Um zu verstehen, was hier eigentlich schiefläuft und was wir dagegen machen können, schauen wir uns zunächst einmal an, was Kinder eigentlich für eine gesunde und geglückte Entwicklung brauchen. Sie brauchen zuallererst ihre Eltern, sie brauchen andere Kinder, sie brauchen eine Gemeinschaft – das sprichwörtliche Dorf. Und sie brauchen eines ganz sicher nicht: leuchtende Bildschirme und Handys im Dauereinsatz. Das stresst sie nämlich noch mehr als uns.
Aber alles der Reihe nach. Beginnen wir mit dem Moment, in dem ein Kind das Licht der Welt erblickt und noch nichts ahnt von all den Problemen, die wir hier ansprechen.
Babys sind sozial. Sie strahlen uns an, wenn wir sie anlachen oder Grimassen machen. Sie drehen ihren Kopf weg oder gähnen, wenn es ihnen zu viel wird und sie lieber ihre Ruhe haben wollen. Schon Säuglinge interagieren also mit anderen Menschen und übermitteln mit diesen subtilen Zeichen erste Emotionen. Allerdings scheint es in dieser frühen Phase noch nicht von Bedeutung zu sein, ob sie vom Vater bespaßt, von der Oma gefüttert oder von einem oder einer Fremden in den Schlaf gesungen werden. Zumindest haben sie zu diesem Zeitpunkt noch keine eindeutigen Präferenzen und zeigen oft wenig Reaktion, wenn sie von den Eltern getrennt werden.
Das ändert sich spätestens in der Phase des »Fremdelns« mit circa acht Monaten, in der sie sich stark auf eine Bezugsperson fixieren. Jetzt können sie ihre Mama eindeutig von einer ihnen unbekannten Frau unterscheiden und machen klar ersichtlich, dass sie mit ihrem Verschwinden ein Problem haben. Diese primäre Bindung, die in vielen Fällen zur Mutter aufgebaut wird, ist zum einen entscheidend für die Bildung des Urvertrauens und zum anderen ist sie von enormer Wichtigkeit für die Entwicklung emotional-sozialer Kompetenzen. So lassen sich bei Kindern, die eine sichere erste Beziehung erfahren durften, ein angenehmeres Sozialverhalten, eine gesteigerte Aufmerksamkeitsspanne und ein aufgeschlosseneres Auftreten beobachten. Zusätzlich entwickeln sie ein größeres Selbstwertgefühl, leiden seltener an Depressionen und verhalten sich auch sonst psychologisch unauffälliger. Zumindest zeigen Studien aus verschiedenen Ländern, dass Kleinkinder, die ausschließlich in der Obhut ihrer Mutter aufwachsen, später ein niedrigeres Aggressionspotential aufweisen als jene, die schon ab einem frühen Zeitpunkt viele Stunden täglich fremdbetreut werden. Außerdem konnten bei diesen Kindern geringere Cortisolwerte gemessen werden. Sie sind also nachweislich weniger gestresst.
Da es für viele Eltern allerdings keine Option darstellt, mehrere Jahre daheim zu bleiben, um ihr Kind Vollzeit zu betreuen, beschränkt sich die Familienzeit häufig ausschließlich aufs Wochenende. In diesem Fall ist es dann umso wichtiger, dass diese Tage möglichst bewusst und intensiv genutzt werden. Ganz nach dem Motto: Qualität vor Quantität. Dabei geht es nicht um teure Geschenke oder exorbitante Ausflüge, sondern schlichtweg um die Zuwendung und die wirklich ungeteilte Aufmerksamkeit, die wir den Kindern entgegenbringen. Denn es macht einen Unterschied, ob ich dem Kind ein Hörbuch einschalte oder mich mit einem Buch zu ihm ans Bett setze und ihm die Geschichte vorlese. Ob ich es alleine in den Garten schicke oder zusammen mit ihm in den Park gehe und Kastanien sammele. Oder ob ich ihm auf dem Weg von der Arbeit einen Kuchen kaufe oder ihn zusammen mit ihm backe.
Gerade bei der gemeinsamen Zubereitung des Essens werden viele ihrer Sinne angesprochen und sie werden in allerlei Bereichen geschult. Da müssen zunächst Zutaten abgewogen und verknetet werden, der klebrige Teig muss von den Fingern gekratzt und in der Form verteilt werden. Und dann muss geduldig gewartet werden, um schließlich mit Fingerspitzengefühl die letzte Kirsche auf die Schlagobershaube zu setzen. Und selbst wenn der Kuchen am Ende nicht so gut schmeckt wie die Torte aus der nächsten Bäckerei, hat das Kind mindestens doppelt so viel davon.
