A lso standen sie wieder dort. Noch ein letztes Mal, auch wenn der vertraute Ort nicht länger derselbe, sondern fast nicht mehr zu erkennen war.
Fort war das Geschäftige, das ständig Bewegte, das Riga ausgemacht hatte, eine Stadt, die stolz auf alles gewesen war, was sie im Laufe ihrer fast acht Jahrhunderte langen Geschichte erreicht hatte, und umso stolzer entschlossen, in der Zukunft noch weit mehr zu erreichen. Sie war ein Bienenhaus, ein Verschiebebahnhof von einer Stadt gewesen und war jetzt still, verwaist, wie unbewohnt. Nur hin und wieder hastete eine graue Gestalt vorüber, die in einem der wenigen geöffneten Geschäfte ein paar der noch erhältlichen Waren eingekauft hatte und sie in höchster Eile heimtrug, darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden.
Am Ufer des Flusses war ihr Treffpunkt gewesen, dort, wo der Lauf des Wassers sich teilte, sich aus den Wohngebieten hinausschlängelte und die Prachtstraßen der Vorstadt mit ihren malerischen Fassaden und schmiedeeisernen Toren hinter sich ließ. Im Schneetreiben standen sie einander gegenüber, er auf seinem Pferd und sie in ihrem einstmals eleganten Mantel, die Hände in den Taschen vergraben und dennoch zitternd vor Kälte. Alles, was sie auf der Welt noch besaß, steckte unter diesem Mantel, und über dem Bauch bekam sie ihn nicht mehr zu, doch sie trug ihre wollene Stola und ließ die Enden wie zufällig über der Knopfleiste baumeln.
Im Kaschieren war sie immer schon gut gewesen, auch wenn Madame Mireille, die Erbarmungslose, ihren Elevinnen gepredigt hatte, dass Kaschieren sinnlos war, weil auf Dauer nichts, auch nicht die kleinste Schwäche verborgen blieb. Dabei hatte die Meisterin selbst immerhin jahrelang verbergen können, dass sie nicht umhüllt von französischem Flair, sondern mit dem Namen Miroslawa zur Welt gekommen war – zumindest vor einer Hühnerschar kleiner Ballettschülerinnen, die zu viel Angst vor ihr hatten, um auch nur ein einziges ihrer geheiligten Worte anzuzweifeln.
»Schenja«, sagte er. Er musste vom Pferderücken zu ihr herunterrufen, um sich trotz des Abstands zwischen ihnen Gehör zu verschaffen. Das kleine Wort kam ihr vor wie ein Spielball, der auf seiner weißen Atemwolke tanzte.
»Nenn mich nicht mehr so«, sagte sie, wohl wissend, dass es sinnlos war und im Grunde ja auch keine Rolle spielte.
»Ich will nicht, dass du gehst, Schenja. Es ist zu gefährlich.«
»Hierzubleiben wäre gefährlicher.«
»Hier kann ich dich schützen«, sagte er. »Ich nehme dich mit ins Quartier, irgendeine Möglichkeit, dich dort unterzubringen, wird sich schon finden.«
»Zu deinen Genossen?« Sie warf den Kopf auf und wunderte sich darüber, dass sie lachen wollte, obwohl nichts komisch war. »Ich nehme an, die sind ausgehungert genug, um darüber hinwegzusehen, wenn das Flittchen, an dem sie sich schadlos halten, eine Deutsche ist.«
»Schenja!« Seine Hand fuhr an den Sattelknauf. Er sah aus, als wollte er vom Pferd springen, sie an den Schultern packen und schütteln, bis all die Worte, die ihn empörten, aus ihr herauspurzelten, damit sie sie nicht länger aussprechen konnte.
Aber das hatte keinen Sinn mehr. Nichts hatte mehr Sinn. Sie fand nicht einmal die Kraft, zu ihm aufzublicken und ihm durch den fallenden Schnee ins Gesicht zu sehen. Sie musste nur eines: von hier wegkommen. Das hatte sie sich vorgenommen, hatte es sich die ganze Nacht hindurch eingehämmert: Du darfst ihn nicht wiedersehen. Musst von hier weg und nie mehr zurückkehren, musst alles andere verdrängen, bis du irgendwo in Sicherheit bist und es dir leisten kannst, zusammenzubrechen. Sie hatte so viel von der Stimme des Blutes reden hören, hatte sich darüber lustig gemacht und nicht gewusst, was damit gemeint war, aber jetzt wusste sie es, weil die Stimme des Blutes zu ihr sprach: Zum Teufel, beeil dich – du musst hier weg.
