4

D ie beiden armlangen, elfenbeinfarbenen Kerzen brannten in den hohen Silberleuchtern und tauchten den Raum, das viel geliebte Berliner Zimmer, das die Wohnung in zwei Hälften teilte, in ein dramatisch flackerndes Licht. Frau Brenneisen hatte den uralten Tisch in die einzige blütenweiße Damastdecke des Haushalts gehüllt und die kalten Delikatessen, die sie vorbereitet hatte, mit silbernen Hauben abgedeckt. Nina hatte auf dem Heimweg rasch an Gehrkes Blumenstand gehalten und überteuerte Treibhaus-Gladiolen gekauft, die in der ebenfalls silbernen Vase, die sie im Wandschrank gefunden hatte, überraschend viel hermachten.

Keiner der leicht verstaubten und verbeulten Gegenstände, deren Schadstellen das Dunkel gnädig verbarg, gehörte ihnen. Die Wohnung in der Jerusalemer Straße, sechs Zimmer zwischen Seitenflügel und Hinterhaus, war das im Grundbuch eingetragene Stockwerkseigentum der Offizierswitwe Elfriede Rottenheimer. Zumindest behauptete Friedel Rottenheimer, die Witwe eines Offiziers zu sein und die Wohnung von dem verblichenen Gatten, der einmal Carl und dann wieder Theodor oder auch Herrmann hieß, geerbt zu haben. Dass das nicht ganz stimmen konnte, hatten Nina und Jenny schnell herausgefunden, aber es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen ihrer Gemeinschaft, das, was ein Mensch über sich erzählte, hinzunehmen und keine überflüssigen Fragen zu stellen.

Schließlich stimmte bei so manchem von ihnen nicht alles. Berlin war ein Sammelbecken. Nachdem der Krieg Europa in Brocken zerschlagen hatte, war eine Flutwelle darüber hereingebrochen und hatte aus sämtlichen Himmelsrichtungen Menschen angeschwemmt. Was sie getan hatten, um mit heiler Haut davonzukommen, hatte mit dem, was sie für gewöhnlich taten, oft kaum etwas gemein. Nicht wenige hatten gute Gründe, vor die Welt, aus der sie gekommen waren, einen undurchsichtigen Schleier zu ziehen.

Leute wie Ninas Bruder Carlo, die klar wie Quellwasser waren und ihr ganzes Leben auf Gut Neu-Mahlen in der weltentfernten brandenburgischen Uckermark verbracht hatten, konnten so etwas nicht verstehen.

»Was könnte es denn geben, das sie vor mir verbergen muss?«, hatte er Nina mehr als einmal gefragt und dabei natürlich von Jenny Alomis gesprochen. »Sie wird schon niemanden umgebracht haben – und bei allem anderen wüsste ich nicht, wo das Problem sein sollte.«

Aber Nina wusste es. Sie hatte es in den Jahren, seit sie nach Berlin gekommen und in Friedel Rottenheimers Wohnung ein Zimmer gemietet hatte, gelernt. Wenn ihre Vermieterin eine Offizierswitwe sein wollte statt einer zähen Frau, die sich mit allerlei wenig salonfähigen Tätigkeiten durchs Leben geschlagen hatte, dann war sie eben eine Offizierswitwe, und Nina war die Letzte, die daran rütteln würde. Und Jenny war Jenny. In einer kalten Frühlingsnacht war sie in Ninas Leben geschneit, als hätte sie geahnt, dass in Ninas Leben nichts so sehr fehlte wie eine Jenny.

Alles andere war nebensächlich. Woher sie kam, was sie hierhergetrieben hatte und wer sie vorher gewesen war. Das Leben, das zählte, war das Hier und Jetzt, der Augenblick, der sich nur auskosten, nicht aber festhalten ließ. Jenny war eine Meisterin darin, und wenn Carlo sich in ihrem atemlosen Rhythmus, der keinen Blick zurück erlaubte, nicht zurechtfand, war ihrer Liebe auf Dauer kein Glück beschieden.

Und was ist mit meiner Liebe?, fragte sich Nina.