Auch wenn es verlockend und in den meisten Fällen sicherlich nur gut gemeint ist, soll die Freizeit nicht von Anfang bis Ende durchgetaktet sein. Es ist genauso wichtig, den Kindern bewusste Phasen der Ruhe zu ermöglichen. Ansonsten kann erstens das Erlebte nicht verarbeitet werden und zweitens gewöhnen sich Kinder bald an dieses Maß an Aufregung und Animation, weshalb sie es dann irgendwann ständig benötigen. Für die meisten Fünfjährigen ist es mittlerweile zur Normalität geworden, am Dienstag beispielsweise zum Fußball zu gehen, am Mittwoch die Musikstunde zu besuchen und am Donnerstag in der Theaterprobe präsent zu sein. Doch so eine zugepflasterte Woche ist nicht nur körperlich anstrengend, sondern kann außerdem eine ähnliche Reizüberflutung wie die übermäßige Benutzung eines Handys auslösen. Kinder brauchen neben ihren Eltern vor allem auch Phasen der Ruhe. Für Spaß und Action sorgen sie im Normalfall auch selbst.
Ab dem ersten Geburtstag kann der Kreis der Bezugspersonen allmählich erweitert werden. Kleinkinder entwickeln zu anderen Menschen wie den Großeltern ebenfalls intensive Beziehungen und sammeln besondere Erinnerungen. Aber sie werden für sie niemals den gleichen Stellenwert einnehmen wie die primäre Bindungsperson, die die Spitze der Bindungspyramide bildet. Sie ist weiterhin der Mensch, der dem Kind den meisten Komfort bietet und bei dem es sich sicher genug fühlt, um verschiedene Gefühlsregungen wie Wut, Trauer oder Angst zu zeigen. Viele Eltern kennen das: Bei Oma und Opa oder bei Freundinnen und Freunden ist das Kind ganz ruhig und umgänglich, zuhause bei Mama und Papa wird es quengelig und weint mehr. Das liegt daran, dass es sich hier sicher genug fühlt, sich entspannt und zeigen kann, wie es ihm gerade geht. Und negative Emotionen gehören nun einmal ganz natürlich zu unserem Leben dazu. Da müssen alle Eltern durch.
Im Alter von zwei Jahren fangen Kinder langsam an, das eigene Ich zu entdecken, sind dabei aber noch vollkommen auf sich selbst und ihre individuellen Emotionen fokussiert. Außerdem startet in dieser Phase die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz, weshalb Gefühle nun auch verbal übermittelt werden können. Zeitgleich beginnt das Kind erstmals, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten, was den ersten Schritt in der Selbstständigkeitsentwicklung darstellt. Statt von der Trotzphase sprechen wir in der Pädagogik heute von der Autonomiephase, um zu zeigen, dass wir das neu erwachte kindliche Machtbestreben nicht negativ bewerten sollen. Wir alle brauchen schließlich Autonomie, um selbstbewusst und stark durchs Leben gehen zu können. Entscheidend ist, wie wir als Erwachsene mit der Rebellion der Kleinen umgehen: Geben wir dem Kind Freiraum zur Gestaltung und zeigen ihm trotzdem Grenzen auf?
Erst ab circa dem dritten Lebensjahr werden Gleichaltrige dann so richtig interessant. Davor wird, auch wenn die Möglichkeit besteht, selten miteinander, sondern eher nebeneinander gespielt. Ab diesem Zeitraum können auch die ersten Freundschaften entstehen, die manchmal nur für die Dauer eines Spiels, manchmal über mehrere Jahre anhalten. Und obwohl diese freundschaftlichen Beziehungen meist nicht das ganze Leben lang bestehen, prägen sie es nachhaltig.
Denn in dieser Zeit fangen Kinder an, zwischen ihren eigenen und den Gefühlen anderer zu differenzieren, die Emotionen anderer zu erkennen, sich in sie hineinzuversetzen und wenn nötig uneigennützig zu handeln. In dieser ersten eigenständigen Abgrenzung von einer erwachsenen Bezugsperson erleben sie Misserfolge, Enttäuschungen und Konflikte. Aber vor allem lernen sie, wie diese Situationen gehandhabt werden und Streitigkeiten wieder gelöst werden können. Denn auch Streiten will gelernt sein! Wenn das nicht der Fall ist, werden Spielzeuge ungefragt entrissen, die Zähne in anderen Kinderarmen vergraben oder es wird scheinbar grundlos auf Betreuungspersonen losgegangen. Im Gegensatz dazu zeugen Kinder, die freundschaftliche Beziehungen pflegen, von einem hohen Maß an Altruismus, Optimismus, Mut und moralischem Verständnis.
