Kapitel 3

Eine Pädagogin und ihre Geschichten

Der folgende Text ist ein Bericht von der Front. Hier schildert eine von mir sehr geschätzte Kollegin, was sie in vielen Berufsjahren als engagiertes Kindermädchen, später als Elementarpädagogin und schließlich als Volksschullehrerin erlebt hat. Sie möchte anonym bleiben und fragt sich genau wie ich, was aus den vielfach beschädigten und in ihrer natürlichen Entwicklung gebremsten Kindern später werden soll. Aber jetzt soll sie selbst zu Wort kommen, denn ihr Bericht ist ein wahrer Augenöffner:

»In einer großen Familie aufzuwachsen, ist für mich ein Segen. Mir hat es den Weg meines beruflichen Werdegangs geebnet. Denn als einziges Mädchen wurde mir früh die Verantwortung für meine jüngeren Geschwister übertragen. Und obwohl ich anfänglich mit einigen Herausforderungen konfrontiert war und viel eigenständig herausfinden und lernen musste, übernahm ich den Job am Ende freiwillig.

Ansonsten hätte ich wohl nicht angefangen, auch außerhalb der eigenen Familie auf kleine Kinder aufzupassen und dafür mit siebzehn schließlich sogar für zwei Monate nach Amerika zu ziehen, wo mir das Betreuen zweier Kleinkinder auferlegt wurde.

Nach dieser Zeit kam ich nach Wien, um dort meine Ausbildung zu beginnen. Und da war ich: eine Studentin in einer großen Stadt ohne Geld. Ein Job musste her! Und das Naheliegendste? Natürlich Babysitten. Anfänglich war ich nur für ein Kind zuständig, aber meine fürsorgliche und zuverlässige Art sprach sich schnell herum, ich bekam laufend Anfragen und bald hatte ich fünf Familien und deren Kinder unterschiedlichster Altersgruppen zu betreuen.

Mein Leben war toll, aber es zog mich hinaus in die große weite Welt. Also flog ich ein weiteres Mal nach Amerika, um dort für einige Zeit das Kind einer kleinen Familie zu betreuen. Zu Beginn war ich überrascht, als ich bemerkte, mit wem ich meine Tage ab nun verbringen würde, denn mir wurde ein viermonatiges Mädchen in den Arm gelegt. Doch noch bevor ich mich fragen konnte, wie es zu dieser Situation kam, sackte die Mutter des kleinen Mädchens in sich zusammen und begann schluchzend zu erzählen. Obwohl das meiste unverständlich war, konnte ich dennoch heraushören, dass ihr Arbeitgeber ihr keine andere Wahl lasse. Die unmenschliche Wahl: Entweder sie gehe Vollzeit arbeiten oder sie müsse sich eine neue Stelle suchen. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, sei ihr Mann auch noch im Ausland stationiert. Bei jedem Anruf einer unbekannten Nummer setze ihr Herzschlag kurz aus. Schließlich könne ihm jedem Tag etwas zustoßen. Das Einzige, was sie diesen Kummer durchstehen lasse, sei Lea, das kleine Mädchen, das mittlerweile mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen in meinen Armen eingeschlafen war.

Spätestens diese Erfahrung machte mir bewusst, dass sich etwas ändern muss. Ich wollte so vielen Kindern wie möglich eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen und fing bei meiner Rückkehr nach Österreich an, in einem Kindergarten zu arbeiten. Dort verbrachte ich einige Zeit und setzte mich intensiv mit den Problemen und Sorgen der Kleinsten auseinander. Doch ich bemerkte bald, dass dieser Job körperlich anstrengend ist und die Knochen und Gelenke beim Herumkrabbeln auf allen vieren die Knie und der Rücken auf unnatürliche Art und Weise belastet. Die Zeit schritt voran und die Arbeit im Kindergarten setzte mir bald auch psychisch mehr und mehr zu.

Ich entschloss mich schließlich für einen Berufswechsel.

Da ich die Arbeit mit Kindern auf keinen Fall missen, sondern lediglich etwas weniger Lärm, Probleme und vielleicht sogar Verantwortung haben wollte, war der Schritt in die Volksschule für mich der naheliegende. Größere Kinder, kleinere Probleme, oder? Wie weit entfernt dieser Gedanke von der Realität ist, konnte ich zu diesem Zeitpunkt schließlich noch nicht erahnen. Mit welchen Kindern und mit welchen neuen Problemen ich es als Elementarpädagogin und Lehrerin zu tun hatte, zeichnete sich allerdings schon ganz zu Beginn meiner Laufbahn ab.

Kinder entwickeln Bindungsstörungen

Es war mein erster Tag im neuen Kindergarten und ich war unsicher, ob mich die neue Gruppe akzeptieren würde. Zu meiner Erleichterung stolperte schon bald ein Bub auf mich zu, der mir ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von der Seite weichen wollte. Er verlangte nie nach seiner Mutter oder einer anderen Bezugsperson, sondern buhlte ausschließlich um meine Aufmerksamkeit. Was ich am Anfang noch süß fand, wurde schon bald anstrengend und erschwerte mir schlussendlich den Arbeitsalltag. Aber dass dieses Verhalten sogar krankhaft ist, hat mich dann doch schockiert.

