In den meisten der 4.500 österreichischen Kindergärten läuft jeden Tag das gleiche Spielchen ab. Nach und nach hängt an jedem Haken eine Jacke, im Flur türmen sich die bunten Hauben und Kappen, in jeder Ecke liegt ein Rucksack und im Gruppenraum wuseln 25 Kleinkinder herum. Die eine Hälfte frühstückt, ein paar gehen unerlaubt hinaus in die Außenbereiche und ein Kind ist höchst verzweifelt, weil der Papa nach einer halben Stunde Kuscheln dann doch den Weg in die Arbeit antreten musste. 25 Probleme und eine Pädagogin. Um zu verstehen, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann, muss man wahrlich kein Mathegenie sein.
Ganz anders sieht es da in den skandinavischen Ländern aus, die ihr Kindergartensystem schon vor mehreren Jahrzehnten revolutioniert haben. Der Grund dafür liegt in der dort früher steigenden Zahl der erwerbstätigen Mütter. Anstatt ihnen Steine in den Weg zu legen, hat die schwedische Regierung Lösungen erarbeitet, damit sich ein liebevolles Familienleben und eine blühende Karriere nicht weiterhin ausschließen müssen.
Hierfür steht man den Frauen bereits vor der Geburt ihres Kindes unterstützend zur Seite und nimmt ihnen die Angst, aufgrund einer Schwangerschaft den Job zu verlieren. Denn es ist gesetzlich verankert, dass sich eine Schwangerschaft nicht negativ auf den Bewerbungsprozess auswirken und erst recht nicht der Grund für eine vorzeitige Entlassung sein darf.
Und auch die Elternzeit ist anders geregelt als in Österreich, wo die Elternkarenz maximal 24 Monate beträgt, wenn beide Elternteile gehen. In Schweden hingegen stehen den Eltern grundsätzlich sechzehn Monate zu, wovon 480 Tage bezahlt sind. Von diesen sechzehn Monaten sind maximal vierzehn auf den Partner übertragbar, um eine beidseitige Beteiligung an der Kindererziehung zu fördern. Diese möglichst gerechte Aufteilung der Karenz unterstützt Schweden seit 2008 mit dem Gender-Equality-Bonus sogar finanziell. Diese Gleichstellung beider Elternteile findet aber nicht nur im Gesetzbuch statt, sondern wird tatsächlich auch gelebt. Denn während in Österreich nicht einmal ein Fünftel aller Väter die Karenzzeit in Anspruch nimmt, verzichtet in Schweden lediglich einer von zehn Vätern darauf.
Dieses System ist für alle Beteiligten nur mit Vorteilen verbunden. Die Frau hat weiterhin alle Karrierechancen und muss sich während der Arbeit nicht wie eine Rabenmutter fühlen, während der Mann die Möglichkeit bekommt, sein Kind richtig kennenzulernen und es aufwachsen zu sehen. Und am meisten profitieren natürlich die Kinder, wenn sie von beiden Parteien in ähnlichem Ausmaß betreut werden.
Nach dieser wertvollen Elternzeit besucht der Großteil der Kinder einen Kindergarten. Dafür steht jedem Kind ab dem ersten Lebensjahr gesetzlich ein Kindergartenplatz zu, der von der eigenen Kommune innerhalb von vier Monaten zur Verfügung gestellt werden muss. Dort können die Kinder, zumindest wenn beide Elternteile eine Vollzeitstelle belegen, den ganzen Tag verbringen. Wenn Betreuung gebraucht wird, ist Betreuung da. Wenn nötig außerhalb der regulären Öffnungszeiten und sogar am Wochenende oder über Nacht. Und auch in anderen Bereichen stellen sich die Bildungsplätze auf die Kapazitäten der Eltern ein und nicht umgekehrt. Zum Beispiel müssen Familien, die weiter vom Kindergarten entfernt leben, nicht eine Stunde früher aufstehen, um das Kind noch vor Arbeitsbeginn dort abzuliefern, sondern sie können es ruhigen Gewissens in die Obhut des Fahrdienstes übergeben. Und wenn sie das Kind dann nach der Arbeit wieder abholen, können sie sich sogar noch eine Portion des Mittagessens mitnehmen. Denn hier werden nicht nur die Kinder vom hauseigenen Koch mit nahrhaftem Essen versorgt, sondern, wenn gewünscht, eben auch die Eltern.
Die Bezahlung für diesen umfassenden Service ist von der Höhe des Einkommens abhängig, beträgt aber für das erste Kind maximal 1.260 schwedische Kronen – das sind ungefähr 111 Euro – im Monat und nimmt bei jedem weiteren Kind linear ab. Ab dem vierten Kind müssen dann keine finanziellen Abgaben mehr geleistet werden.