Und auch sonst kann die kindliche Entwicklung grundsätzlich von einem Umfeld, wie es im Kindergarten gegeben ist, profitieren. Einen wichtigen Punkt bildet dabei die Bewegung, die ansonsten heutzutage bei vielen Kindern zu kurz kommt. Denn abgesehen davon, dass ausreichend sportliche Betätigung Übergewicht und den damit einhergehenden Krankheiten entgegenwirkt, entwickeln sich regelmäßig Sport treibende Kinder nicht nur in Hinblick auf die motorischen Fähigkeiten besser als jene, die die meiste Zeit auf der Couch verbringen. Auch die sozial-emotionalen Kompetenzen profitieren davon, wenn auch nur in geringem Ausmaß.
Der weitaus größte Unterschied lässt sich auf kognitiver Ebene feststellen. Denn sowohl beim Erstlesen, Rechnen und Schreiben als auch bei der Sprachentwicklung erzielen aktive Kinder in der Regel höhere Werte. Bei Tierversuchen konnte sogar nachgewiesen werden, dass aktivere Ratten mehr Nerven im Gehirn bilden als ihre faulen Freunde.
Andere Kinder, das gemeinsame Spiel, das Streiten-Lernen und die tägliche Bewegung tun Kindern also gut. Heutzutage besuchen bei uns fast alle Kinder ab drei Jahren den Kindergarten, viele schon weitaus früher. Was ist also der Grund dafür, dass trotzdem immer mehr Kinder besorgniserregende Verhaltensauffälligkeiten zeigen?
Weil Gleichaltrige und eine Turnhalle nun einmal nicht ausreichen, um den Kindern die Umgebung für eine optimale Entwicklung zu schaffen. Es müssen noch ganz andere Faktoren erfüllt werden und dabei mangelt es in den meisten Bildungseinrichtungen an einer Sache ganz besonders – dem Faktor Zeit.
Das beginnt schon in der Eingewöhnungsphase, die bei jedem Kind unterschiedlich lange dauert und im Maße der Intensität variiert. Viele Eltern können es sich schlichtweg nicht leisten, jeden Tag über Wochen hinweg mehrere Stunden im Kindergarten zu verbringen und auch von Seiten der Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen ist es nicht möglich, sich über einen vorher nicht einschätzbaren Zeitraum ausschließlich auf die Bedürfnisse eines einzelnen Kindes zu fokussieren. Schließlich gibt es genug andere Kinder, deren Bedürfnisse ebenfalls nicht vernachlässigt werden dürfen. Selbst wenn diese kritische Phase erfolgreich gemeistert wird, benötigen gerade die Kleinsten viel emotionale Fürsorge und intensive Eins-zu-eins-Betreuung.
Doch bei einer Gruppe, in der auf 25 Kinder lediglich eine Pädagogin oder ein Pädagoge kommt, fallen die Jüngsten schnell durch das Raster. Die Kinder reagieren, indem sie sich entweder zurückziehen oder umso mehr um unsere Aufmerksamkeit buhlen.
Wir wissen eigentlich genau, was Kinder für eine gesunde mentale und körperliche Entwicklung bräuchten. Dazu gibt es zahlreiche Studien und das sagt uns auch unser gesunder Menschenverstand. Aber Theorie und Realität sind leider weit voneinander entfernt. Kleine Kinder bräuchten von Anfang an eine stabile Bindung zu einer Fachkraft, was allerdings nahezu unmöglich ist, wenn diese sich um viele Kinder gleichzeitig kümmern muss. Außerdem sind in den Kindergärten oft Teilzeitstellen belegt. Eine Bezugsperson, zu der ein kleines Kind vielleicht gerade eine Beziehung aufbaut, ist nicht immer da. Die häufigen Wechsel im Personal und das resultierende Fehlen einer permanenten, sicheren Bindung erschweren den Kleinen eine altersgemäße Entwicklung enorm.
Idealerweise sollte auf jedes Kind möglichst individuell eingegangen werden, um es anschließend mit abwechslungsreichem Programm optimal zu fordern und zu fördern. Dazu kommt noch die Bürokratie: Pädagoginnen und Pädagogen sollen die Veränderungen und Entwicklungen eines jeden Kindes ausführlich schriftlich dokumentieren. Sie müssen also auch noch unglaublich viel Zeit und Energie in Dokumentation und Reflexion investieren, wo es doch ohnehin schon an allen Ecken und Enden an Zeit fehlt.