Eine meiner Kolleginnen erklärte mir am Abend desselben Tages, dass Kinder im Alter von etwa drei Jahren im Normalfall ihre erste sogenannte Trotzphase durchleben. Erst nach dieser Zeit, die geprägt ist von Schreien, Weinen, Schlagen, Kratzen, Stampfen und Toben, seien sie sich ihrer Eigenständigkeit so richtig bewusst. Davor sähen sie sich noch als Puzzleteile der Person der Mutter, weshalb ihr Fehlen gerade in dieser Zeit schwere Folgen nach sich ziehen könne. Denn diese Kinder können Bindungsstörungen entwickeln, die sich entweder sofort bemerkbar machen oder sich erst im Laufe des Lebens herauskristallisieren. Und dann komme es eben auch mal vor, dass sich ein Kleinkind so sehr auf eine nahezu fremde Person wie mich fokussiere, dass es weint, wenn ich den Raum verlasse und sich vehement gegen den körperlichen Kontakt zur eigenen Mutter wehrt, wenn diese es am Abend wieder abholt.

Kinder sind nicht mehr in der Lage, Bilder zu malen

Der kleine Johannes lässt einen Radiergummi gedankenverloren von einer Hand in die andere wandern. Vor ihm liegt eine Box voller Buntstifte, eine Auswahl an Stempeln und Papierbögen in allen möglichen Farben und Größen. »Komm schon. Mal einfach das, was dir als Erstes einfällt«, ermutige ich ihn und sogleich starren mich zwei haselnussbraune Augen voller Unverständnis an. Habe ich zu leise gesprochen? Ich wiederhole meinen Satz. An der Reaktion ändert das allerdings nichts. Also zwänge ich mich auf den viel zu kleinen Stuhl neben ihm und gebe ihm jeden einzelnen Schritt vor. »Nimm dir erst einmal ein Blatt.« »Sollen wir vielleicht einen Baum malen?« »Dafür brauchst du den grünen und den braunen Stift.« Das Spielchen spielten wir so lange, bis wir vor einem ganz passablen Baum sitzen. Ich beobachte, dass er offensichtlich, im Gegensatz zu so manchem Gleichaltrigen, weiß, wie er den Stift zu verwenden hat. Warum tut er es dann nicht einfach?

Weil er seine Kreativität nie schulen und seine Fantasie nie einsetzen musste. In seinem Zimmer steht kein schlichtes Holzpferd, das in Gedanken zum Leben erweckt werden muss, sondern ein rotglänzender Roboter, der mit dem Umlegen eines Schalters beginnt, Geräusche zu machen und sich zu bewegen.

Und ein Kind macht auch nicht mehr, als es unbedingt muss. Also warum Fantasie bei einem Gerät einsetzen, das von selbst schon alles Mögliche bietet?

Und wo die nötige Kreativität fehlt, muss sich anderweitig Inspiration für das nächste Bastelprojekt besorgt werden. Deshalb klappen Fünfjährige mittlerweile eigenständig den Computer auf und suchen sich auf YouTube eine Anleitung, die ohnehin viel zu anspruchsvoll gestaltet ist. Und dann versuchen sie, kreative Aufgaben von morgen mit den motorischen Fähigkeiten von gestern zu bewältigen. Verständlicherweise wird der anfängliche Bastelspaß schnell zum großen Ärgernis.

Kinder können keine Schuhbänder mehr binden

Die fehlende Motorik aufgrund der zunehmenden Digitalisierung wird später auch in anderen alltäglichen Situationen zum Problem. Im Kindergarten helfen wir den Kindern noch viel und nehmen ihnen so einiges ab, doch in der Schule ist das nicht mehr möglich. Wenn sich ein Kind mit sieben Jahren immer noch nicht eigenständig die Schuhe binden kann, zieht das die Zeit, die in der Garderobe verbracht wird, ganz schön in die Länge. Diese Fälle waren früher die Ausnahme, heute werden sie zunehmend zur Regel.

Und natürlich ist es erschöpfend und zeitintensiv, einem Kind das Binden von Schuhbändern beizubringen, gerade, wenn es ihm an der nötigen Feinmotorik fehlt, das Band richtig zu greifen und die Bewegungsabläufe korrekt auszuführen. Doch anstatt sich dieser Herausforderung zusammen mit dem Nachwuchs zu stellen, um ihm diese wichtige Fertigkeit fürs Leben beizubringen, beziehen sich Eltern auch hier lieber auf die Technik. Deshalb stecken die meisten Kinderfüße heutzutage in Schuhen, die nicht mit Schnürsenkeln, sondern mit glitzernden Klettverschlüssen oder futuristischen Drehmechanismen ausgestattet sind.

»Das Schuhebinden werden sie dann schon in der Schule lernen«, reden sich viele dieser Eltern ein. Und das wäre bei einem einzelnen Kind vielleicht noch möglich, aber wenn beim Schulausflug auf einmal dreißig Paar knöchelhohe Wanderschuhe zu schnüren sind, kommt auch die ausgeglichenste Lehrkraft an ihre Grenzen.