Obwohl schwedische Kinder also von Anfang an
viel Zeit in Fremdbetreuung verbringen, scheinen
sie davon keine Schäden davonzutragen.
Woran kann das liegen?
Weil nicht nur auf das Wohl der Kinder und der Eltern Wert gelegt wird, sondern auch der Berufsweg und schließlich der Alltag der schwedischen Kindergarten-Fachkräfte stark von denen in Österreich abweichen.
Der erste Unterschied findet sich bereits in der Ausbildung, die in Österreich auf Fachschulen, in Schweden hingegen bereits seit 1977 auf Universitäten stattfindet. Und auch sonst gleicht sich die Ausbildung dort immer mehr der von schulischen Lehrkräften an. Durch diese institutionsübergreifenden Grundsätze im Curriculum soll die Zusammenarbeit von Kindergarten-Fachkräften und Lehrerinnen gefördert werden, um eine optimale Entwicklung vom Krabbelkind bis zum Schulabgänger zu gewährleisten.
Was jedoch einen weitaus größeren Effekt hat, ist der Fachkraft-Kind-Schlüssel, und damit die Qualität.
Bei den Kleinsten, also den unter Dreijährigen,
kommt eine Fachkraft durchschnittlich auf drei
Kinder und auch bei den Größeren ist eine
Person für maximal fünf Kinder zuständig.
Damit Kinder glücklich und zufrieden sind und wir Pädagoginnen und Pädagogen gut arbeiten können, brauchen wir starke Bindungen und Beziehungen. Und das geht nur mit einem guten Fachkraft-Kind-Schlüssel. Im Kindergarten legen wir das Fundament in der jeweiligen Bildungsbiografie eines Kindes. Das alles geht aber nur, wenn wir genug Personal, Zeit und Raum haben.
In den schwedischen Kindergärten hat außerdem die Kommunikation mit den Eltern einen höheren Stellenwert als bei uns. Bei uns sind leider zweiminütige Gespräche zwischen Tür und Angel die Norm. Da ist gerade einmal genug Zeit, zu sagen, dass das Kind ein frisches Wechselgewand bräuchte. Für ganzheitlichere Themen bleibt oft keine Zeit, auch wenn es die Möglichkeit von Entwicklungsgesprächen gibt. In Schweden organisieren die Kindergärten dagegen regelmäßige, häufige Elternabende, bei denen sie mit den Eltern über den Entwicklungsstand des Kindes sprechen. Warum ist das so wichtig? Wenn wir wissen, was zuhause gerade los ist, können wir besser auf das Kind eingehen. Wenn die Eltern wissen, wie sich das Kind im Kindergarten verhält, was es gerade lernt und mit wem es spielt, verstehen sie ihr Kind besser. So sieht eine optimale Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Erziehungsberechtigten aus.
Eine weitere schwedische Spezialität ist die Rolle der Natur. Dort kann der Mittagsschlaf an einem verschneiten Tag auch einmal in einem witterungsgeschützten Unterstand draußen abgehalten werden.
Manche Eltern gehen einen Schritt weiter und schicken ihr Kind von Anfang an in einen Waldkindergarten, von denen es in Schweden deutlich mehr gibt als bei uns. Dort verbringen die Kinder den gesamten Tag im Freien, in der Fabrik hergestellte Spielzeuge gibt es nicht. Sie spielen mit allem, was sich in der Natur finden lässt, und wenn ein Kind eine Puppe haben will, muss es sich eben eine basteln.
Wer nun glaubt, dass sich diese Kinder in verwilderte Waldmenschen verwandeln, die mit den Fingern essen und kein vernünftiges Gespräch führen können, irrt gewaltig.
Die täglichen Natur-Erlebnisse konfrontieren sie immer wieder aufs Neue mit unbekannten Dingen und Herausforderungen. Sie hinterfragen und lernen dabei auch sprachliche Kompetenzen. Sie erleben Herausforderungen und bewältigen sie im Team, was ihre soziale Entwicklung fördert. Das macht diese Kinder nicht nur kommunikativer, sondern auch kooperativer. Der intensive Kontakt mit der Natur fördert ihre Kreativität und Motorik. Schließlich bauen sie hier täglich Verstecke aus Ästen und Blättern, sie pflücken Blumen oder basteln kleine Tierchen aus selbst gesammeltem Holz.
Und zu guter Letzt hat der Waldkindergarten viele Vorteile für die körperliche Entwicklung, denn im Wald sitzen die Kinder viel weniger. Langes Sitzen ist ohnehin nicht kindgerecht. Hier balancieren sie über rutschige Äste, springen über Steine, klettern auf Bäume oder kriechen in Höhlen.