Abschließend sollte regelmäßiger Kontakt mit den Eltern gepflegt werden und eine offene Kommunikation zu ihnen bestehen, um etwaige Baustellen besprechen und konkrete Lösungswege erarbeiten zu können. Dieses Unterfangen erweist sich vor allem dann als herausfordernd, wenn sich Eltern uneinsichtig zeigen, die Schuld auf den Kindergarten abwälzen oder das Problem schlichtweg ignorieren. Oftmals fühlen sie sich in ihrer Rolle als Eltern verletzt oder gar beschuldigt, dabei vergessen sie leider oft, dass der Kindergarten immer familienergänzend, niemals familienersetzend agiert und immer zum Wohle des Kindes!
Kein lustiger Großonkel, keine fürsorgliche Oma und auch nicht der nette Junge von nebenan können die Liebe der Eltern ersetzen. Allerdings können sie ebenfalls zu einer engen Bezugsperson werden, den Kindern neuen Input geben und die Eltern entlasten. Letzteres wirkt sich nicht nur positiv auf die Psyche der Erwachsenen aus, sondern auch auf das Wohlbefinden der Kleinen, auf die sich der Stress der Eltern nicht selten überträgt.
Es tut Kindern gut, in einer Gemeinschaft aufzuwachsen. Jeder kennt wohl das vielzitierte afrikanische Sprichwort: »Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.«
Aber natürlich können viele das Leben in der Stadt nicht einfach so hinter sich lassen. Wer sich nach Gemeinschaft, Freundschaft und Unterstützung sehnt, könnte ein kleines Dorf mitten in der Stadt gründen – ein Mehrgenerationenhaus. Ein Haus, eine Familie, aber unzählige Vorteile. Die älteste Generation übernimmt während der Arbeitszeit die Kinderbetreuung, geht mit ihnen in die Natur oder klärt sie über bekannte Brauchtümer auf.
Und die Kleinen sind der Grund, warum sich Oma auf einmal wieder jung und vital fühlt. Währenddessen können die Eltern ohne Sorge und schlechtes Gewissen ihrer Arbeit nachgehen, ihre Karriere verfolgen und den Kühlschrank füllen. Und wenn am Abend alle zum Essen zusammenkommen, tauschen sie sich am Tisch über den Tag aus, erzählen sich die witzigsten Erlebnisse und spielen vielleicht sogar noch eine Runde Mensch-ärgere-dich-nicht. Einen Grund zum Ärgern gibt es für Menschen, die in einer solchen Wohngemeinschaft leben, wirklich nicht. Stress wird von der Gemeinschaft absorbiert.
Natürlich leben in der Realität viele Familien in ganz anderen Konstellationen. Viele haben keine Großeltern oder andere Verwandte in der Nähe, die sie unterstützen könnten.
Mit dem sprichwörtlichen Dorf ist also nicht unbedingt ein geografischer, sondern vielmehr ein emotionaler Raum gemeint, in dem es viel Platz fürs Aufeinander-Aufpassen und das gegenseitige Helfen gibt.
Nichtsdestotrotz bietet ein Dorf, wie es im Buche steht, weitere Vorteile für die kindliche Entwicklung. Dort kennt jeder jeden und man hilft sich gegenseitig, wohingegen sich die Menschen in einem Wohnblock in der Wiener Innenstadt wohl bestenfalls schief anschauen, wenn sie sich im Lift zufällig begegnen. Außerdem herrscht in einem Dorf viel mehr Ruhe und ein Kind ist dort weit weniger gefährdet, aufgrund von animierten Werbewänden oder einem erhöhten Lärmpegel durch vorbeirasende Autos einer Reizüberflutung ausgesetzt zu sein. Zusätzlich sind Kinder dort körperlich aktiver, immerhin können sie durch Wälder flitzen, anstatt sich zwischen Mopeds durchschlängeln zu müssen. Diese Nähe zur Natur wirkt sich auch positiv auf ein gesundes Essverhalten aus. Denn wer einen Acker neben der eigenen Haustür hat, weiß, woher die Erdäpfeln kommen und ist nicht der Meinung, dass Pommes ein eigenes Gemüse sind. Und wer neben einem Stall aufwächst, war vielleicht sogar schon einmal bei der Geburt eines Kalbes dabei und kennt nicht nur die lila Kuh auf der Verpackung der Schokoladen-Tafel.
