verwandelt. Mit dem Heranwachsen dieser problematischen Kinder wird sie früher oder später nur noch aus Menschen bestehen, die ausschließlich auf sich selbst bezogen sind, die keine Bildung genießen durften und die ihr Leben einfach nicht in den Griff bekommen. Wer sich darauf verlässt, dass diese Kinder eines Tages in der Lage sind, die heutigen Generationen der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen mit ihrer volkswirtschaftlichen Gesamtleistung zu versorgen, ist deshalb schlecht beraten. Sie werden weder Lust dazu haben, noch dazu in der Lage sein.

Was ist, wenn eine heute gesunde Frau in dreißig Jahren auf eine Pflegekraft angewiesen ist? Ohne die nötige Ausbildung können gewisse Jobs nicht mehr besetzt werden, außer es läuft darauf hinaus, dass unqualifizierte Menschen die Arbeit übernehmen. Dann kann ein jeder nur noch hoffen, bis ins hohe Alter keine gesundheitlichen Probleme zu haben oder früh zu sterben.

Die ersten Lebensjahre sind ausschlaggebend für die Entwicklung. Nicht nur für die Entwicklung des Einzelnen, sondern für die der gesamten Nation. Diese Kinder sind keine Versuchsobjekte, sondern die Stützen der Gesellschaft. Und diese bröckeln derzeit gewaltig. Wenn das nicht bald ernst genommen und richtig gefördert wird, ist es vielleicht schon bald zu spät. Deshalb muss sich etwas ändern. Und zwar in den Köpfen der Eltern, in den Bildungseinrichtungen der Kinder und vor allem in den Institutionen der Politik.