Sie ließ ihren Blick über den formidabel gedeckten Tisch schweifen. Für gewöhnlich aßen sie und ihr Liebster nicht derart aufwendig zu Abend. Anton Wendland gehörte zu den gefragtesten Schauspielern der Republik, und sie selbst wünschte sich häufig, ihr Tag hätte achtundvierzig Stunden. Sie hatten kaum je Zeit und noch weniger Ruhe, stopften meist im Stehen irgendetwas in sich hinein, im Vorübergehen, wobei sie einander küssten und zuwinkten. Anton hatte des Öfteren seine Bereitschaft erklärt, daran etwas zu ändern, und Nina hatte jedes Mal versprochen, darüber schnellstmöglich nachzudenken, doch bisher war alles geblieben, wie es war.

»Ich vermisse dich«, pflegte er ihr durchs Telefon ins Ohr zu raunen. Sie vermisste ihn auch, aber zwischen ihrem Leben und seinem schien ein drittes – ihr gemeinsames – nicht mehr als einen halben Fußbreit Platz zu haben.

Warum es ihr so wichtig gewesen war, heute Abend anlässlich seiner Rückkehr den Tisch zu decken wie in einem großbürgerlichen Heim, war ihr selbst nicht ganz klar. Wäre Jenny hier gewesen, hätte sie vermutlich gefragt: Was willst du damit beweisen – und vor allem, wem?

Dass sie ihn liebte, benötigte keinen Beweis, denn das wusste er, nicht anders als sie. Allerdings hatte er um ihrer Liebe willen weit mehr aufgegeben. Weil Nina in der Wohnung in der Jerusalemer Straße um jeden Preis hatte bleiben wollen, hatte er seine gekündigt und war zu ihr gezogen. Von den Gagen, die sie inzwischen bezogen, hätten sie sich spielend ein eigenes Haus leisten können, aber weil Nina an diesem Provisorium als Frau Rottenheimers Untermieterin hing, hatte er kurzerhand die ganze Wohnung gemietet. Seine Haushälterin, Frau Brenneisen, die mit ihm eingezogen war, hatte sich mit Frau Rottenheimer angefreundet. Ein wenig betrugen sich die beiden wie Ninas Oma Hulda, die über das Gebaren der Jugend zwar gelegentlich die Stirn in Falten legte, auf einen Kommentar aber nicht ihre Zeit vergeudete.

Oberflächlich betrachtet ging es bei ihnen nicht viel anders zu als in einer Familie. Aber sie waren keine. Wenn das für Nina kein Problem war, so wiesen mehr und mehr Anzeichen darauf hin, dass es für Anton eines zu werden drohte.

Die Türglocke schellte. Anton hatte natürlich einen Schlüssel, den er brauchte, um die Durchfahrt des Vorderhauses aufzuschließen, aber er liebte es, wenn Nina ihm nach einer Zeit der Trennung an der Tür entgegenkam.

Sie liebte es auch.

Sie hatte das elfenbeinfarbene Seidenkleid angezogen, das sie gemeinsam gekauft hatten, und trug ihr wildes Haar offen, wie Anton es am liebsten mochte. Während sie zur Tür lief, kam es ihr vor, als wehe alles hinter ihr her.

Er hatte schon aufgeschlossen, als sie in den Windfang stürmte, lächelte und breitete die Arme aus. »Nina.« Sein Gesicht war von der Kälte gerötet, das dunkle Haar zerzaust, und den Hut hielt er in der Hand.

Sie verliebte sich neu in ihn. Jedes Mal, wenn sie ihn wiedersah. Vielleicht nahm sie deshalb ihre Trennungen leichthin in Kauf, weil diese Wiedersehen sie so glücklich machten. Er war ein schöner Mann. Ihr schöner Mann. In seinen Augen spiegelte sich ihr Lachen, und während sie ihm in die Arme flog, kannte sie einen Moment lang auf der Welt keine Sorge. Sie küssten sich lange und innig, ehe er sein Gepäck in die Wohnung zerrte, und falls Frau Rottenheimer und Frau Brenneisen hinter ihren Zimmertüren lauschten, so gönnte Nina es ihnen von Herzen.

Er ließ den Koffer unausgepackt, machte sich nur rasch im Bad ein wenig frisch, ehe er zu ihr ins Berliner Zimmer kam.

»Was für eine Pracht«, konstatierte er verwundert. »Es fiel mir schon bei der Begrüßung auf – haben wir etwas zu feiern?«

Nina hatte eine Flasche Champagner, den ihr irgendein Verehrer hatte zustellen lassen, aus dem Kühler genommen und wollte ihn entkorken. Sie hielt inne, sah das plötzliche Leuchten in Antons Augen und erschrak.

