Kapitel 6

Krisen über Krisen

Früher war alles besser? Das machen wir uns zu leicht. Jammern kann jeder. Aber es ist eine Tatsache, dass heute viele Dinge ins Wanken geraten sind. Die Krisen in unserem Land und in der Welt häufen sich. Alles wirkt beschleunigt, hektisch, hysterisch. Bei vielen hinterlässt das ein Gefühl der Überforderung und der Erschöpfung. Kein Wunder also, dass auch Familien, Kinder und Kindergärten davon nicht verschont bleiben. Alles hängt zusammen. Wenn die Eltern wegen diverser Krisen wie Corona, Klimawandel, Inflation und Kriegen aus dem Gleichgewicht geraten, spüren das die Kleinsten oft am deutlichsten. Und sie reagieren. Und das macht es für die Eltern und für uns Pädagoginnen und Pädagogen noch schwieriger. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Auswirkungen der drei größten Krisen: Inflation, Klimawandels und Coronapandemie. Wie wirken sie sich auf Familien, Kinder und Kindergärten aus? Was können wir tun, um ihre teilweise verheerenden Folgen abzufangen und wieder einen guten Weg zu finden?

Die Inflation macht Kinder dick & krank

1. Pommes vor dem Fernseher

Die Teuerungskrise macht Kinder immer dicker. Klingt unlogisch? Wäre es nicht naheliegender, dass finanzschwache Eltern wegen teurer Lebensmittelkosten nicht mehr genug zu essen kaufen können? Tatsächlich ist die Inflation einer der Gründe, warum Übergewicht bei Kindern deutlich zunimmt. Während es früher in jeder Klasse durchschnittlich ein übergewichtiges Kind gab, welches komisch beäugt wurde, fällt heute oft eher das einzige schlanke Kind im Klassenzimmer auf.

Wie hängt das zusammen? Während das Leben immer teurer wird, bleibt das Gehalt gleich. Und obwohl sich momentan die meisten Menschen diesem Dilemma stellen müssen, sind Menschen mit Kindern einem noch höheren Druck ausgesetzt. Sie müssen nicht nur ihren eigenen, sondern noch weitere Mägen füllen. Als eine der Folgen stocken viele Eltern ihre Wochenarbeitszeit auf und verbringen immer mehr Zeit in der Arbeit und immer weniger Zeit zuhause. Nach einem langen Arbeitstag noch kurz vor Ladenschluss in den Supermarkt zu hetzen, um frische Lebensmittel einkaufen zu gehen und sich anschließend stundenlang hinter den Herd zu stellen, ist da verständlicherweise bei vielen nicht mehr drin. Um die Familie satt zu bekommen, lagern in den Küchenschränken verschweißte Großpackungen von Fertiggerichten, in der Tiefkühltruhe stapelt sich eine Industriepizza auf die nächste. Und wenn die Familie doch einmal gemeinsam essen geht, führt der Weg zum McDonald‘s ums Eck. Ein Hamburger dauert nur wenige Minuten und stellt damit zeitmäßig jede Tiefkühlpizza in den Schatten. Das ist zwar eine warme Mahlzeit, aber der Nährwert ist gleich null und langfristig schadet Fastfood der Gesundheit massiv, das wissen wir eigentlich alle.

In gestressten Familien, in denen schon die Zeit für die Zubereitung eines gesunden und schmackhaften Abendessens fehlt, ist an einen Ausflug in den Park erst gar nicht zu denken. Stattdessen werden die quengelnden Kinder, die seit Stunden in der Wohnung hin und her rennen, mit einem Teller Pommes vor den Bildschirm gesetzt, damit sie endlich Ruhe geben. Wenn sich das von der Ausnahme zur Regel entwickelt, verlieren sie bald komplett ihr Gefühl für das Essen. Sie können nicht mehr einschätzen, wann sie Hunger haben und wann nicht und schaufeln so einfach alles in Reichweite Liegende in sich hinein.

Diese Kombination aus falscher Ernährung, unbewusstem Essen und Bewegungsmangel führt schlussendlich zu einer erschreckenden Statistik: Mittlerweile ist jedes vierte Volksschulkind übergewichtig. Buben aus dem städtischen Umfeld sind besonders gefährdet.