Außerdem gehört es schlichtweg nicht zum Aufgabenbereich einer Lehrerin, den Kindern solche Dinge beibringen zu müssen. In der Schule soll gerechnet, geschrieben und gelesen werden und nicht der alte Schuhbinde-Reim »Hasenohr, Hasenohr, einmal rum, dann durchs Tor« durchs Klassenzimmer hallen.

Diese verzögerte motorische Entwicklung zeigt sich auch beim Erlernen der Schrift. Selbst wenn sie strikt nach Lehrplan arbeiten, werden Lehrkräfte heute auch dadurch mehr gefordert als noch vor ein paar Jahren. Da schaut der Buchstabe A dann schnell einmal wie ein O aus und ein I ist nur noch mit viel Fantasie von einem J zu unterscheiden. Wenn sich das Schriftbild dieser Kinder nicht bald verbessert, muss ihnen eine Assistenz an die Seite gestellt werden, ohne die sie den normalen Schulalltag nicht bewältigen könnten. Aber auch mit dieser Unterstützung wäre es mehr als fraglich, ob sich diese Kinder jemals auf dem Stand ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden befinden werden.

Kinder irren auf der Suche nach ihren Geschwistern herum

Ein Kleinkind mit Schnuffeltuch in der Hand und Daumen im Mund wandert durch die breiten Gänge des Kindergartens. Es sieht beinahe gruselig aus, mit welcher Ruhe es seinen kleinen Fuß behutsam vor den anderen setzt. Es lässt seine großen runden Augen aufmerksam über die angeketteten Laufräder vor der Tür schweifen, als würde es dort etwas oder jemanden suchen. Anscheinend ohne Erfolg, denn es schlurft weiter, und so langsam kullern die ersten Tränen über die roten Wangen. Es gibt dabei keinen Laut von sich, will um keinen Preis auffallen. Denn die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, vielleicht sogar zu stören, bedeutet bei einer alkoholkranken Mutter nur selten etwas Gutes. Wie oft hatte sich der große Bruder schützend vor das Mädchen gestellt und den Hass der Mutter abbekommen? Und wie viele Tage im Jahr war er es, der darauf geachtet hat, dass seine Schwester nicht hungrig ins Bett gehen musste und nicht die Frau, die sie auf die Welt gebracht hat?

Eine dementsprechend starke Bindung herrscht zwischen diesen beiden Geschwistern. Dieses starke Band bringt die Kleine sogar dazu, aus ihrer eigenen Gruppe zu flüchten, mehrere Minuten durch die Gänge zu irren und schließlich in der Gruppe ihres größeren Bruders aufzutauchen, der liebevoll seine Arme um das kleine Häufchen Elend schlingt.

Für Außenstehende mag das eine herzzerreißende Geschichte sein, aber für die Beschäftigten ist so ein Kind vor allem eins, und zwar nervenzehrend und mit viel Stress verbunden. Dieses Mal ist sie nur in die andere Gruppe verschwunden, aber was ist, wenn sie eines Tages unauffindbar ist? Oder wenn sie irgendwann die Einrichtung verlässt und auf die angrenzende Straße läuft?

Solche Situationen könnten wir Beschäftigen in den Kleinkindgruppen, Kindergärten und Horten viel besser meistern, wenn der Fachkraft-Kind-Schlüssel niedriger wäre. Wir hätten genug Aufmerksamkeit für das einzelne Kind, auch wenn es, wie das arme kleine Mädchen mit der alkoholkranken Mutter, schlicht mehr Aufmerksamkeit als andere braucht.

Aber solange das nicht der Fall ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis etwas Schlimmeres passiert.

Kinder haben Angst, Zeit mit ihrer Mama zu verpassen

»Mama abholen«, »Wann ist Mama wieder da?«, »Wann kommt Mama?« waren wohl die einzigen Sätze, die Lena im ersten Jahr zu mir sagte. Ansonsten gab sie wenig von sich, außer viele Tränen und zutiefst verzweifelte Schluchzlaute, wenn ihre Mama sich in der Früh von ihr verabschiedete. Sollte sie mit ihren zwei Jahren die Phase des Fremdelns nicht langsam abgeschlossen haben?

Sollte sie definitiv. Zumindest, wenn in ihrer frühen Kindheit alles so abgelaufen wäre, wie es hätte sein sollen. Ist es hier aber nicht. Lena wurde bereits als Baby in die Obhut der Kleinkindgruppe übergeben, wo sie den Großteil des Tages betreut wurde. Dort war sie von einem fürsorglichen Team umgeben, das nur das Beste für sie wollte, aber die Eltern sind eben unersetzbar.

Das gleiche trifft auf die Zeit zu, die miteinander verbracht werden sollte. Deshalb kämpft Lena jede Nacht, in der sich ihre liebe Mama zu ihr legt, um ihr die Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, gegen die Müdigkeit. Lange Zeit liegt sie hellwach unter ihrer Decke und kuschelt sich ganz nah an ihre Mutter. Wenn die Natur dann doch die Oberhand gewinnt und Lena langsam, aber sicher einzuschlafen droht und sich ihre Mama vorsichtig aus der Decke schält, zuckt sie zusammen, klammert sich fest an sie und besteht weinend auf noch ein paar letzte Minuten, um ja keine wertvolle Mama-Sekunde zu verpassen.