»Nina. Meine liebste Nina. Gib das her, lass mich das machen.« Er umschlang sie von hinten und nahm ihr die Flasche weg. »Von heute an werde ich dich auf Händen tragen, hast du gehört? Und wenn es dir auf die Nerven geht, wirst du dich gefälligst damit abfinden müssen.«

Er rupfte die Silberfolie vom Hals der Flasche und drehte den Draht vom Korken.

»Lieber Himmel, Anton.« Sie wandte sich in seinen Armen um. »Es ist nicht, was du denkst. Ich bekomme kein Kind.«

Es war, als hätte sie einen Schalter umgelegt, damit ein Licht erlosch. Sie sah ihn schlucken, sah ihn die Hände ineinander verschränken, wie es seine Gewohnheit war, wenn er verzweifelt versuchte, sich zu fangen und zu beherrschen. Er war Schauspieler. Und zwar einer der besten. Keinen Herzschlag später zog er sich seine Enttäuschung wie eine Maske vom Gesicht und setzte das Lächeln wieder auf. Für dieses Lächeln lagen ihm Scharen von deutschen Theaterzuschauerinnen zu Füßen, sahen sich seinetwegen expressionistische Kuriositäten von Autoren wie Barlach und Toller an, von denen sie nie zuvor gehört hatten, und hätten zweifellos ihr letztes Hemd gegeben, um an Ninas Stelle zu sein.

Ihr tat es weh. Er machte es ihr so einfach, stellte keine Forderungen, hatte kaum je Wünsche – und diesen einen, großen, den er hegte, erfüllte sie ihm nicht.

Er griff wieder nach der Flasche, die er auf den Tisch gestellt hatte, drehte an den Resten des Drahtes, obwohl der Korken längst freilag. »Nun ja«, sagte er. »Was nicht ist, kann schließlich noch werden, oder nicht?« Es war nicht seine Art, Plattitüden von sich zu geben, doch Nina erkannte unschwer, wie hart er um Worte rang.

Der Gedanke an ein Kind war irgendwann im Zuge des Glücksrauschs, durch den sie taumelten, als eine Art Schnapsidee aufgekommen. Ging es ihnen nicht blendend? Die politischen Verhältnisse hatten sich stabilisiert, auch wenn seit dem Tod von Reichspräsident Ebert der konservative und zudem halb vergreiste Hindenburg auf dessen Stuhl saß. Beruflich flogen sie von einem Erfolg zum nächsten. Anton konnte sich die Rollen aussuchen, konnte spielen, was immer ihn reizte, und bei seiner Ablehnung, einen Film zu drehen, bleiben. Trotzdem verdiente er noch immer weit mehr, als sie brauchten, und Nina erging es nicht anders. Sie waren gefragt, waren, ohne es zu merken, in die Reihen der begehrten Leute in Deutschlands Republik aufgestiegen. Mit ihren zwei Ersatzmüttern, die sich rührend um sie kümmerten, teilten sie sich eine Zimmerflucht, die die herrlichste in ganz Berlin sein musste. Und was das Wichtigste war:

Sie liebten sich.

Sie stürmten Abend für Abend nach Hause, um einander in den Armen zu liegen, und konnten noch immer kaum einen Blick tauschen, ohne sich zu wünschen, übereinander herzufallen. Ihre Nächte waren pure Seligkeit, und wenn sie nicht gerade Liebe machten, redeten sie. Nina wie ein Wasserfall und Anton wie ein ruhiger Strom, in den der Strudel sich mit Lust hineinstürzte. Manchmal taten sie auch beides gleichzeitig, und zwischendurch aßen sie in Würfel geschnittenen Käse und tranken französischen Rotwein aus dem größten Glas, das Friedel Rottenheimers Vitrine hergab.

Oder sie mixten Mojitos, die jedoch nie so gut gelangen wie die, die ihnen Hieronymus Haase im Wintergarten servierte.

Das Leben war schön.

Und wie ein Abend im Varieté, der von Nummer zu Nummer erregender wurde, verlangte es nach einem Höhepunkt. Es war nach der Premierenfeier von Ninas Frühjahrsprogramm gewesen, nach einem grandiosen Erfolg, bei dem ihre Wunderweiber darauf bestanden hatten, sie auf die Bühne zu zerren und wie eine Trophäe in die Luft zu heben. Dem Sternenhimmel entgegen. Auf der Feier hatte es einen Champagnerbrunnen gegeben – prickelndes Gold, das an einer kopfstehenden Eisskulptur von Jenny herabperlte, einer Jenny, die immer dünner, immer ätherischer wurde und sich schließlich in Luft auflöste. Die Gäste, nicht zuletzt Jenny selbst, hatten sich königlich amüsiert.