2. Armut isoliert Kinder

Doch nicht nur das Essverhalten leidet unter der finanziellen Not der Eltern. Denn während die Geldprobleme immer größer werden, wird die Wohnfläche immer kleiner. Das ist für die Kleinsten, die ohnehin meist die Nähe zu den Eltern suchen und es lieber kuschlig haben, noch nicht so problematisch. Aber spätestens, wenn Kinder anfangen, sich von ihren Eltern abzukapseln, brauchen sie einen Rückzugsort. Stattdessen leben viele in einer winzigen Kammer, die eine Kombination aus Kinderschlafzimmer und Arbeitszimmer der Eltern darstellt, die vielleicht sogar noch mit Kisten vollgeräumt als Abstellraum dient.

Abgesehen von den beengten Verhältnissen, in denen sie aufwachsen müssen, haben diese Kinder auch sonst keine Möglichkeit, sich zu entfalten. Schließlich fehlt ihnen die nötige Anregung und die Chance, neue Dinge auszuprobieren. Denn sie haben nur ein paar wenige Bücher im Regal stehen und auch die Auswahl an Spielsachen fällt spärlich aus. Sie sind weder Teil eines Fußballvereines, noch können sie einmal in der Woche ihre Freundinnen und Freunde bei der Probe des städtischen Kinderchores treffen, weil für diese Freizeitaktivitäten das Geld einfach nicht reicht.

Sie erfahren schlichtweg keine Förderungen und das schlägt sich in allen Bereichen nieder. So spricht fast die Hälfte der in einkommensschwachen Familien aufwachsenden Kinder nur lückenhaftes Deutsch. Auch in anderen kognitiven Kompetenzen liegen sie eindeutig unter dem Durchschnitt. Zusätzlich weisen sie eingeschränkte soziale Fähigkeiten auf, sind schnell überfordert und verdrängen Probleme eher, als sie zu lösen. Sie trauen sich nicht, für sich selber einzustehen und ziehen sich schneller zurück. Die fehlende Zeit mit Gleichaltrigen resultiert darüber hinaus in auffälligem Spielverhalten, das von wenig Motivation und nahezu nicht vorhandener Ausdauer geprägt ist.

3. Armut ist erblich

Armut macht Kinder psychisch krank. Schließlich müssen sie nicht nur mit ihren eigenen Problemen und der tagtäglichen Ausgrenzung zurechtkommen, sondern sind durch die Schwierigkeiten ihrer Eltern vorbelastet. Auch wenn sich die Eltern noch so sehr bemühen, vermitteln sie ihre Sorgen oft unbewusst an die Kinder.

Gerade für Kinder einkommensschwacher Familien stellt der Besuch eines Kindergartens eine dementsprechend große Chance dar. Das belegen zahlreiche Forschungsarbeiten, die bei benachteiligten Kindern die größten Entwicklungsfortschritte im Zuge der außerfamiliären Betreuung beobachten. Schließlich haben sie im Kindergarten die Möglichkeit, verschiedene Spielsachen auszuprobieren, neue Freundschaften zu schließen, ihre körperlichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen oder einfach nur einen liebevollen Umgang zu erfahren. Doch gerade sie werden meist erst spät unter die Fittiche der Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen genommen. Die Defizite sind dann häufig nicht mehr auszugleichen und sie werden folglich in der Volksschule nur mehr mühsam mitgeschleift.

Diese Kinder haben den denkbar schlechtesten Start, künftig nicht mehr in Armut leben zu müssen.

Denn eine gute Bildung verspricht bessere Jobangebote und infolgedessen ein höheres Gehalt. Doch diese Chance werden die meisten von ihnen nie bekommen, denn die wenigsten von ihnen werden jemals ein Gymnasium oder gar eine Universität von innen sehen. Und so entwickeln sich in Armut aufwachsende Kinder zu in Armut lebenden Erwachsenen. Sie werden ihre Kinder ebenfalls in prekären Verhältnissen großziehen müssen. Ihnen wird es eines Tages ebenso schwerfallen, aus diesem Teufelskreis auszusteigen.

Der Klimawandel führt zu Frühgeburten

Jeden Tag sterben weltweit über 4.000 Kinder an den Auswirkungen des Klimawandels und unzählbar mehr leiden unter seinen Folgen. Abgesehen von den körperlichen Beschwerden, die durch die Hitze, Luftverschmutzung und extreme Wetterereignisse entstehen, haben Kinder zusätzlich mit psychischen Problemen zu kämpfen. Denn sie bekommen mehr mit, als so mancher Erwachsene vermutet. Sie spüren intuitiv die schwelende Angst, die viele Eltern vor der Zukunft unseres Planeten haben. Und sie reagieren mit Schlafstörungen, Lernschwierigkeiten und anderen Problemen.