Wo früher ausgeglichene Kinder durch den Garten tollten, wo aus Stöcken Puppen gebastelt und aus Polstern Burgen gebaut wurden, wo Fantasie noch einen Platz hatte und freundschaftliches Teilen zur Tagesordnung gehörte, sitzen heute kleine füllige Monster, die sich, in ihr Handy vertieft, den nächsten Schokoriegel in den Mund schieben. Was sie essen, ist ihnen dabei gleichgültig, Hauptsache, der Kaumuskel ist beschäftigt, und zwar am besten dauerhaft. Fixe Mahlzeiten und zu warten, bis das Hungergefühl einsetzt, sind den meisten Kindern mittlerweile fremd. Zu häufig haben sie vor dem Fernseher im Wohnzimmer oder dem Laptop der Eltern gegessen. Genuss und Gesundheit sind zu Nebensachen mutiert.
Doch nicht nur ein bewusstes Essverhalten leidet unter der übermäßigen Nutzung technischer Geräte.
Wenn ein Kind viel Zeit vor Bildschirmen verbringt, fehlt die natürliche menschliche Interaktion. Das kann dazu führen, dass bereits ein Vierjähriger noch Schwierigkeiten beim Bilden eines einfachen Satzes zeigt oder nicht weiß, wie er sich der Situation angemessen mitteilen kann.
Immerhin muss ein Kind ein Wort mindestens hundert Mal gehört haben, um es sich zu merken und anschließend bewusst einsetzen zu können. Zusätzlich konnte ein Forscherteam rund um den Hirnforscher John Hutton nachweisen, wie negativ sich ein hoher Medienkonsum auf die Bildung der weißen Gehirnsubstanz auswirkt, die eine entscheidende Rolle für die Sprachentwicklung und die Ausbildung der Schreibfähigkeit spielt.
Vielleicht kennen Sie Gespräche mit derart sprachlich unterentwickelten Kindern. Auf eher anspruchslose Fragen wie »Was habt ihr am Wochenende gemacht?« folgt nur ein teilnahmsloses Schulterzucken oder ein kurzes »Oma«.
Das Konstruieren eines einfachen, vollständigen Satzes scheint bei ihnen mit größter Anstrengung verbunden zu sein oder gar ein Ding der Unmöglichkeit. Wen wundert es? Bis zum Eintritt in den Kindergarten wurden sie den ganzen Tag durch Bildschirme von außen berieselt. Energie für etwas aufzuwenden, das sie bis jetzt nicht benötigt haben, sehen manche Kinder verständlicherweise nicht ein.
Damit Sprache und andere Fähigkeiten des Gehirns funktionieren, müssen wir sie ein Leben lang praktizieren. Dazu passt der englische Spruch: »Use it or lose it.« Benutze es, oder du wirst es verlieren. Diese Kinder haben »es«, nämlich eine normale sprachliche Ausdruckskraft, nie gehabt. Mit fatalen Folgen: Sie werden den ungewohnten und unbehaglichen Situationen in Zukunft lieber so lange ausweichen, bis sie irgendwann komplett isoliert sind.
Sie scheinen von Bildschirmen erzogen worden zu sein, Menschen werden ihnen fremd. Im Kindergarten beobachten wir solche Kinder häufig dabei, wie sie bei einfachen feinmotorischen Aufgaben wie dem Auffädeln einer Perlenkette an ihre Grenzen geraten und dabei völlig verzweifeln. Weiters haben sie oft eine gestörte Körperwahrnehmung und eine geschmälerte sportliche Leistungsfähigkeit. Schließlich wurde die wertvolle Zeit, die gesunde Kinder in der Natur oder auf dem Spielplatz verbringen, um dort motorische Fähigkeiten zu schulen oder sich körperlich zu verausgaben, damit vergeudet, in ein leuchtendes Gerät zu starren.
Neben diesen physischen und kognitiven Auswirkungen fällt auch auf, dass Kinder, die viel Zeit vor einem Bildschirm verbringen, häufig Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen haben. Grund dafür ist das blaue Licht, das kurzwellig ist und damit energiereicher. Im Gehirn behindert es die Melatonin-Ausschüttung und somit das Einsetzen eines natürlichen Müdigkeitsgefühls. Und wer in der Nacht nicht schläft, ist bereits um zehn am Vormittag müde. Wir haben es also in den Kindergärten zunehmend mit völlig übermüdeten Kindern zu tun, mit denen nicht viel anzufangen ist und die stärker zu Stimmungsschwankungen neigen.
Der grenzenlose, massive Medienkonsum bringt noch weitere Probleme. Die ungefilterte Informationsflut, die nur in den seltensten Fällen zusammen mit den Eltern aufgearbeitet oder überhaupt von ihnen bemerkt wird, führt dazu, dass unliebsame Verhaltensweisen entwickelt oder noch verstärkt werden.