Für die Heimfahrt hielt ihnen Anton eine Taxe an, obwohl sie beide kaum zum Trinken gekommen waren.

»Fahren kann ich nicht mehr. Ich bin wie besoffen von dir.«

»Und ich kann mich an dir nicht satt trinken.«

Schon im Windfang begannen sie, sich zu lieben, stolperten ineinander verschlungen in ihr Schlafzimmer, in das ein Nachtlicht vom Hof schien, und fielen im Höhepunkt auf das Bett. Hinterher lagen sie atemlos still, Nina auf dem Rücken, alle Glieder von sich gestreckt, und Anton über sie gebeugt, sein Blick unverwandt auf ihrem Gesicht ruhend.

»Bin ich verrückt?«, hatte er sie gefragt. »Oder haben wir gerade ein Kind gemacht?«

»Du bist verrückt«, hatte Nina gesagt. »Aber ich bin es auch.«

Die Idee, mit ihm ein Kind zu haben, das wie Jennys Viktor mit ihnen allen aufwachsen würde, hatte in jenem Augenblick einen Zauber ausgeübt, dem sich keiner von ihnen beiden entziehen konnte. Sie hatten Pläne geschmiedet, in denen sie mit ihrem Kind um die halbe Welt reisen wollten und aus ihrer Zweisamkeit eine Dreieinigkeit wurde. Als Nina ein paar Wochen später festgestellt hatte, dass sie doch nicht schwanger war, war sie enttäuscht gewesen, und Anton hatte sie getröstet.

»Für mich ist es trotzdem, als wäre unser Kind schon ein bisschen bei uns«, hatte er gesagt. »Weil mir jetzt klar ist, wie sehr ich mir wünsche, es kennenzulernen, und weil du es dir auch wünschst.«

Sie hatten flüchtig davon gesprochen, zu heiraten, und Nina war glücklich gewesen, weil er das wollte: sich zu ihr und ihrem Kind bekennen, ganz zusammengehören. In der bürgerlichen Gesellschaft galt es noch immer als Schande, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen, aber in ihren eigenen Kreisen aus Künstlern, Gauklern und Freigeistern kannte sie etliche Frauen, die ein Kind ohne Vater aufzogen. Die meisten von ihnen waren von irgendeinem Schnösel im Stich gelassen worden, als es ihm zu ernst und zu eng wurde. Noch immer, allem Kampf um die Frauenrechte zum Trotz, hinderte niemand einen Mann daran, sich derart aus der Affäre zu stehlen.

Anton hingegen lag solches Verhalten fern. Er wünschte sich ein Kind mit Nina und ein Leben mit ihnen beiden. Nina freute sich darauf. Ihre Liebe war eine Kette wunderbarer Abenteuer gewesen, die jedem von ihnen halfen, sich zu entwickeln und seinen Weg zu gehen. Dieses neue Abenteuer nun würde das aufregendste von allen werden.

Aber das Abenteuer ließ auf sich warten. Allem Wünschen und jeder Menge Nächte voller Liebe zum Trotz stellte sich keine Schwangerschaft ein.

Es hatte andere Ereignisse gegeben, die sie ablenkten, fesselten, für sich beanspruchten. Erfolge, Herausforderungen, Tourneen, Premieren. An manchen Tagen hatte Nina das Kind vergessen, und in letzter Zeit hatten sich diese Tage gehäuft. Heute war einer dieser Tage. Sie war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass Anton mit der Möglichkeit rechnete, sie könne schwanger sein.

»Du hast dir mit dem Essen solche Mühe gemacht«, sagte er noch immer mit jenem Lächeln, das auf seinen Zügen nicht recht haften wollte. »Also sollten wir es nicht verderben lassen. Und den Champagner schon gar nicht. Immerhin haben wir ja unser Wiedersehen zu feiern. Ist das etwa kein Grund? Für mich ist es Grund genug. Ich liebe dich.«

Er zog sie an sich, ließ seine Hände ihren Rücken hinuntergleiten und küsste ihre Lider.