Doch der Klimawandel erschwert nicht nur Kleinkindern ein normales Aufwachsen, sondern wirkt sich bereits schädlich auf das Ungeborene aus. Ein Team rund um die Medizinerin Prof. Dr. Petra Arck fand heraus, dass die wachsende Zahl der Frühgeburten mit den steigenden Temperaturen in Zusammenhang steht. Auch wenn der Großteil der Frühchen mittlerweile überlebt und sie die körperlichen Retardierungen in den meisten Fällen über die Jahre aufholen können, weist immerhin noch ein Drittel aller Kinder dauerhafte Probleme auf. Diese liegen hauptsächlich im kognitiven Bereich und fallen oft erst mit dem Eintritt in die Schule auf, wo diese Kinder häufiger Probleme beim Lesen, Schreiben oder Rechnen haben. Außerdem tendieren sie eher zu Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS und liegen mit ihrem Intelligenzquotienten unter dem Mittelwert der Kinder, die zur richtigen Zeit geboren wurden.

Neben den schulischen Leistungen leidet auch ihre Persönlichkeitsentwicklung unter der verkürzten Zeit im Mutterleib, wie Wissenschaftler des Institute of Psychiatry am Londoner King’s College herausfanden. Sie untersuchten über hundert, mittlerweile erwachsene Menschen, die vor der 33. Schwangerschaftswoche zur Welt kamen, und gelangten zu der Diagnose, dass sich Frühchen später ängstlicher und in sich gekehrter verhalten. Und während sich diese Kinder kaum hinter dem Rücken ihrer Eltern hervorzuschauen trauen, kämpfen diese oft wie Löwen für sie. Nicht selten würden sie ihren Zöglingen am liebsten einen Heiligenschein aufsetzen. Sie entschuldigen die ADHS-Diagnose schnell einmal mit kindlicher Energie. Es scheint für diese Eltern nicht von Relevanz zu sein, ob es für ein vierjähriges Kind nicht langsam an der Zeit wäre, selbstständig aufs Klo gehen zu können. Oder dies zumindest artikulieren zu können und nicht nur eigenartige Laute von sich zu geben.

Die Erderwärmung führt also wie viele andere Faktoren zu mehr verhaltensauffälligen und in ihrer Entwicklung massiv beeinträchtigten Kindern.

Kinder der Pandemie

Erinnern Sie sich? Für mehrere Monate haben wir alle den Atem angehalten. Während Erwachsene im Home-Office ihrer Arbeit nachgingen, Berufe nach ihrer Systemrelevanz gestaffelt wurden und ein regelrechter Krieg um Masken und Nudeln ausbrach, versank die Welt im Chaos. Und in dieses nach Desinfektionsmittel riechende und möglichst keimfreie Durcheinander wurden nicht wenige Babys geboren.

Im Gegensatz zu Jugendlichen und Erwachsenen, die sich an viele ungewohnte Beschränkungen halten und an schmerzhafte Veränderungen gewöhnen mussten, war diese seltsame Welt für die Neugeborenen von Anfang an der Normalzustand.

Es war für sie nicht ungewöhnlich, den Großteil ihrer Freizeit auf der Couch in den eigenen vier Wänden zu verbringen, schließlich waren Schwimmbäder, Spielplätze und Sportanlagen geschlossen. Dadurch war ihr motorisches Entwicklungspotential erheblich eingeschränkt und ihr Spielverhalten konnte in vielen Fällen nicht zu Genüge ausgebildet werden.

Es war für sie normal, ausschließlich mit den eigenen Eltern zu kommunizieren und sich weder auf die Gefühle noch auf die Bedürfnisse anderer Menschen einstellen zu müssen. Deshalb sind ihre sozialen Kompetenzen häufig schwächer entwickelt, als es in ihrem Alter normal wäre. Vielen fiel es schwer, sich von ihrem selbstzentrierten Verhalten zu lösen und sich zu einer weltoffenen Persönlichkeit zu entwickeln. Außerdem hinkten sie durch die Isolation der Lockdowns in der sprachlichen Entwicklung hinterher.

