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Nina

U nd? Was sagen Sie? Ist das nicht großartig?« Direktor Ernst-Egon Neugebauer richtete sich zu voller Größe auf und ließ den Westenknopf los, an dem er fortwährend wie an einem Lichtschalter gedreht hatte. »Sie wissen ja: Bei uns im Wintergarten bieten wir vom Guten nur das Beste. Aber diesmal, das müssen Sie zugeben, haben wir uns selbst übertroffen.«

Nina von Veltheim nickte lediglich. Sie hatte nichts dagegen, dergleichen zuzugeben, wenn es Direktor Neugebauer den Tag verschönte. Zwar bezweifelte sie, dass der überlebensgroße Programmdirektor des Varietés bei dem umfangreichen Umbau, den die neuen Inhaber in Auftrag gegeben hatten, eine relevante Rolle gespielt hatte, aber sie wusste, dass Neugebauer das anders sah. Fragte man ihn, so war er für jedes einzelne Detail, dem der Wintergarten seine Stellung als eins der führenden Varietés Berlins verdankte, persönlich verantwortlich. Ob es um die Gestaltung der Terrasse mit den exklusivsten Plätzen, die Ausleuchtung eines Schwebeaktes auf der Vorbühne oder die Beschwörung einer indischen Brillenschlange ging – Ernst-Egon Neugebauer war überzeugt, der Mann zu sein, bei dem all diese Fäden zusammenliefen.

Nina störte sich nicht daran. In den bald fünf Jahren, die sie beim Wintergarten unter Vertrag stand, hatte sie sich an Neugebauer und seine Eigenheiten gewöhnt. Solange dieser sich mit ein bisschen Bauchpinselei zufriedengab und ihr in ihr eigenes Handwerk nicht hineinpfuschte, kamen sie friedlich miteinander aus.

»Es ist wirklich beeindruckend«, lobte sie. »Der Umbau hat sich gelohnt. Wie viele Zuschauer finden jetzt Platz, sagten Sie?«

»Dreitausend!«, rief Direktor Neugebauer begeistert. »Das sollen uns die Banausen von der Scala erst einmal nachmachen!«

Die Scala im ehemaligen Eispalast der Martin-Luther-Straße war ihr größter Rivale, das einzige Varieté in der vor Vergnügungsstätten sprudelnden Hauptstadt, das sich mit dem Wintergarten messen konnte. Aus sicherer Quelle wusste Nina, dass in der Scala ebenfalls dreitausend Zuschauer Platz fanden, aber warum hätte sie dem stolzgeschwellten Neugebauer deswegen in die Suppe spucken sollen?

Sie hatten sich zusammengerauft. Das war anfangs nicht leicht gewesen, doch inzwischen hatten sie gelernt, einander so zu nehmen, wie sie waren. So wenig Ähnlichkeiten sie sonst auch aufwiesen, hatten sie eines immerhin gemeinsam: Sie liebten den Wintergarten. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Für Neugebauer war das Varieté der Ort, wo er seinen Hunger nach Ruhm stillen konnte, sich im Glanz des Rampenlichts sonnte und eine Wichtigkeit verspürte, die ihm in anderen Bereichen seines Lebens versagt blieb. Er war mit der Erbin einer New Yorker Bankiersfamilie verheiratet, die Gerüchten nach unter seinem Dach ein strenges Regiment führte. Für die Schmach, sich als Pantoffelheld zu fühlen, trat er dafür im Wintergarten wie Gottvater persönlich auf.

Für Nina hingegen war der Wintergarten der Ort, an dem sie ihren Traum ausleben konnte. Als kleines Mädchen hatte sie Handpuppen, Hauskaninchen, Nachbarskinder und ihren talentlosen Bruder Carlo dazu verdonnert, in ihren extravaganten Inszenierungen die Schauspieler zu geben, und in gewisser Weise tat sie das bis heute. Nur verfügten die Künstler, die sie inzwischen auf die Bühne brachte, über mehr Begabung. Ihr eigenes Ensemble, Die Wunderweiber, das sie buchstäblich aus dem Nichts aufgebaut hatte, gehörte zu den Kompanien, um die sich sämtliche Etablissements rissen. Und die handverlesenen Talente, die sie darüber hinaus als Künstleragentin betreute oder aus dem Ausland anwarb, sorgten ausnahmslos für Furore.

Vor allen anderen vertrat sie ihre beiden Freundinnen, sozusagen ihre besten Pferde im Stall: Jenny Alomis und Sonia Spielmann, die Schlangenfrau und die Schnellmalerin, die jeder in der nach Sensationen süchtigen Stadt kannte.