»Das Essen hat Frau Brenneisen gemacht«, sagte sie, als seine Lippen sich von ihren lösten. »Der Champagner ist ein Geschenk von Dehmel, aber dass du wieder da bist, ist auch für mich genug Grund zum Feiern. Und vielleicht habe ich ja noch einen weiteren Grund. Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Erzähl.« Verblüffend langsam ließ er den Korken aus dem Flaschenhals gleiten, hielt die Flasche dann sofort über eines der Gläser und füllte es, ohne einen Tropfen zu verschütten. Galant rückte er Nina einen Stuhl zurecht und stellte das Glas vor sie hin.

Auf einmal überwältigte es sie. »Es tut mir so leid, Anton«, rief sie, sprang noch einmal auf und zog ihn an sich. »Es tut mir so furchtbar leid.«

Ein wenig überrumpelt schloss er die Arme um sie. »Es ist doch nicht deine Schuld. Und es ist auch nicht das Ende der Welt. Wir sind noch nicht alt, du sowieso nicht und ich höchstens ein bisschen angegraut. Wenn es diesem Herrn Sohn oder dem Fräulein Tochter von uns gefällt, sich noch ein bisschen zu zieren, dann werden wir uns eben noch eine Zeit lang in Geduld üben müssen.«

»Ich weiß nicht, Anton.« Er hatte sich von ihr gelöst, um sich selbst ein Glas zu füllen, und sie setzte sich wieder. »Vielleicht ist es ja doch meine Schuld. Manchmal denke ich, ich bekomme kein Kind, weil der Wintergarten mein Kind ist.«

»Dass das Unsinn ist, weißt du, oder?« Er hob sein Glas und stieß es sachte gegen ihres. »Zu unserem Glück leben wir in einem Zeitalter, in dem die Wissenschaft solchen frauenfeindlichen Humbug ausschließen kann.«

»Bist du dir sicher, dass es Humbug ist?«, fragte sie, weil sie sich selbst nicht mehr sicher war.

»Nina«, sagte er und hob die Haube von einer Platte mit kresseverziertem Eiersalat. Die Kresse zog Frau Brenneisen in Wattebetten auf ihrem Fensterbrett. »Tu mir einen Gefallen und vergiss das Ganze. Lass dir dein Abendessen schmecken. Ich habe mich getäuscht und war schneller mit dem Mund als mit dem Hirn, aber das sollte uns das Wiedersehen nicht verderben.«

Nina ließ sich die Platte zuschieben und nahm eine Portion, bediente sich an Käse, kaltem Fleisch und Schillerlocken, sagte jedoch kein Wort.

Anton nahm sich nichts, sondern verschränkte die Hände über seinem Teller. »Wir beide kennen jede Menge Frauen, die in ihrem Beruf erfolgreich sind und Kinder aufziehen«, sagte er. »Jenny ist eine davon. Else Lasker, Käthe Kollwitz, Asta Nielsen – keine von ihnen hat die Mutterschaft an ihrer Arbeit gehindert. Meine Mutter dagegen kümmerte sich mit all ihrer Fürsorge um nichts als meinen Vater und den Haushalt, und dennoch musste sie zwanzig Jahre warten, ehe sie schließlich doch noch ein Kind bekam. Wir versuchen es erst seit einem Jahr. Es wird schon passieren, wenn es so weit ist, ohne dass du dir deswegen Sorgen machen musst. In Ordnung?«

Nina sah ihn an, ohne etwas zu sagen.

»Und jetzt will ich wissen, was du heute zu feiern hast.«

Sie trank Champagner. »Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher. Ich habe ein Angebot bekommen. Und ich weiß nicht, ob ich mich in der Lage fühlen werde, obendrein an ein Kind zu denken, wenn ich es annehme.«

Er sah sie ebenfalls an. Als eine Weile lang nichts weiter von ihr kam, sagte er: »Ich warte.«

»Fritz Aschinger will mich als Intendantin für den Wintergarten «, sprudelte sie heraus. »Er will Ludwig Schuch für Verwaltung und Finanzen und mich für den gesamten künstlerischen Bereich.«

»Ludwig Schuch?«, fragte Anton nach. »Aber der ist doch an der Scala. «

»Nicht mehr«, erwiderte Nina. »Aschinger zufolge gab es dort Querelen mit dem Judenvolk‹, weshalb Schuch ausgeschieden ist.«

»Mit dem Judenvolk meint er Jules Marx?«, fragte Anton verwundert. »Ich hätte nicht gedacht, dass Schuch ein Antisemit ist.«