Für Kinder war es plötzlich alltäglich, sich nach dem Schuhe-Ausziehen direkt die Hände zu waschen. Im schlimmsten Fall hatten diese Kinder noch nie im Dreck gespielt, wussten dafür aber, wo die Desinfektionstücher aufbewahrt werden.

Für diese Kinder war der erste Besuch im Kindergarten natürlich ein Schock. Auf einmal gab es viele andere kleine Menschen, es durften Sandburgen gebaut und mit Fingerfarben Bilder gemalt werden. Es durfte gekuschelt, experimentiert und geschrien werden. Kurz: Sie durften plötzlich Kinder sein. Und daran mussten sie sich erst einmal gewöhnen.

Während die einen diese neue Umgebung gut annehmen konnten, war es für andere schwierig, das Verpasste aufzuholen und das Vergangene hinter sich zu lassen. Und so entstand neben den unauffälligen, gesund entwickelten Kindern ein Pool an Pandemie-Kindern, die nicht nur ein eigenes Desinfektionsgel, sondern auch einen Haufen Probleme in den Kindergarten mitbrachten.

Wir müssen über Lukas reden

So ein bemitleidenswertes Pandemie-Kind ist Lukas. Bevor er in den Kindergarten kam, hatte er seine gesamte Kindheit in einer kleinen Wohnung mit seinem alleinerziehenden Vater verbracht, der im Home-Office arbeitete. Lukas´ Papa war also zwar meistens anwesend, aber selten wirklich für ihn da und eigentlich immer im Stress. Deshalb musste sich Lukas in seinem kindlichen Alltag häufig alleine beschäftigen. War er von Menschen umgeben, waren diese ausschließlich im Alter seines Vaters.

Als Lukas mit vier Jahren in den Kindergarten kam, fiel den Pädagoginnen direkt auf, dass er sich eigenartig bewegte. Von den typischen fließenden kindlichen Bewegungen fehlte jede Spur. Er erinnerte mit seiner steifen und grobmotorischen Art eher an einen Roboter als an ein menschliches Wesen. Und genau wie ein Roboter verbrachte auch Lukas nahezu keine Zeit in der Natur. Seine Pädagoginnen bemerkten, dass das Aufheben einer Kastanie nicht nur eine motorische Herausforderung für ihn darstellte, sondern allem Anschein nach auch eine komplett neue Erfahrung war.

Wie seine Bewegungen war auch der Umgang mit Gleichaltrigen ungelenk. Da er nicht wusste, auf welche Weise er ihre Aufmerksamkeit erlangen konnte, ließ er es bleiben. Zu groß war seine Angst vor der fremden Situation, zu niedrig war sein sprachliches Niveau. Wie sollte er auch in der Lage sein, sich mit anderen Kindern zu unterhalten, wenn er bislang nur einen einzigen Kommunikationspartner gehabt hatte, der mangels Zeit kaum mit ihm gesprochen hatte?

Lukas wusste auch im Alter von vier Jahren noch nicht, wie man nach einem Buch fragt oder ausdrückt, dass man aufs Klo muss.

Am Anfang seiner Kindergartenzeit war es keine Seltenheit, in irgendeiner Ecke des Raumes eine kleine Lacke zu finden oder zusehen zu müssen, wie er in der Öffentlichkeit plötzlich seine Hose herunterzog, um sich zu erleichtern.

Unser größter Schatz

Wir sind Pädagoginnen und Pädagogen, weil uns Kinder und Eltern am Herzen liegen. In diesem Buch wollten wir nicht nur zeigen, was alles schiefläuft, sondern auch, wie sich das ganze System aus unserer Sicht verbessern ließe. Und das Beste: Das ginge sogar mit wenig Geld. Vergleichsweise.

Denn wir sollten die für den Bildungsbereich

dringend notwendigen Ausgaben mit all jenen

vergleichen, die durch die volkswirtschaftlichen

Schäden und falsch verteilten finanziellen Mittel

in diesem Land anfallen.

Mit diesem aus unserer Sicht überfälligen Buch möchten wir etwas in Bewegung bringen. Etwas, das uns allen wieder Hoffnung für die Zukunft schenkt. Es ist an der Zeit, unseren größten Schatz wiederzuentdecken. Unsere Kinder.