Immerhin lernen Kinder zu einem großen Teil durch das Nachahmen. Wenn in diesen prägenden Jahren häufig kriegerische oder gewalttätige Darstellungen im Alltag des Kindes auftreten, muss davon ausgegangen werden, dass diese in den Köpfen hängenbleiben.
In den meisten Fällen verarbeiten sie diese Szenen zunächst einmal künstlerisch und malen plötzlich Bilder von Kriegsschauplätzen oder blutüberströmten Soldaten. Und irgendwann wird das Gesehene nachgespielt und die aggressiven Handlungen verinnerlicht, bis sie schließlich in kritischen Situationen zum Vorschein kommen. Oft erleben wir, wie aufeinander eingeprügelt wird, bis ein Kind weint. Wir schreiten ein und entfernen das aggressive Kind aus der Situation.
Und als wäre das nicht schon genug, entwickeln viele mediengeschädigte Kinder den sogenannten Pseudo-Autismus: Durch zu viel Zeit mit einem technischen Medium zeigen sie Symptome, die einer Autismus-Spektrum-Störung ähnlich sind. Diese Kinder können sich nur schwer auf neue Umgebungen, unbekannte Situationen oder gar auf eine fremde Bezugsperson einstellen und haben Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen, da sie aufgrund der langen Bildschirmzeit schlecht oder gar nicht mit anderen Menschen interagieren können. Diese verzögerte Sozialisierung geht mit einem geringen Maß an emotionaler Kontrolle und Selbstbeherrschung einher, was dazu führt, dass bei diesen Kindern ein kleiner Zwischenfall nicht selten in einem gewaltigen Wutausbruch oder einem unverhältnismäßigen Heulanfall gipfelt.
Simon ist ein solches Kind. Mit seinen blonden Locken, den strahlend blauen Augen und einem verschmitzten Lächeln schaut er aus, als wäre er einem von Michelangelos Fresken entsprungen. Doch sein Wesen könnte zu seinem engelsgleichen Aussehen keinen krasseren Gegensatz bilden. Simon kommt zum Beispiel eines schönen Tages in die Gruppe, setzt sich gut gelaunt in die Bauecke und fängt zufrieden an, mit den Holzbausteinen zu spielen. Ein paar andere Kinder halten sich schon etwas länger dort auf und sind mit dem Bau eines Schlosses beschäftigt. Nach einiger Zeit bemerkt Simon, dass er für sein Projekt nicht mehr genug Bausteine hat und bedient sich kurzerhand bei den Bausteinen der anderen.
Als sich die Kinder daraufhin wehren, kippt die Stimmung. Simon fängt an zu schreien und schlägt mit den Bausteinen unerlässlich auf die Köpfe der ohnehin schon verängstigten und bereits weinenden Gleichaltrigen ein.
Jeder Beruhigungsversuch ist erfolglos. Und selbst in den Armen der Pädagogin schlägt er weiter um sich, schreit wie am Spieß und probiert mit aller Kraft, den festen Griff zu lösen. Was von außen als brutale Situation wahrgenommen werden würde, ist jetzt schlichtweg nötig, um das körperliche Wohl aller Beteiligten zu wahren. Erst nach einiger Zeit kann er sich wieder beruhigen und ist bereit, zurück zur Gruppe zu gehen.
Und auch sonst tun sich Kinder immer schwerer damit, negative Gefühle wie Frustration auszuhalten. Denn auch unter dem erhöhten Medienkonsum der Eltern leidet die Kommunikation mit dem Kind. Wenn die Eltern hingegen ihre Emotionen zulassen und kommunizieren würden, dass es ihnen auch manchmal nicht so gut geht oder dass sie sich heute in der Arbeit geärgert haben, wüssten viel mehr Kinder, mit ihren negativen Gefühlen umzugehen, und es würden viel weniger Spielfiguren von enttäuschten Dreijährigen durch die Gegend fliegen.
Am nervenaufreibendsten im erzieherischen Alltag ist jedoch die nicht vorhandene Aufmerksamkeitsspanne. Denn wer schon in jungen Jahren lange vor einem flimmernden Bildschirm mit hektischen Bewegungen, knalligen Farben und aufregender Musik abgestellt wird, kann im Alltag nur schwer stillsitzen, ist schnell gelangweilt und hat Schwierigkeiten damit, sich alleine zu beschäftigen.