Wer jeden Tag mit einer Umgebung konfrontiert ist, die sich im Lauf der Jahreszeiten täglich wandelt, der entwickelt natürlich ein besseres Körpergefühl als jene Kinder, die nur den rutschfesten Zimmerboden kennen.
Studien bestätigen die positiven Effekte des Waldkindergartens. Die Kinder können sich im Schnitt besser konzentrieren, schließen schneller Freundschaften und arbeiten lösungsorientierter.
Österreich ist von so einem System, bei dem ein Zahnrad geschmeidig ins nächste greift und von dem alle profitieren, weit entfernt. Denn um das zu erreichen, müssten wir nicht nur mehr investieren, sondern wir müssten auch die Gesetzgebung von Grund auf verändern. Warum tun wir es nicht endlich? Sind die geschilderten Zustände in den Kindergärten nicht alarmierend genug?
Natürlich finden solche weitreichenden Veränderungen nicht von heute auf morgen statt, es wäre ein langer Prozess, bis sich alles einpendelt. Und gerade deshalb müssten Menschen an der Spitze der Regierung stehen, die das Problem erkennen und bereit sind, die Verantwortung dafür mitzutragen. Aber vor allem müssen sie endlich erkennen, dass die Kinder die Zukunft Österreichs sind.
Momentan denken die meisten Politikerinnen und Politiker in der Regierung leider überhaupt nicht zukunftsorientiert.
Sie erkennen den Wert der Kinder nicht.
Aktuell fließen im Durchschnitt erbärmliche
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die
elementare Bildung.
Damit liegt Österreich sogar unter dem EU-Durchschnitt und ist von dem, was die schwedische Politik in ihre Kindergärten investiert, natürlich weit entfernt. Und auch wenn Österreich nicht die blau-gelbe schwedische Flagge schwenken und alle Kinder ganztags im Freien spielen lassen wird, muss endlich etwas passieren. Aber was?
Doch vor diesem Problem verschließt die Politik die Augen und wundert sich dann, warum immer weniger Menschen den Beruf ausüben wollen oder frühzeitig einen Wechsel antreten.
Die Beschäftigten sind überlastet,
frustriert und hoffnungslos.
Überlastet, weil sie die Verantwortung für zu viele
Kinder gleichzeitig tragen. Frustriert, weil sie den
Kindern nicht das bieten können, was sie gerne
möchten. Und hoffnungslos, weil sie in naher
Zukunft nicht mit Änderungen rechnen. Weder
im politischen noch im gesellschaftlichen Sinne.
Denn nicht nur in der Politik muss sich endlich etwas tun, sondern auch in den Köpfen der Menschen muss endlich der Groschen fallen. Apropos Groschen: Nur weil der Kindergarten kostenlos ist, ist er noch lange nicht nichts wert – im Gegenteil. Die Allgemeinheit muss endlich anfangen zu akzeptieren, dass die Beschäftigten der Bildungseinrichtungen einen elementaren Part in der Entwicklung der Kinder darstellen und sie damit die Stützen der Gesellschaft bilden. Und dementsprechend wollen sie auch entlohnt und vor allem wertgeschätzt werden.
Schließlich sind sie es, die tagtäglich einem hohen Lärmpegel ausgesetzt sind, die körperliche Beschwerden in Kauf nehmen und in einem psychisch belastenden Umfeld arbeiten. Trotzdem wird auf gute Arbeits- und Rahmenbedingungen weiterhin keine Rücksicht genommen.
Dabei sind sie es, die eine neue Generation ausbilden, die probieren, die unterlassenen Leistungen vieler Eltern auszubügeln und die quasi an vorderster Front vor dem Zusammenbruch der Gesellschaft stehen. Trotzdem heißen sie im Volksmund noch belächelnd »Spieltanten«.
Wenn sich all das nicht bald ändert, ist es nur
noch eine Frage der Zeit, bis sie endgültig das
Handtuch werfen.
Jeder Mensch kann sich mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ein Auto kaufen, aber niemand wird es ohne Führerschein fahren. Schließlich muss man zuvor Kurse besuchen und Prüfungen ablegen, um einem Unfall vorzubeugen und Strafzettel zu vermeiden.
Jeder mit den körperlichen Voraussetzungen kann jedoch ein Kind bekommen. Aber weil es keinen Eltern-Führerschein gibt, werden viele Kinder von Unwissenden erzogen – beziehungsweise verzogen. Denn bei einem Baby ist nicht einmal der Geburtsvorbereitungskurs verpflichtend, er wird den werdenden Müttern lediglich empfohlen. Und wenn sie diesen nicht für nötig erachten oder keine »Zeit damit verschwenden wollen«, weil sie glauben, dass sie in diese Rolle ohnehin hineinwachsen, müssen sich Eltern kein Buch durchlesen, keiner Expertin zuhören und kein Seminar besuchen, um sich auf diese Aufgabe vorzubereiten.