Über Jenny schrieben die Kritiker der Zeitungen, sie treibe mit ihrer Darbietung Kraft und Schönheit über die Grenze des Möglichen – und in solcher Euphorie überschlugen sich selbst die Snobs, die über die Niederungen des Varietés für gewöhnlich die Nase rümpften.

Dass Neugebauer sich Jenny erbeten hatte, um auf der neu ausgebauten Bühne einen Probe-Auftritt hinzulegen, war kein Wunder. Jenny war wie ein Kaleidoskop, ihre Persönlichkeit ein Geheimnis in tausend Facetten, das in glitzernde Splitter zerfiel, um sich gleich darauf zu einer strahlenden Lohe neu zusammenzusetzen. Jenny konnte auf den Zehen eines Fußes Spitze tanzen, während sie auf der Sohle des anderen ein Glas Champagner balancierte. Ohne einen Tropfen zu verschütten, versteht sich, und ohne die Zigarettenspitze aus dem Mund zu verlieren.

Aber das war nicht alles. Mit ihrer Ausstrahlung schaffte sie es spielend, den erweiterten Bühnenraum – angeblich den größten Europas – zu füllen. Dabei war sie, in ihren eigenen Worten, nicht mehr als »eine mit Glitzerpailletten beklebte Frau, die sich verbiegt«. Sie war eine Kontorsionistin, eine Künstlerin, die ihren Körper in flüssiges Eisen verwandelte und atemberaubende Skulpturen daraus schmiedete. Sie war eine Tänzerin, der weder die eigenen Knochen noch die Gesetze der Schwerkraft Grenzen zu setzen schienen, und wohl darin bestand der Kern ihres Zaubers.

Jenny verkörperte die Grenzenlosigkeit, von der das taumelnde Berlin träumte, die Weigerung, etwas als nicht menschenmöglich hinzunehmen.

Im Augenblick absolvierte sie ein sogenanntes spanisches Netz, einen Akt, der hoch über der Bühne stattfand. Das Gerüst, an dem die Scheinwerfer befestigt waren und das ihr zum Aufstieg diente, war vollständig hinter einem Vorhang aus schwarzem Samt verborgen. Mit einer Hand hielt sich Jenny an der Schlaufe eines unsichtbaren Seils, das von der Decke hing, fest und bog ihren schwerelosen Körper zu Shimmy- Rhythmen, die nur sie selbst hörte. Es war unglaublich schön. Selbst für Nina, die sich rühmen durfte, Jenny entdeckt zu haben, und die sie seit sieben Jahren kannte – auch verkatert im uralten Morgenmantel, mit einer waffenscheinpflichtigen Kodderschnauze und beim Verzehr von fingerdick bestrichenen Leberwurststullen. Solange sie tanzte, war die durch und durch diesseitige, prosaische Jenny nicht von dieser Welt, sondern schien geradewegs aus dem Sternenhimmel aufzutauchen.

Aus dem Sternenhimmel des Wintergarten.

Der war ebenfalls rundum erneuert worden, weil die alte Konstruktion durchgerostet war und kurz vor einem lebensgefährlichen Zusammenbruch gestanden hatte. Wochenlang hatte Nina gebangt und war nun heilfroh, dass das neue künstliche Himmelszelt genauso funkelnd, unwirklich und wundervoll war wie das alte.

»Goldene Lügen im himmelblauen Nichts« – so hatte irgendein Zeitungsschreiber die mit unzähligen Glühbirnen bestückte, blau bemalte Glaskuppel über dem Wintergarten bei der Eröffnung genannt, und präziser hätte er es nicht ausdrücken können: Der echte Himmel blieb ausgesperrt, weil der falsche so viel strahlender, sensationeller und schlichtweg überwältigend war.

»Überwältigend«, murmelte jetzt auch Direktor Neugebauer, der zu Jenny und dem Flechtwerk ihrer Gliedmaßen hochstarrte. »Atemberaubend, wirklich atemberaubend, meine liebe Freiin.« Ninas Titel war wie so vieles mit dem Ende des Kaiserreichs hinfällig geworden, doch Direktor Neugebauer ließ sich nicht davon abbringen, ihn zu benutzen. »Ich denke, zur Eröffnung sollten wir mit Frau Alomis wieder einmal eine ganz neue Nummer einstudieren, meinen Sie nicht auch?«

Direktor Neugebauer studierte keine Nummern ein, und Jenny hätte sich schlichtweg geweigert, auch nur eine einzige Probe in seiner Gegenwart zu absolvieren. Auch das gehörte jedoch zu den Dingen, die sich stillschweigend ignorieren ließen, um das Schnürchen, an dem alles lief, nicht zu gefährden. Das Leben war schön in diesem zehnten Jahr der Republik, die verfeindeten Kräfte hatten sich zusammengerauft wie Ernst-Egon Neugebauer und Nina von Veltheim, Kultur und Künste blühten, und so sollte es gefälligst bleiben.