Da ist es verständlich, dass sie häufiger von ihrem Papa ins Bett gebracht wird. Denn wenn dieser anfängt, ihr Lieblingsbuch vorzulesen, rollt sie sich schon bald zusammen, bekommt eine ruhige und gleichmäßige Atmung, bevor sie schließlich tief und fest schläft.

Kinder sind permanent überfordert

Während Lena um jede Minute mit ihrer Mama ringt, haben meine Geschwister und ich früher jede Minute genossen, in der sie mal nicht auf uns aufgepasst hat. Im Haus konnten wir schließlich nur dann eine Runde Fangen spielen, wenn niemand Angst um die Porzellanvase der Oma hatte. Zeit ohne die Mama war schon immer ein Erlebnis, aber noch besser war es, wenn sie zusammen mit unserem Vater zum jährlichen Kurzurlaub in die Berge aufgebrochen ist. Dann hat nämlich eine Babysitterin auf uns aufgepasst und wir durften etwas länger aufbleiben oder ein paar Süßigkeiten mehr naschen.

Es war aufregend und neu, wenn Mama nicht zu Hause war und das sollte es auch sein. Schließlich sollte es eine Ausnahme sein, ohne ihren Gute-Nacht-Kuss ins Bett zu gehen. Heute ist es in vielen Familien die Regel, dass die Mutter weg ist, bevor das Kind aufwacht, und erst wieder nach Hause kommt, wenn es schon längst wieder eingeschlafen ist. Und auch unsere Mutter hatte viel zu erledigen. Sie war ständig mit Kochen oder Waschen beschäftigt und konnte sich nur selten zu uns setzen, um mit uns zu spielen. Aber im Gegensatz zur modernen Mutter war sie einfach da.

Wie wichtig es ist, einfach nur da zu sein und Sicherheit auszustrahlen, ist vielen Eltern heute wohl nicht mehr bewusst, ansonsten wäre wohl nicht der Großteil der Kleinkinder heute bis zum Abend im Kindergarten. Wir erleben sie dort oft am Ende ihrer Kräfte. Denn ein Kindergartentag ist für die Kinder genauso anstrengend wie ein neuer Fulltime-Job für Erwachsene. Ständig gibt es neue Eindrücke, Konflikte und ständig müssen sie sich nach der Gruppe richten, statt nach ihrem Gefühl zu gehen und danach, was sie eigentlich gerade brauchen. Am meisten fehlt ihnen Ruhe.

Auch Schulkinder brauchen die Eltern. Heute müssen viele Tafelklassler bereits am zweiten Schultag den gesamten Nachmittag im Hort verbringen. Dabei ist diese erste schulische Umstellung für die Kleinen sehr fordernd und nimmt sie gehörig mit. Das wird spätestens dann klar ersichtlich, wenn sie im Hort nach dem Mittagessen einschlafen, anfangen zu weinen, weil sie sich nicht auskennen oder sich vermehrt verletzen, weil sie mit der neuen Situation einfach total überfordert sind. Sie bräuchten vielmehr einen ruhigen Nachmittag zuhause und einen Elternteil, der für sie da ist.

Kinder versuchen verzweifelt nachzuholen, was sie versäumt haben

Es ist ein sonniger Tag und Jakob sitzt mit dem Daumen im Mund in einer Korbschaukel und schaut gedankenverloren zu einer Gruppe zehnjähriger Schüler, die sich ein paar Meter weiter auf ein Fußballspiel mit ihrem Trainer vorbereiten. Was zunächst nach einer normalen Situation klingt, ist eine menschliche Tragödie. Denn Jakob ist kein Kleinkind, sondern ganze zehn Jahre alt. Und diese Kinder, die er beobachtet, sind keine coolen Nachbarskinder, zu denen er aufschaut, sondern seine Schulkollegen, die eine normale Entwicklung durchlebt haben. Während diese schon bald in die Pubertät kommen und ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe machen werden, steckt Jakob noch in der oralen Phase, in der alles in den Mund genommen und mit der Zunge ertastet wird.

Auch er wurde bereits mit wenigen Monaten in die Obhut von Fremden übergeben, bei denen er sich offenbar nicht sicher genug fühlte, um eine altersgemäße Entwicklung durchzumachen. Wie lange er an diesem Verlust zu knabbern haben wird, ist schwer zu sagen. Was allerdings zweifelsohne behauptet werden kann, ist, dass die Versäumnisse aus diesen prägenden Jahren im besten Falle ausgeglichen, niemals aber komplett aufgeholt werden können.

Denn in den ersten Lebensjahren prägt sich bereits alles ein, was später im Erwachsenenleben benötigt wird. Ein Kind baut seinen Wortschatz auf und entwickelt seine sprachlichen Fähigkeiten. Es festigt seine körperliche Grobmotorik und erlernt beim Basteln und Spielen seine Feinmotorik. Es wird selbstständiger und verinnerlicht spielerisch die Werte und Normen der Gesellschaft.