»Vielleicht ist er ja keiner, sondern hat für seinen Weggang ganz andere Gründe«, sagte Nina. »Fest steht jedenfalls: Aschinger ist einer. Er ist ein Rassist, wie er im Buche steht, aber einer, der eine Registrierkasse verschluckt hat. Solange er die in seinem Bauch klingeln hört, ist ihm alles egal.«

»Und für so einen Menschen willst du arbeiten?«

Nina zuckte die Schultern. »Ich arbeite ja so oder so für ihn. Es war mir nur nicht bewusst, dass bei diesem Männchen von höchstens dreißig in Zukunft die Fäden zusammenlaufen. Dass ich ihm unseren Wintergarten nicht allein überlasse, steht für mich fest. Die Frage ist nur: Will ich von Programm zu Programm um jeden gewagten Schritt, den meine Frauen sich einfallen lassen, kämpfen, oder setze ich mich an die Spitze der Pyramide, streiche ein dickes Gehalt ein und bestimme selbst, wie die Puppen tanzen.«

Anton schwieg eine Weile mit noch immer verschränkten Händen. »Ich kenne diesen Aschinger gar nicht«, sagte er dann. »Kannst du mir erklären, warum es mir trotzdem vorkommt, als höre ich gerade ihn sprechen und nicht dich?«

»Das ist ungerecht«, fuhr Nina auf. »Du warst nicht dabei, du weißt nicht, worüber wir geredet haben.«

»Dann erzähl es mir.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich Evelyn Dove im Wintergarten haben will«, sagte Nina.

»Die schwarze Britin, die singt wie Josephine Baker?« Anton pfiff durch die Zähne.

Nina nickte. »Ich will ihre Chocolate Kiddies und meine Wunderweiber zu einem einzigen großen Spektakel mischen, einem ineinanderfließenden Schachbrett, dass den Leuten die Augen übergehen. Aschinger habe ich meine komplette Vision davon ins Gesicht geschleudert, weil ich ihn provozieren, ihm beweisen wollte, dass ich nicht die Art von Frau bin, die er als Intendantin will. Ihm sind die Züge entgleist, als stünde er kurz davor, mir sein Frühstück vor die Füße zu spucken, aber gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt. ›Mir schmeckt das nicht‹, hat er gesagt. ›Meiner persönlichen Ansicht nach kann ein Mensch mit gesundem Empfinden an diesen äffischen Visagen nichts anziehend finden, aber wissen Sie was? Wenn es Geld bringt, soll es mir recht sein. Solange Sie sich merken, dass Geld für mich ein gutes Argument ist, kommen wir blendend miteinander aus.«

»Äffische Visagen?« Anton schob die Platte mit dem Fisch, von der er sich eben hatte bedienen wollen, von sich weg. »Und das hast du so stehen lassen? Ausgerechnet du, die mit ihrer Arbeit die unzähligen Facetten von menschlicher Schönheit feiert, die in jedem ihrer Programme herausstellt, was uns bei aller Verschiedenheit verbindet?«

»Ich habe ihm gesagt, was ich von seiner persönlichen Ansicht halte«, erwiderte Nina gereizter, als sie beabsichtigt hatte. »Aber im Gegensatz zu dir bin ich für eine ganze Menge Menschen verantwortlich. Ich kann nicht riskieren, dass deren Einkommen von heute auf morgen wegfällt, weil ich dem neuen Inhaber ins Gesicht gesprungen bin. Außerdem hat niemand etwas davon. Wenn ich dagegen Evelyn Dove herhole und die Berliner ihr zu Füßen liegen, könnte das genau die Wirkung haben, die Leute wie Aschinger vermeiden wollen.«

»Und dafür akzeptierst du, dass er reizende Leute wie Jules Marx und seine Geschäftspartner als Judenvolk beschimpft, ihnen die Mitarbeiter wegkauft und ihnen womöglich den Ruf ruiniert?«

Einen Augenblick lang maßen sie einander wie zwei Gegner im Ring, wie sie es in ihrer Anfangszeit oft getan hatten. In solchen Augenblicken hatte Nina das Gefühl gehabt, er ziehe ihr den Boden unter den Füßen weg, bringe sie zu Fall, um sie anschließend in seinen Armen aufzufangen und als Ritter in glänzender Rüstung dazustehen. Noch nach Monaten hatte sie das Gefühl nicht abschütteln können, dass er insgeheim von einem solchen Szenario träumte, weil es letztlich doch alle Männer taten – oder etwa nicht?