»Wir haben bereits etwas in Vorbereitung«, erklärte sie dem Direktor. »Ich melde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen, um Einzelheiten zu besprechen.«

»Erfreut, das zu hören, meine Liebe. Höchst erfreut. Lassen Sie sich von Fräulein Haselsteng einen Termin geben. Sie kennt meinen Kalender besser als ich, haha.«

»Ich bedanke mich.«

Nina wollte sich Jenny zuwenden, um ihr in der Zeichensprache, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, zu bedeuten, dass sie in ihrer Stammkneipe, dem Salamander, auf sie warten würde. Zwar hatte sie Anton versprochen, rechtzeitig daheim zu sein, wenn er von seiner dreiwöchigen Tournee durch Deutschland nach Hause kam, aber für einen Drink mit Jenny musste einfach immer Zeit sein. Gerade in diesem Moment kam allerdings ein junger Mann mit weizenblonder Bürstenfrisur aus der Tür gefegt, die den Trakt mit den Garderoben, Lagerräumen und Büros vom Bühnenraum trennte. Seinen Gebärden nach wollte er eindeutig etwas von Nina.

Emil, der Laufbursche.

Er war schon so lange Laufbursche im Wintergarten, dass sich vermutlich niemand mehr daran erinnerte, wie er im Alter von fünfzehn Jahren hier angefangen hatte. Aber Nina erinnerte sich, denn sie hatte ebenfalls zu jener Zeit im Wintergarten anfangen wollen, war abgewiesen worden, und der kleine Emil hatte zu der Handvoll Menschen gehört, die sie getröstet hatten. Er würde wohl noch hier sein, wenn sein blondes Haar grau wurde, und so wie niemand bemerkt hatte, dass er vom Jungen zum Mann geworden war, würde auch niemand bemerken, wenn aus dem Mann ein Greis wurde.

»Fräulein von Veltheim?«, rief er außer Atem. »Der Herr Generaldirektor tät Sie gern sprechen wollen. Er empfängt Sie in seinem Büro, zweiter Stock, in den neuen Räumlichkeiten. Ich tät Sie hinbringen können, wenn Sie wollen.«

»Der Herr Generaldirektor?«, fragte Nina verwirrt. »Aber der ist doch hier.«

»In der Tat.« Neugebauer räusperte sich und drehte am obersten Knopf seiner Weste.

»Nicht der vom Wintergarten «, erklärte Emil eilfertig. »Der neue Herr Generaldirektor vom Central-Hotel. Der Herr Aschinger.«

»Und was will der von mir?«

Das Hotel, dessen imposantes, sich über hundert Meter erstreckendes Gebäude den Wintergarten beherbergte, hatte einer obskuren, kaum je in Erscheinung tretenden Gesellschaft namens Hotelbetriebs-AG gehört, die sich finanziell offenbar verkalkuliert hatte. Zwar war Berlin eine Weltstadt, in die neuerdings sogar wieder fremde Staatsoberhäupter zu Besuch kamen, aber die Konkurrenz war einfach zu groß. Unter den Luxushotels war das Central an der geschäftigen Friedrichstraße zwar noch immer das größte, aber den Rang als erstes Haus am Platz hatten ihm der Kaiserhof und vor allem das elegante, weltoffene Adlon längst abgelaufen.

Anders stand es um den Wintergarten. Der war eine Goldgrube und würde es in der brandneuen Aufmachung umso mehr sein. Die Hotelbetriebs-AG hatte sich die aufwendige Modernisierung der maroden Gebäudeteile nicht leisten können, der gesamte Komplex war unter den Hammer gekommen, und zugegriffen hatte der Erbe der Aschingers, die um die Jahrhundertwende die Hauptstadt mit ihren Stehbierhallen und Billigrestaurants überzogen hatten.

Wer je als Habenichts nach Berlin gekommen war, um hier sein Glück zu machen, hatte garantiert mehr als einmal Aschingers Löffelerbsen genossen, hatte sich von den Schrippen, die es umsonst dazu gab, in jede Manteltasche eine gestopft und damit einen weiteren Tag dem Hungertod getrotzt. Jenny, Nina und Sonia hatten es in ihrer ersten Zeit in Berlin darin zu wahrer Meisterschaft gebracht und verwandten auf Aschingers Restaurationen auch heute noch manch liebevollen Gedanken.