In dieser Zeit wird alles beobachtet, vieles nachgeahmt und das meiste, ohne groß darüber nachzudenken, erlernt. Wenn dann auch noch Raum zum Experimentieren ist, wollen Kinder das Erlernte verbessern und fangen an, neue Dinge auszuprobieren. Dann wollen sie vielleicht nicht mehr nur ein Bild malen, sondern lernen, Buchstaben zu erkennen und schon bald darauf wollen sie wissen, wie sie ihren eigenen Namen schreiben können.

Denn Kinder zeigen von Natur aus Interesse daran, etwas Neues zu entdecken und haben oft viel Motivation und Ehrgeiz, das Beste aus sich herauszuholen. Zumindest im Normalfall.

Doch immer häufiger wird diese Phase durch äußere Einflüsse gestört. Und anstatt bereits alles spielerisch gelernt zu haben, müssen diese Kinder probieren, ihre teilweise extremen Defizite zu kaschieren. Denn in der Schule ist es bereits zu spät, solche Rückstände in der Entwicklung aufzuholen. Außerdem hätte eine Lehrkraft auch gar nicht die Kapazitäten dafür, sich im nötigen Ausmaß auf diese bedürftigen Kinder zu fokussieren, ohne dabei die anderen und den geplanten Unterrichtsstoff zu vernachlässigen. Diese Kinder bleiben also auf der Strecke und haben vielleicht ihr Leben lang mit diesen Problemen zu kämpfen.

Kinder werden pathologisiert

Während im Kindergarten alles möglichst individualisiert ablaufen soll, folgen die Lehrerinnen und Lehrer in der Schule einem strikten Lehrplan, der für alle gleich aussieht. Danach wird jedes Kind bewertet und seine Fortschritte möglichst präzise dokumentiert. Da rückt ein Kind, das aus der Reihe tanzt, schnell in den Fokus der Lehrperson.

So ein Kind ist Elias. Er kann nicht ruhig sitzen, ist schnell abgelenkt und weiß nicht, wie er sich beim Essen zu benehmen hat. Über diese Auffälligkeiten müssen wir die Eltern natürlich in Kenntnis setzen.

Im nächsten Schritt würden im Normalfall viele Gespräche mit fachlich versierten Menschen stattfinden, um einen geeigneten Umgang mit dem Problem zu erarbeiten. Doch in Elias´ Fall konnte es den Eltern nicht schnell genug gehen. Sie engagierten umgehend einen privaten Psychologen. Und am Ende des Tages konnten sie ihren Sohn als Autisten und sich selbst weiterhin als Super-Mum und Super-Dad bezeichnen.

Dass Elias´ unaufmerksames Verhalten, sein respektloser Umgang, die fehlende Kreativität oder die sozialen Schwierigkeiten eventuell mit dem Fehlen von elterlicher Aufmerksamkeit einhergehen könnten und nicht unbedingt mit einem medizinischen Problem in Zusammenhang stehen müssen, davon wollten sie nichts wissen. Deshalb hatten sie auch kein schlechtes Gewissen, als sie anfingen, ihr Kind mit Medikamenten vollzupumpen, es mit natürlichen Amphetaminen bei Laune zu halten oder mit Naltrexon ruhigzustellen, einem starken Opioid, das eigentlich für den Alkoholentzug entwickelt wurde.

Elias ist kein Einzelfall. Viele Eltern haben heute die Tendenz, ihrem Kind eine medizinische Diagnose verpassen zu lassen, obwohl das eigentliche Problem für uns Pädagoginnen und Pädagogen klar auf der Hand liegt: Sie haben einfach zu wenig Zeit für ihren Nachwuchs!

Kinder haben immer häufiger Verhaltensauffälligkeiten

Aber von diesen übereilten und manchmal auch falschen Befunden abgesehen, lässt sich auch bei der Zahl der seriösen Diagnosen ein besorgniserregender Anstieg verzeichnen. Eine Analyse aus den USA zeigt: Während im Jahr 2000 nur eines von 150 amerikanischen Kindern Autismus-Spektrum-Störungen zugeordnet wurde, war es 2018 knapp jedes fünfzigste. Tendenz steigend!