Eine Situation aus einem Kindergarten am Rande Wiens verdeutlicht, dass es für Kinder immer schwieriger wird, Interesse für etwas anderes als ein Tablet zu zeigen und ihre ungeteilte Aufmerksamkeit länger als ein paar Minuten auf etwas anderes als ein Handy zu richten.
Es ist November und wie in jedem Jahr um diese Zeit wurden auch heuer wieder die Räume verdunkelt, Kostüme angezogen und sich ein letztes Mal geräuspert. Bis schließlich eine Stimme aus dem Hintergrund die angespannte Stille bricht und zu erzählen beginnt: »Es war einmal …« So oder so ähnlich wird hier seit Jahren die Legende vom gutherzigen Heiligen Martin aufgeführt. Vor wenigen Jahrzehnten waren in solch einer Situation 25 erwartungsvolle Augenpaare auf das Spektakel gerichtet und aufgeregtes Murmeln durchströmte den Raum. Doch heute reicht das schon lange nicht mehr aus – die Kinder sind mittlerweile mehr gewöhnt. Wenn die Beschäftigung keine bunten Bilder, laute Töne, schnelle Bewegungen und aufregende Effekte beinhaltet, können die Erwachsenen froh sein, wenn sie mit müden Augen und gelangweilten Gesichtern betrachtet werden. Den Zauber, den früher ein selbst geprobtes und aufgeführtes Theaterstück im Kindergarten auslöste, gibt es nicht mehr.
Heute werden Kinder oft von morgens bis abends bespaßt. Dabei ist auch Langeweile essenziell für eine normale Entwicklung. Vielleicht kennen Sie es: Wenn man sich ein wenig langweilt, kommen einem oft die besten Ideen, auf die man in der Hektik des Alltags wohl nie gekommen wäre.
Diese angenehme und kreative Langeweile können viele Kinder und auch immer weniger Erwachsene aushalten. Deshalb werden sie ziemlich schnell ein Handy oder Tablet in den Händen halten. Denn ein gelangweiltes Kind ist anstrengend und will beschäftigt werden.
Dabei wäre es für die Kinder so förderlich, eine eigenständige Lösung für ihre Langeweile zu finden! Wenn von den Kindern der leiseste Anflug von Langeweile allerdings direkt mit noch mehr Medienzeit verbunden ist, kann das im Kindergarten zu einem großen Problem werden.
Denn dort bekommen sie natürlich kein Tablet und es gibt auch keinen Fernseher. Also schreien sie, und zwar, wenn nötig, den ganzen Tag. Wer jetzt an einen Suchtkranken denkt, liegt gar nicht so weit entfernt, denn diese Kinder befinden sich schlichtweg auf Entzug.
Werden diese Kinder mit ein paar Würfeln allein gelassen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie, sobald wir ihnen den Rücken zuwenden, schon zum nächsten in Greifweite liegenden Konstruktionsspiel übergegangen sind. Und falls dort Probleme auftreten oder sich die Aufgabe als unerwartet schwierig erweist, wird so lange auf die Schulter der Pädagogin oder des Pädagogen getippt, bis er oder sie sich dem Kind irgendwann mit einem genervten »Was ist denn nun schon wieder?« zuwendet. Die Kinder haben die Fähigkeit des natürlichen, konzentrierten und faszinierten Spiels verloren. Und wer sich schon als Kleinkind nicht konzentrieren kann, wird in der Schule große Schwierigkeiten haben.
Diese ganzen Faktoren machen es für uns im Kindergarten fast unmöglich, eine angenehme Gruppendynamik zu erzeugen.
Wo noch vor einigen Jahren Kinder miteinander gespielt und voneinander gelernt, wo sie sich gestritten, aber auch wieder versöhnt, und wo sie individuelle Hürden überwunden haben, um das Gemeinwohl zu fördern, findet man heute einen zusammengewürfelten Haufen vor, dessen einzelne Teile völlig inkompatibel sind. Alle fordern zeitgleich etwas anderes und haben unterschiedlichste Bedürfnisse, die unmöglich von nur einer Person bedient werden können.
Übermäßiger Medienkonsum wirkt sich also auf mehreren Ebenen nachweislich negativ auf die frühkindliche Entwicklung aus. Deshalb empfehlen Expertinnen und Experten für ein fünfjähriges Kind den Richtwert von maximal einer halben Stunde Bildschirmzeit pro Tag. Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter und raten in dieser prägenden Lebensetappe komplett davon ab. Heute sind diese dreißig Minuten in den meisten Familien wohl eher Wunschvorstellung als Realität, obwohl man besser denn je um das damit einhergehende Risiko Bescheid weiß. Warum also übernimmt Papas Handy trotzdem noch so oft den Job des Babysitters?