Mit dem Prunk des Central-Hotels und dem Glamour des Wintergarten waren die verrauchten, überfüllten, nach billigem Fleisch und verbranntem Fett miefenden Speisehallen allerdings schwer in Einklang zu bringen. Offenbar strebte der Erbe, der nach dem frühen Tod der beiden Gründer zum alleinigen Inhaber geworden war, nach Höherem: Er hatte bereits das Bristol und weitere Hotels der Luxuskategorie in seinen Besitz gebracht und versuchte es nun mit dem traditionsreichen Central.

Nina war das alles herzlich gleichgültig. Sie erwartete von der neuen Hoteldirektion, dass sie sich in die künstlerische Arbeit des Wintergarten so wenig einmischte wie die alte und Entscheidungen dessen Direktor – Ernst-Egon Neugebauer – überließ. Der wiederum überließ das Wesentliche Nina. Zwar musste sie ihm ab und an gestatten, aufzutrumpfen und auf seinen Rang zu pochen, doch das kratzte sie wenig, solange sie alles, woran ihr gelegen war, durchsetzte.

Dass jetzt dieser Aschinger sich hier, im neuen Verwaltungstrakt des Varietés, ein Büro eingerichtet hatte und dass er sie obendrein postwendend in jenes zitierte, schmeckte ihr nicht. Und es gab noch eine, der es nicht schmeckte oder die zumindest auf der Stelle misstrauisch wurde: Jenny Alomis, die Schlangenfrau mit den Elefantenohren. Was ihr entging, das entging der Welt.

Mit einem Rückwärtssalto löste sie sich von der unsichtbaren Schlaufe und landete so sacht auf ihren Füßen, dass man kaum einen Aufprall hörte. Sie war eine hochgewachsene Frau mit prachtvollem schwarzen, zu einem Helm geschnittenen Haar, gertenschlank, obwohl sie ständig Nahrungsmittel in sich hineinstopfte, und ihr Gang war so geschmeidig, als könne sie gar nicht anders als tanzen. Selbst jetzt, wo sie zu Nina hinüberhechtete und herausplatzte: »Der Aschinger? Was will denn der von dir?«

Dass Menschen die Spucke wegblieb, wenn sie vor ihnen stand, konnte Nina niemandem verdenken. Ihr Kostüm, das aus einer schwarzen Balletthose für Männer und einem schwarzen, mit Pailletten besetzten Trikot bestand, umschloss ihren Körper wie das Fell eines schönen Raubtiers, und die laszive Sinnlichkeit ihrer Ausstrahlung war ganz und gar nichts für Feiglinge. Sie entsprach dem modernen Typ Frau, der androgyn war, der das Reizvollste beider Geschlechter in sich vereinte, sie konnte fluchen wie ein Mann, und nur ein Lebensmüder hätte versucht, ihr die Butter vom Brot zu klauen. Aber dessen ungeachtet war sie durch und durch Frau. So intensiv und so ungeniert, dass Direktor Neugebauer, der sie seit sieben Jahren kannte, in ihrer Nähe hektische Flecken im Gesicht bekam.

»Keine Ahnung, was er von mir will«, beantwortete Nina ihre Frage. »Wenn ich nicht dumm sterben möchte, gehe ich lieber und finde es heraus.«

»Soll ich auf dich warten?«, fragte Jenny. »Vermouth bei Alfred?«

Alfred war der Wirt des Salamander, wo sie einander in einer eisigen Frühlingsnacht des Jahres 1921 kennengelernt hatten.

»Muss aber ein schneller sein«, antwortete Nina. »Anton kommt mit dem Abendzug aus Hamburg, und ich habe ihm versprochen, ein Festmahl zu kochen.«

»Kochen? Du?« Jenny hob die geschwungenen Brauen. »Bist du sicher, dass Anton das überlebt?«

»Frau Brenneisen kocht«, gab Nina zu. »Aber ich hatte zumindest geplant, Kerzen auf den Tisch zu stellen, nach Art der liebenden Hausfrau Blumen zu arrangieren und mich in Schale zu schmeißen.«

Frau Brenneisen war die Haushälterin, die Anton in ihre Beziehung eingebracht hatte. Sie hatte sich geweigert, ihn zu verlassen, weil sie fürchtete, er werde verhungern.

Jenny verzog den Mund zu einem wölfischen Grinsen. »Die Art der liebenden Hausfrau würde ich mir schenken, und dein Anton steht auf dich ohne Schale mehr als mit. Das mit den Kerzen machst du mit links, also bleibt massig Zeit für unseren Vermouth.« Sie warf Nina einen Luftkuss zu und wirbelte herum. »Ich halt dir deinen kühl.«

Verfolgt vom Blick aus Direktor Neugebauers Stielaugen, schwebte Jenny aus dem Saal, während Nina einen knappen Gruß murmelte und hinter Emil aus der Tür ging.