Allein in Österreich leben aktuell um die 50.000 Kinder mit dieser Entwicklungsstörung, wovon rund ein Viertel von frühkindlichem Autismus betroffen ist. Diese Form des Autismus äußert sich bei jedem Betroffenen anders, ist aber definitiv die schwerwiegendste Art und ohne Aussicht auf Heilung. Die Krankheit kann relativ rasch erkannt werden, spätestens erfolgt die Diagnose aber im dritten Lebensjahr. Diesen Kindern fällt nicht nur die Interaktion mit Gleichaltrigen, sondern sogar die mit den eigenen Eltern schwer. Sie haben ohnehin wenig Interesse daran, sich mit anderen Menschen zu umgeben. Außerdem haben sie eine verzögerte oder ausbleibende Sprachentwicklung und wenn sie sprechen, hat ihre Stimme oft eine ungewöhnliche Melodie. Da von ihrer Gestik oder Mimik wenig abzuleiten ist, müssen sie anders auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen. Das geschieht dann beispielsweise dadurch, dass sie die Person an den gewünschten Ort führen und auf das Problem zeigen. Wenn das noch möglich ist, denn autistische Kinder weinen oft auch ohne ersichtlichen Grund oder erleben Wutausbrüche ohne erkennbaren Auslöser. Dass es an einer minimalen Verschiebung im Tagesablauf oder an einem leicht von der Norm abweichenden Mittagessen liegt, ist schließlich oft nur für das Kind selbst einleuchtend. Sie aus so einer emotionalen Aufregung wieder zu beruhigen, ist fast unmöglich, schließlich können sie nahezu keinem Blickkontakt standhalten und wehren sich sogar gegen eine Umarmung der eigenen Eltern. Da hat eine Elementarpädagogin keine Chance. Sollte sich der Trend fortsetzen und wir es mit immer mehr autistischen Kindern zu tun bekommen, brauchen wir in den Bildungseinrichtungen also dringend mehr eigens geschultes Personal.

Kinder werden immer anhänglicher und unselbstständiger

Eltern haben immer weniger Zeit und Energie, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Kinder, die viel Zeit alleine verbringen müssen, werden nicht etwa besonders selbstständig, sondern ganz im Gegenteil, immer anhänglicher und unselbstständiger. Zum einen suchen diese Kinder auffallend viel Kontakt zu erwachsenen Menschen in ihrer Umgebung, da sie sich erhoffen, in ihnen jene Sicherheit zu finden, die ihnen zu Hause fehlt. Und zum anderen sind sie schlichtweg hilflos, finden sich oftmals nicht zurecht und brauchen für jeden noch so kleinen Schritt eine Anweisung. Selbstständigkeit hat ihnen niemand beigebracht.

Diese Hilflosigkeit und Unselbstständigkeit haben mich als Lehrerin oft schockiert. Ganz besonders deutlich erinnere ich mich an ein Erlebnis bei einem Projektausflug. Wir übernachteten in einer Jugendherberge. Nachts um elf stand plötzlich ein verloren wirkender Schüler im Pyjama am Gang.

Er erklärte mir, er sei noch nicht auf sein Zimmer gegangen, weil ihm noch niemand gesagt habe, dass Schlafenszeit sei. Von einem fast zehnjährigen Kind hätte ich mir natürlich erwartet, dass es selbst einschätzen und wissen kann, dass es um elf Uhr bereits im Bett sein sollte, wie alle anderen auch. Aber anscheinend brauchen Kinder heutzutage für alles eine Anweisung.

Als mir die Situation später erneut durch den Kopf ging, fiel mir der kleine Johannes wieder ein, den ich damals im Kindergarten zum Zeichnen motivieren musste. Er hatte bei seiner Baum-Zeichnung ebenso verunsichert gewirkt, mich während des Prozesses mehrmals gefragt, ob dieser Ast so passe oder dieses Blatt so stimme, und konnte genau wie später der Volksschüler am Gang keine selbstständigen Entscheidungen treffen. Johannes´ Verhalten empfand ich damals zwar als durchaus ungewöhnlich, aber nicht als weiter beachtenswert. Doch wenn sich ein Schulkind so unselbstständig und zutiefst verunsichert verhält, ist das besorgniserregend. Wenn der Junge bis jetzt nicht zur Selbstständigkeit erzogen wurde, wann soll er sie noch lernen? Und wenn er sich bei so kleinen Entscheidungen schon schwertut, wie soll er später im Erwachsenenalter über weitaus größere Dinge urteilen und entscheiden können?

Kinder sind nicht mehr teamfähig

Emilie liebt Prinzessinnen. Zumindest hat sie mir das am ersten Tag nach den Ferien ganz stolz erzählt, während sie in ihrem pinken Prinzessinnen-Kleid Pirouetten drehte. »Ich spiele jetzt mit Johanna und Aisha Verstecken, das haben sie mir nämlich gestern schon versprochen.« Es tut gut, sie einmal so glücklich zu sehen. Ansonsten beobachte ich sie meist nur, wie sie auf der Schaukel sitzt und den Kopf hängen lässt. Ihre Eltern verspäten sich bereits zum zweiten Mal diese Woche. Und es ist erst Dienstag.

Sie hüpft also ganz stolz auf die zwei älteren Mädchen zu, die schon bald in die Schule kommen. »Mein Prinzessinnen-Kleid ist viel schöner.« »Meines hat Diamanten und ist viel zu wertvoll, um es im Kindergarten anzuziehen.« »Außerdem sieht deine Schleife komisch aus!« Damit stehen sie auf und gehen. Nur Emilie bleibt in der Mitte der Wiese alleine zurück. Es hätte mich ohnehin gewundert, wenn sie es heute erstmals geschafft hätte, sich in die Gruppe einzugliedern, denn auch sie ist kein unbeschriebenes Blatt. Sie ist ebenso neidisch wie die anderen und auch sie hätte am liebsten in jeder Situation das Sagen.