Ist es nicht grotesk, dass die Politik um das
Wohl eines Autos anscheinend besorgter ist
als um das eines Kindes?
Zum Glück reagieren die meisten Eltern in den meisten Situationen ohnehin intuitiv richtig. Nichtsdestotrotz ist auch die beste Mutter oder der beste Vater, die oder der zig Erziehungsratgeber gelesen hat, manchmal überfordert. Und da man ein Kind nicht einfach in die Werkstatt schicken kann, wenn man mit der Erziehung gegen die Wand fährt, sollte das Angebot für werdende Eltern ausgebaut und attraktiver gestaltet werden. Denn obwohl es Beratungsstellen gibt, werden diese nur von den wenigsten aufgesucht, da sie für viele eher für einen komplett verzweifelten Hilferuf stehen und leider nicht für verantwortungsvolles Verhalten.
Nachdem sich anscheinend viele Eltern mehr um ihren guten Ruf als um das Wohlergehen ihres Kindes sorgen, sollte das Besuchen eines Kurses, der das Grundwissen vermittelt, verpflichtend sein. Nur so können wir sicherstellen, dass wir möglichst viele Eltern über Themen wie Erziehung, Gesundheit, richtige Ernährung, kindliche Entwicklung, Kommunikation oder Konfliktmanagement aufklären. Außerdem können wir besonders im Gespräch mit Expertinnen Vorschläge diskutieren und Lösungswege finden. Das beugt einer möglichen Überforderung seitens der Eltern vor und unterstützt ein behütetes Aufwachsen seitens der Kinder.
Neben den erwähnten Erziehungsthemen, die bereits vor hundert Jahren wichtig gewesen wären, wurde in den letzten Jahrzehnten vor allem das Thema Digitalisierung in vielen Familien präsenter. Deshalb ist es unerlässlich, Eltern über die Risiken, die Medien bieten, aufzuklären. Denn nur, wenn sie über die Gefahren Bescheid wissen, können sie ihren Kindern einen richtigen Umgang mit den technischen Geräten vermitteln und sich darüber informieren, welche Beschränkungen sie einrichten sollten.
Mittels Apps wie Kids Place ist es möglich, die Medienzeit zu begrenzen. Außerdem lassen sich gewisse beliebte Apps kinderfreundlich einrichten, um zu verhindern, dass sie gefährliche Inhalte konsumieren.
Letzten Endes ist aber vor allem das eigene Verhalten der Eltern entscheidend. Wir Erwachsene sollten dem Kind ein gesundes Ausmaß an Medienzeit vorleben. Man kann noch so viel wissen und das Kind noch so sehr mit Information zutexten – wenn Papa oder Mama selbst die ganze Zeit auf das Handy starren, möchte das Kind das natürlich auch und erkennt darin keine Gefahr.
Gerade kleinen Kindern schadet regelmäßiger
Medienkonsum ungemein. Älteren Kindern
das Handy oder Tablet komplett zu verbieten,
könnte aber auch zu einem Problem werden.
Der goldene Mittelweg – kontrollierter Konsum –
kann die Lösung sein.
Leider ist er nicht die Regel. Die meisten Eltern gehen mit dem Thema Medien viel zu leichtfertig um. Sie wollen oder können sich wegen sprachlicher oder intellektueller Hürden nicht informieren. Oft kriegen sie deshalb gar nicht mit, was die Kinder an den diversen Geräten so konsumieren. Pädagoginnen und Pädagogen berichten oft von Kindergartenkindern, die auf Netflix oder anderen Streaming-Plattformen schon ganz auf sich alleine gestellt Inhalte für Erwachsene konsumieren, wie Horrorfilme. Und das kommt in allen Schichten vor, unabhängig von Bildungsgrad und Einkommen.
Die Kinder zu sensibilisieren, mit ihnen zu reden und auch immer wieder Nein zu sagen, wenn sie fernsehen oder am Tablet spielen wollen, ist für Eltern natürlich mühsam. Aber es ist auch dringend notwendig!
Wer seine Kinder stundenlang im blauen Schein des Fernsehers oder Tablets sitzen lässt, braucht sich später nicht zu wundern. Wir Pädagoginnen und Pädagogen erleben die Folgen jeden Tag: Kindergartenkinder, die noch nicht sprechen können, sich verhaltensauffällig zeigen oder linkisch bewegen. Schulkinder, die sozial unterentwickelt sind und deshalb andere ausschließen und mobben.
Kinder als Opfer der allgegenwärtigen digitalen Medien. Noch können wir das Ruder herumreißen. Noch ist es nicht zu spät.