Gerade die Teuerungskrise sorgt dafür, dass frisch gebackene Eltern oft früher, als ihnen lieb ist, ihren Weg zurück in die Arbeitswelt antreten müssen. Völlig ausgelaugt schleppen sie sich dann am Ende eines langen Tages in die Wohnung, wo sie nur mehr die Beine hochlegen wollen. Was möglich wäre, wenn nicht dieses kleine Energiebündel durch die Wohnung flitzen und um die Aufmerksamkeit der Mama buhlen würde. »Wollen wir ein Buch lesen?« »Bitte spiel mit mir.« »Komm, wir bauen eine Rakete und fliegen damit zum Mond!«
Mit dem Anknipsen eines Films scheinen all diese Probleme mit einem Schlag gelöst. Man erspart sich einen zeitaufwendigen Ausflug in den Park, der damit endet, dass man sich inklusive Gewand in die Waschmaschine stecken könnte, und das große Geschluchze, wenn man nach stundenlangem Schaukeln endlich den Heimweg antreten möchte. Außerdem muss nach der Arbeit auch noch für andere Tätigkeiten wie die Erledigung des Haushalts Zeit eingeräumt werden und dabei ist ein quengelndes Kind ebenfalls nicht gerade förderlich.
Dieser eine Klick ist somit der Schlüssel zu einem ruhigen Kind und dem Ende der Quengelei und etwaiger Diskussionen. Die Bespaßung übernimmt jetzt bequem die Technik, die Verantwortung wurde an andere übergeben.
Die Erziehung der Kleinen soll dann bitte in den Kindergärten geschehen, wohin die Kinder mittlerweile immer früher kommen. Denn momentan befinden sich in Wien rund ein Drittel der Null- bis Dreijährigen bereits regelmäßig in Fremdbetreuung – teilweise im Ausmaß eines Vollzeitjobs. Der Verglich hinkt nicht: Für Kleinkinder ist die Zeit in einer lauten Gruppe vergleichbar mit einem anstrengenden Job, von dem sie dringend Erholung brauchen.
Trotzdem verbringen sie viel zu viel Zeit im Kindergarten, obwohl gerade in diesem Alter das elterliche Dasein von enormer Wichtigkeit wäre, weil die Kinder noch gar keine eigenständige Persönlichkeit entwickelt haben. Wie sollen sie sich also ausdrücken und behaupten? Außerdem ist der Alltag mit ihnen unglaublich herausfordernd, obwohl für diese Altersgruppe noch das größte Team an Pädagoginnen und Pädagogen zuständig und der Betreuungsschlüssel besser ist. Das ist auch notwendig, denn schließlich müssen sie in den meisten Fällen noch gewickelt werden, können noch nicht eigenständig essen und wissen noch nicht, wie sie uns auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen können. Dass solch eine Situation aber nicht nur für die zuständigen Erwachsenen mit viel Anstrengung verbunden ist, sondern auch für die Kinder eine extreme Belastung darstellt, gerät dabei oft in den Hintergrund. Denn dieses Zeitpensum in der Arbeit oder auf der Uni zu verbringen, ist schon für einen Erwachsenen erschöpfend. Doch die Kinder haben nicht einmal eine andere Wahl! Sie sind unserem System ausgeliefert.
Auch die zweite Elementarpädagogin habe ich gebeten, ihre Erfahrungen mit einem größeren Publikum zu teilen, weil sie die aktuelle Entwicklung aus drei Perspektiven kennt. Zunächst war sie Au-pair und Kindermädchen und hat erlebt, wie sich die Allerkleinsten entwickeln, welchen Familien- und Umwelteinflüssen sie ausgesetzt sind und was sie frühzeitig formt und deformiert.
Danach war sie Elementarpädagogin und beobachtete, wie diese Kinder den Kindergarten und die Vorschulzeit durchliefen und wie schwierig es auch angesichts der derzeitigen organisatorischen und finanziellen Strukturen in diesem Bereich ist, irgendetwas zu verbessern.
Inzwischen ist sie Volksschullehrerin, wo ihr die ehemaligen Kindergartenkinder neuerlich begegnen. »Wenn die Kinder mit all ihren Auffälligkeiten in der Volksschule ankommen, ist kaum noch etwas zu machen«, sagt sie. »Dann sind Lebenswege bereits vorgegeben und es sind keine guten. Sie sind jedenfalls ganz bestimmt nicht so gut, wie sie sein könnten.« Sie analysiert das Problem in einem ausführlichen Kapitel mit ihren eigenen Worten und ihrer eigenen Stimme.