Er zügelte sein Pferd, seinen tänzelnden fuchsroten Wallach vom Don, wie um sich selbst am Riemen zu reißen. »Bei mir würde dir nichts geschehen, das weißt du«, sagte er mühsam beherrscht. »Ich würde niemandem erlauben, dich anzufassen, ich würde jeden töten, der es versucht.«
Sie blickte jetzt doch auf. »Kommt eigentlich irgendwann der Tag, an dem ihr genug getötet habt?«, fragte sie. »Oder bezahlen wir unaufhörlich weiter jeden Tod mit noch einem Tod, bis keiner mehr übrig ist – keiner, der das Töten erledigt, und keiner, den man noch töten kann?«
Sie spürte die Kälte, die sich wie ein Grab um sie schloss. Sie wusste, dass er die gleiche Art von Kälte spürte, wann immer sie so mit ihm sprach, und dass er ein Recht dazu hatte.
»Es war Notwehr, Schenja«, zischte er. »Du weißt es doch – wer sonst, wenn nicht du? Ich habe ihm zugeschrien, wer ich bin, ich habe mir die Mütze heruntergerissen, damit er mich erkennt, aber er war wie taub und blind und hat gezielt.«
Etwas in ihrem Innern, unter dem Mantel, der sich nicht schließen ließ, tat so sehr weh, dass ihr für kurze Zeit die Luft wegblieb. Sie musste sich vornüberbeugen und streckte die Hand nach dem Laternenpfahl aus, dessen Laterne nie gebrannt hatte, sooft sie hierhergekommen waren.
Sie hatten sie »unsere Laterne« genannt.
»Heute Abend an unserer Laterne.«
»Wenn es dunkel ist?«
»Wann denn sonst? An unserer Laterne ist es doch immer dunkel.«
Über was für alberne, hohle Dinge man lachte, wenn man verliebt war, wenn man jung war, wenn man glaubte, dass Furcht und Sorgen für andere Leute da waren, während sich für einen selbst jeder Stolperstein in Wohlgefallen auflöste.
»Wie auch immer«, sagte sie zu ihm. »Es lässt sich ja nichts mehr ändern. Ich muss hier weg. Zumindest für ein paar Tage. Mit meinen Leuten kann ich nicht gehen, sie würden mich eher erschlagen, als mich in ihrer Nähe zu dulden. Und falls ich noch hier bin, wenn eure Nachhut einrückt, blüht mir wohl kaum ein besseres Schicksal.«
»Nicht alles, was geredet wird, ist wahr, Schenja.«
Sie glaubte zu spüren, wie der Schnee die Schichten ihrer Kleider durchdrang, wie die eisige Nässe ihr bis auf die Haut sickerte. Sie wollte nach Hause, egal, wo das war. Unter ein Dach, in ein Bett, hinter eine Tür, die sie verriegeln konnte, mehr war von ihrer Vorstellung von einem Heim nicht übrig geblieben.
»Ja, eine Zeit lang kann es zu Unruhen kommen«, fuhr er fort. »Wo gehobelt wird, fallen Späne, aber die Bolschewiki sind hier, um für das Volk zu kämpfen, nicht dagegen. Die Lage wird sich beruhigen. Nicht lange, dann können die Leute in ihre Häuser zurück.«
Sofern die Häuser noch stehen, dachte sie. In Riga hatte man stets in verschwenderischer Üppigkeit mit den herrlichen Hölzern der Gegend gebaut, die wie Seide schimmerten, wenn Lettlands blasses Sonnenlicht darauf fiel, und wie Zunder brannten, wenn eine Granate in den Dachstuhl schlug.
»Ich bin nicht das Volk, Kirjuscha«, entfuhr es ihr, obwohl sie seinen Namen nicht mehr in den Mund hatte nehmen wollen. »Für meinesgleichen kämpfen deine Bolschewiki nicht, das weißt du besser als ich. Sollte sich die Lage tatsächlich beruhigen, wie du sagst, werde ich ja davon erfahren, und dann werden wir sehen, was sich machen lässt. Für den Moment aber muss ich zusehen, dass ich davonkomme, solange man mich noch gehen lässt.«
Schnee schlug ihm ins Gesicht, blieb in dem sandfarbenen Gestrüpp seines Bartes hängen. »Und wo willst du hin?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Richtung Litauen. Kaunas. Zu Verwandten.«
Sie hatte im ganzen Baltikum und darüber hinaus keinen Verwandten mehr, dessen Tür ihr offen stand, und vermutlich war ihm das klar.