Er hatte unendlich viel Geduld aufgebracht, um ihr zu beweisen, dass er ihre Arbeit, ihre Ziele, ihre Träume respektierte, nicht anders, als wäre sie ein Mann. Er mischte sich in ihre Entscheidungen nicht ein, sagte seine Meinung nur, wenn sie ihn danach fragte, und mit den Jahren hatte sie gelernt, ihm zu vertrauen.

Und jetzt?

Warum versuchte er, sie zu beeinflussen, ohne Verständnis für ihren Zwiespalt aufzubringen?

Und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, fragte sie sich auch, warum er kein bisschen Freude darüber an den Tag legte, dass ihr ein solches Angebot gemacht worden war.

Gab es in Berlin eine weibliche Intendantin?

An einer führenden Spielstätte?

Nina war noch keine dreißig Jahre alt, sie kam aus keiner der großen Theaterfamilien und hatte ihren Weg allein, ohne Beziehungen und Unterstützung gemacht. Sie fand, sie hatte ein Recht, auf einen solchen Ritterschlag stolz zu sein, selbst wenn ihr Aschinger so wenig gefiel wie ihm.

Die Kerzen flackerten. Gegen die Fensterscheiben stürmte der Nachtwind, als wollte er herein.

»Nina.« Er stand auf und trat zu ihr, legte die Hände auf ihre Schultern. »Ich mache mir Sorgen. Das ist alles. Es bedrückt mich, dass diese Nationalisten mit solcher Macht in den Kulturbetrieb drängen und Einfluss darauf nehmen. Alfred Hugenberg von der DNVP hat zu all den Zeitungen, die er schon besitzt, die UFA aufgekauft, und jetzt erzählst du mir das von diesem Aschinger-Erben. Was geschehen kann, wenn Kultur missbraucht wird, haben wir während des Krieges erlebt, und ich möchte nicht, dass gerade du dazu benutzt wirst.«

»Und du traust mir zu, dass ich mich dazu benutzen lasse? Für was hältst du mich? Für eine heimliche Nationalistin oder für eine dumme Gans?« Sie schüttelte seine Hände ab. Was sie am wütendsten machte, war die Tatsache, dass Jenny ihr im Salamander ganz ähnliche Dinge gesagt hatte. Unverblümter allerdings. Nicht wie Anton mit Samthandschuhen, sondern nach Jenny-Art mit dem Holzhammer, aber mit genau dem gleichen Inhalt.

»Du willst einem Nazi die Galionsfigur machen?«, war sie herausgeplatzt. »Damit der überall herumschreien kann, dass er die wilde Nina Veltheim von den Wunderweibern gezähmt hat und sie fortan nach seiner Pfeife tanzt?«

»Was für ein Quatsch«, hatte Nina zurückgeschossen. »Kunst interessiert ihn überhaupt nicht. Er will nur Geld, in alles andere mischt er sich nicht ein.«

»Aber er könnte es, wenn er wollte. Wenn du bei ihm unter Vertrag stehst, hat er dich für seine Nazis in der Hand.«

»Nazis gibt es doch überhaupt nicht mehr«, sagte Nina. »Bei den Wahlen im letzten Jahr sind sie sang- und klanglos untergegangen. Diese ganze ominöse Hitlerbewegung hat sich als das entpuppt, was sie von Anfang an zu sein schien: Viel Lärm um nichts.«

»Doch, es gibt welche.« Nina und Jenny waren herumgefahren und hatten hinter sich Sonia entdeckt, die einen leiseren Gang als jede Katze besaß. »Es ist wie mit den Ratten. Man sieht sie nur selten, man denkt nicht an sie, doch ohne es zu ahnen, ist man nie mehr als drei Schritte von einer entfernt.«

Sonia war Jüdin. Die Angst vor irgendwelchen Halbstarken, die Juda verrecke an Hauswände schmierten, wurde bei ihr nachgerade zur Besessenheit. Jenny und Nina hatten nicht länger über Aschingers Angebot diskutiert, sondern sich bemüht, die Stimmung aufzuhellen und Sonia zu beruhigen, was dadurch erschwert wurde, dass diese so gut wie nie Alkohol trank. Sie unterhielten sich über ihre Pläne fürs Wochenende, amüsierten sich über Jennys komische Verzweiflung: Sie würde am Samstag mit dem Frühzug in die Uckermark fahren, obwohl ihr das Landleben ein Graus war.