Emilie ist außerdem ein Paradebeispiel für die geringe soziale Kompetenz, zu der heutzutage viele Kinder neigen. Denn anstatt einfach zu fragen, ob sie auch mitspielen kann, fängt sie an, die anderen zu ärgern oder ihnen die Spielsachen wegzunehmen. Ein geschultes Auge versteht, dass sie auf diese Weise probiert, ins Team aufgenommen zu werden. Aber wie soll ein anderes Kind das wissen? Also reagiert es abweisend oder provoziert sogar einen Streit. Zusammenarbeiten und kooperieren? Fehlanzeige! Diese zwischenmenschlichen Beziehungen sind geprägt von eifersüchtigem Denken, konkurrierendem Verhalten und dominierendem Handeln. »Einer für alle, alle für einen!«, war das Motto der Musketiere. Aber hier herrscht das Motto: »Einer gegen alle, alle gegen einen!« Wir Erwachsenen sollten uns dringend fragen, woher das kommt.

Ich mache mir Sorgen um die Zukunft

Kinder denken immer eingeschränkter, brauchen aber gleichzeitig mehr Freiheiten. Sie können nicht mehr auf Autoritätspersonen hören, sind aber trotzdem auf detaillierte Instruktionen angewiesen. Sie können nicht mehr im Team zusammenarbeiten und wollen trotzdem dazugehören. Was soll aus diesen Kindern werden, wenn sie nicht mehr von Pädagoginnen und Pädagogen an die Hand genommen werden können, sondern eigenständig im Erwachsenen-Leben Fuß fassen müssen?

Zunächst wird es Kindern, die nie eine stabile Bindung erfahren durften, schwerfallen, selbst eine gesunde Beziehung zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin aufzubauen. Sie werden in ihrem Leben von einer Person zur nächsten wechseln und vielleicht niemals in der Lage sein, eine eigene Familie zu gründen. Und wenn das doch der Fall sein sollte, werden die eigenen Probleme an die nächste Generation weitergegeben.

Doch nicht nur ihr privates Leben wird von Diskontinuität geprägt sein. Auch in ihrem Berufsleben wird der ein oder andere Wechsel stattfinden. Und wenn sie nicht selbst aufgeben und vorzeitig kündigen, wird ihnen von höherer Instanz keine andere Wahl gelassen werden. Denn welcher Chef will schon eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter, die oder der nur nach Lust und Laune arbeitet und sich nicht an Anweisungen hält?

Die Kinder von heute sind das Fundament unserer Gesellschaft. Bricht es ein, werden wir alle mit ihnen untergehen. Diese Kinder sind dafür zuständig, uns in der Pension zu versorgen, aber daran glaube ich mittlerweile nicht mehr. Diesen Kindern muss geholfen werden, um uns allen zu helfen.

Familie und Beruf zu vereinbaren, ist schwierig

Eltern wissen: Kinder zu haben bedeutet nicht nur viel Freude, es ist zwangsläufig mit Verzicht verbunden. Heutzutage können Kinder den ganzen Tag im Kindergarten verbringen. Nach der Schule geht es für die meisten in den Hort, wo sie zu Mittag essen, ihre Hausübungen machen und sich im Garten austoben können. Es kommt ein sattes und zufriedenes Kind nach Hause, das für den nächsten Tag bereits alles erledigt hat. Die einzige Aufgabe, die den Eltern dann noch zukommt, ist, einen Blick in das Mitteilungsheft zu werfen oder die verschimmelte Brotdose aus dem Rucksack zu nehmen, und oft funktioniert nicht einmal das, ohne dass sie seitens des Kindergartens nicht mindestens einmal daran erinnert werden. Nach der Arbeit bleibt oft kaum noch Energie übrig und die Kinder werden mit einem »Ich bin müde. Wir machen das ein andermal« vertröstet.

Uns ist völlig klar, dass es wahnsinnig schwierig und manchmal fast unmöglich ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Aber wer das psychische und körperliche Wohl des eigenen Kindes schützen möchte, muss sich selbst und seine Karriere zumindest in der Eingewöhnungszeit hintanstellen. Dann muss sich Mama oder Papa für einen guten Start in den Kindergarten eben ein paar Tage freinehmen. Sie oder er sollte es möglich machen, die Arbeit an den ersten Schultagen schon zu Mittag zu verlassen, um das Kind abzuholen. Dafür brauchen Eltern Verständnis und Entgegenkommen der Arbeitgeberschaft.

Es sind nicht viele Jahre, in denen die Eltern zurückstecken müssen, aber in dieser Zeit ist es umso wichtiger, für das Kind da zu sein. Denn im Grunde geht es immer um Sicherheit. Wenn die Kinder in den ersten drei Jahren das Gefühl haben, in Sicherheit zu sein, dann wird alles gut. Diese Kinder werden die normalen Entwicklungsphasen durchlaufen und auch ohne großes Zutun emotionale, körperliche und soziale Fortschritte machen.