»Und wie willst du hinkommen? Es gibt keine Züge, keine Wagen, nicht einmal Postverkehr.«
Trocken schluckte sie. Jetzt kam es darauf an. »Gib mir dein Pferd.«
»Bist du verrückt?«
»Falls ich es bin, bist du daran nicht ganz unschuldig, oder?«
»Was, glaubst du, wird mir passieren, wenn ich zurück ins Quartier komme und erkläre, ich hätte unterwegs mein Pferd verloren?«
»Du bist Bataillonskommandeur, richtig? Dir wird schon keiner mit der Knute die Haut abziehen.«
Sie sah, wie er zögerte, überlegte. Flugs spannte sie die Schultern an und fügte hinzu: »Außerdem war ich der Meinung, dass du kein Feigling bist. Dass du zumindest hilfst, den Dreck, den du verursacht hast, aufzuwischen.«
Er überlegte noch immer. Aber sie hatte ins Schwarze getroffen.
»Du kannst nicht reiten«, wandte er ein, doch sie schüttelte den Kopf. Sie mochte es nie gelernt haben, doch bisher hatte es nichts gegeben, das sie ihrem Körper nicht abverlangen konnte. Reiten durfte nicht ausgerechnet das Erste sein.
»Ich bin in keiner Lage, in der ich mir erlauben darf, etwas nicht zu können«, sagte sie. »Ich bin als Kind geritten. Mit Georg und Johann.«
Auch dieser Schuss traf ins Schwarze. Mit einem tiefen Atemzug hob und senkte sich sein Brustkorb. »Jetzt gleich?«
Sie nickte.
Er beugte sich vor und berührte kurz die Grube zwischen Kiefer und Hals des Tieres. »Avgini, mein Pferdchen«, flüsterte er in seiner Muttersprache. »Ich darf es nicht tun, also gib du dein Bestes, um sie mir zu behüten.« Es klang wie ein Gebet. Dann packte er den Knauf des Sattels und sprang ab. Mit ein paar Griffen prüfte er die Satteltaschen, nahm sein Geschirr und eine Schachtel mit Munition heraus. Den blechernen Kranz mit Hammer, Stern und Schwert, das Emblem der Roten Lettischen Schützen, riss er vom Leder.
»Lass mir den Proviant«, sagte sie. »Kann sein, dass ich eine Weile unterwegs sein muss.«
»Viel ist es nicht. Tee. Zwieback. Ein bisschen Büchsenfleisch.«
Sie nickte. Dann überwand sie sich, trat so dicht an ihm vorbei, dass sie die Wärme seines Körpers spürte, und hob einen Fuß in den Steigbügel. Ihr Körper protestierte, wehrte sich, als versuche sie, eine Puppe in eine Stellung zu zwingen, für die sie nicht gemacht war. Dieser Körper begehrte endlich auf, nachdem sie ihn von früh bis spät, alle Tage und Nächte lang gedreht und gedehnt, gekrümmt und verbogen hatte, ohne dass ihm ein Wehren gestattet gewesen wäre.
Die Stimme des Blutes.
Wie unglaublich das war.
Es geschah, was sie hatte vermeiden wollen und was doch unvermeidlich war: Seine Hände schlossen sich um ihre Taille, um ihr in den Sattel zu helfen. Sie streckte den Rücken durch, versteifte sich, schrie leise auf.
»Ich bin kein Unmensch«, sagte er verletzt, stemmte sie hoch und ließ sie gleich wieder los. »Hilft es dir, mich wie einen zu behandeln?«
Sie suchte Halt in den Steigbügeln, die zu lang für sie waren, versuchte, sich daran zu erinnern, wie man am sichersten auf einem Pferd saß. Was er bei seinem Zugriff gespürt hatte, konnte sie nicht wissen, er, der ihre Taille Hunderte von Malen mit seinen Händen umspannt hatte und sie besser kennen musste als seine eigene. Mit starren Fingern nahm sie die Zügel auf und schloss die vor Kälte steifen Schenkel um den Leib des Pferdes.
»Alles Gute«, sagte sie.
Der Fuchswallach setzte sich in Schritt, trug sie langsam, gegen den Wind und das Schneegestöber, den Uferweg hinauf.
»Wo auch immer du hingehst, Schenja!«, rief er ihr hinterher. »Ich komme und hole dich zurück.«
Sie hatte die verlassene Straße erreicht, versuchte panisch, mit hackenden Stiefelabsätzen, das Pferd in Trab zu treiben.
»Wir werden wieder zusammen sein«, rief er. »Du und ich. So wie immer. Uns kann nichts trennen, Schenja. Ich erlaube es nicht.«