Außerdem ist es nicht nur für die Kinder ein prägender Abschnitt, sondern auch für die Eltern selbst. Schließlich platzt ein Vaterherz fast vor Stolz, wenn der Nachwuchs die ersten tapsigen Schritte durchs Wohnzimmer macht oder beginnt, nach Dingen zu greifen. Mütter erleben einen emotionalen Höhenflug, wenn das Kind anfängt, zu brabbeln oder seine verschiedenen Gesichtsausdrücke ausprobiert.

Und wie viele Eltern wünschen sich im Nachhinein, mehr Zeit mit ihren Kindern verbracht zu haben? Wie viele Eltern machen sich irgendwann Vorwürfe, sich in diesen Jahren nur auf die Arbeit fokussiert zu haben? Und bei wie vielen Eltern fällt irgendwann der Satz: »Ich wünschte, du wärst noch einmal so klein wie damals.« Aber im Moment der Realisation ist es bereits zu spät. Zu spät für die Kinder, um von ihren Eltern zu lernen, und zu spät für die Eltern, ihre Kinder aufwachsen zu sehen.

Vielleicht lohnt es sich, dafür auf ein wenig Einkommen zu verzichten? Vielleicht können beide Eltern ein wenig länger zu Hause bleiben. Es wird sich auszahlen. Denn auch, wenn diese Zeit von viel Stress, vielen Selbstzweifeln und wenig Schlaf geprägt ist, werden diese Eltern am Ende des Tages belohnt. Sie können sich Besuche beim Psychologen und regelmäßige Termine bei Pädagoginnen, Direktorinnen, dem Familienservice oder der Nachhilfe sparen und sich stattdessen später wieder auf sich selbst und ihre beruflichen Ziele fokussieren.

Karriere und Kind müssen sich also grundsätzlich nicht ausschließen. Die Politik muss es den Eltern leichter machen und sie finanziell unterstützen. Denn im Endeffekt profitieren alle davon, wenn in den ersten Jahren so viel Zeit wie möglich zusammen verbracht wird: die Kinder, die Eltern, die Beschäftigten der Bildungseinrichtungen und letzten Endes auch die Gesellschaft – also wir alle.

Der Druck des Staates hat verheerende Folgen

Wie wichtig diese ersten Jahre sind, ist offensichtlich nicht nur den Eltern, sondern auch dem Staat nicht bewusst. Oder es wird schlichtweg ignoriert. Denn seitens der Politik wird weiterhin großer Druck auf frisch gebackene Mütter und Väter ausgeübt. Wenn diese sich lieber auf das Kind fokussieren und sich in ihrer Rolle als Mama selbst verwirklichen wollen, wird darauf keine Rücksicht genommen. Zu wichtig ist angeblich die volle Einsatzfähigkeit einer Arbeitskraft und zu anstrengend ist die Wiedereinarbeitung einer Angestellten, die lange ferngebliebenen ist. In den meisten Berufen unterscheiden die Vorgesetzten daher auch nicht zwischen Frauen mit und jenen ohne Kinder.

Die meisten Familien sind während der Elternkarenz auf die finanzielle Unterstützung des Staates angewiesen. Aber um diese voll zu erhalten, müssen sie bestimmte Bedingungen einhalten. Und so lobenswert es auch ist, dass die österreichische Politik auf dem Papier eine Gleichstellung beider Elternteile erreichen will, bedeutet das in der Realität, dass die völlig ausgelaugte Mutter nach der Elternkarenz die folgenden zwei Monate von einem Tag auf den anderen als Vollzeitkraft in der Arbeit bleiben muss und stattdessen der Vater in Elternkarenz geht, um auf einmal den ganzen Tag für das Kind zuständig zu sein. Wie die Eltern und vor allem wie das Kind das findet, danach wird hier nicht gefragt.

Diese familienpolitischen Regelungen werden langfristig dafür sorgen, dass sich zukünftig die gesellschaftspolitischen Probleme häufen werden. Doch an die Schwierigkeiten, die damit ausgelöst werden, wird kein Gedanke verschwendet. Darum soll sich wohl die zukünftige Generation von Politikerinnen und Politikern kümmern. Aber ob die Folgen dann noch auszubügeln sind, ist mehr als fraglich.«

Hier endet der Bericht meiner geschätzten und erfahrenen Kollegin. Vielleicht klingt er an manchen Stellen wütend, verbittert und vorwurfsvoll, aber das ist meiner Meinung nach auch mehr als verständlich, wenn man sieht, welche Probleme es gibt, stets darauf hinweist, aber seitens der Politik nichts passiert. Wer in unserem Beruf arbeitet, tut dies nicht wegen des Geldes. Sowohl im Kindergarten als auch in der Volksschule sind die Löhne vergleichsweise niedrig. Wir tun es, weil wir Kinder lieben und sie auf ihrem Weg begleiten wollen. Die Jahre, die sie bei uns verbringen, sind prägend für das ganze Leben. Hier werden die Weichen gestellt. Umso schmerzlicher ist es für uns, zu sehen, wie schlecht es sehr vielen Kindern geht.

Wie konnte es so weit kommen? Blicken wir im folgenden Kapitel einmal zurück und versuchen wir zu verstehen, was schiefgelaufen ist.