»Ich mach’s nur wegen dem Kleining«, behauptete sie. »Wegen der guten Luft und so weiter. Obwohl ich mich manchmal frage, ob der Kleining nicht genauso süchtig nach verqualmter, alkoholgeschwängerter Berliner Kneipenluft ist wie seine Mutter und er mir da draußen bei Fuchs und Hase wie eine Primel eingeht.«

Der Kleining war ihr Sohn Viktor, der inzwischen nicht mehr ganz so klein, sondern neun Jahre alt, hoch aufgeschossen und dünn wie ein Zaunpfahl war. Nina und Sonia sowie das ganze Wintergarten- Volk verwöhnten und vergötterten ihn. Er mochte keinen Vater und keine handelsübliche Familie haben, aber er wurde von einem begeisterten Rudel selbst ernannter Tanten und Onkel umschwärmt.

»Nur Viktors wegen?«, fragte Sonia in ihrem ruhigen Tonfall, in dem nie Spott mitschwang. »Nicht auch, weil du dich danach sehnst, ein paar Tage mit Carlo zu verbringen?«

Nina mochte sie schrecklich gern. Sie ging keine Umwege, war nicht diplomatisch, sondern sprach einfach und ohne jeden Hintergedanken aus, was ihr am Herzen lag.

Jenny wurde verlegen und zog ihre prachtvolle Nase kraus. »Ich nehme an, völlig falsch liegst du nicht«, bekannte sie. »Obwohl die Sehnsucht bedeutend größer wäre, wenn der Herr Rittergutsbesitzer sich bequemt hätte, stattdessen zum Wochenende nach Berlin zu kommen, wo außer guter Landluft, Milch und dem Aroma von Pferdemist auch noch ein bisschen Amüsemang im Angebot ist.«

Ein Rittergut war Neu-Mahlen schon lange nicht mehr, sondern ein moderner Zuchtbetrieb für Trabrennpferde, und von ihrem Bruder Carlo wusste Nina, dass er nach Berlin kam, wann immer es ihm irgend möglich war.

Er liebte Jenny. Liebte sie mit Haut und Haar, wie eine Frau wie sie geliebt werden musste, und hätte nichts lieber getan, als sie zum Altar der Maria-Magdalenen-Kirche von Templin zu führen. Und Viktor zu seinem Sohn zu machen, ganz egal, was die Leute sagten. Aber Jenny war durch und durch Stadtmensch, Künstlerin und getrieben von einem Freiheitsdrang, der es ihr manchmal unmöglich machte, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Ein Leben auf Neu-Mahlen stand für sie außer Frage, und Carlo war sich dessen bewusst, auch wenn es ihm das Herz brach.

Sie redeten noch eine Weile, dann musste Nina aufbrechen. An der Tür, ehe sie sich aus der verrauchten Wärme der Kneipe in die Kälte wagten, hielt Jenny sie noch einmal zurück.

»Pass auf dich auf«, sagte sie. »Ich bin mindestens so geldgierig wie dein Aschinger und würde meine Großmutter verscherbeln, wenn sich irgendwo eine auftreiben ließe. Aber nicht an einen von den Hasspredigern, die wollen, dass alles, was unser Leben ausmacht, in Flammen aufgeht. Da behalte ich die Oma lieber selber. Und dich erst recht, Herzing.«

Sie hatte Nina auf die Stirn geküsst und sie stehen lassen, und genauso ratlos, wie sie anschließend in der Tür des Salamander gestanden hatte, fühlte sie sich auch jetzt noch. Es machte sie wütend, dass sie alle recht hatten – Jenny, Sonia und Anton. Aber hatten sie denn wirklich recht? Gab es nur eine einzige Art, die Dinge zu betrachten? Es machte sie ebenso wütend, dass ihr Traum überhaupt nicht zählte. Als grünes Mädchen vom Land hatte sie einst einem Theaterleiter auf die Frage, was sie werden wolle, »Intendantin« geantwortet. Daheim auf Neu-Mahlen, vor der improvisierten Bühne, die sie sich auf dem Dachboden zusammengezimmert hatte, hatte sie von ihrem eigenen Theater geträumt, von einer Plattform, auf die sie all die kunterbunten Gestalten stellen konnte, die ihr bei Nacht durchs Hirn tanzten, und zusehen, wie ihre Visionen zum Leben erwachten.

War sie ein gewissenloser Mensch, gab es Grund, an ihrer moralischen Haltung zu zweifeln, weil sie jetzt, wo die Erfüllung dieses Traums zum Greifen nah war, nicht einfach mit den Achseln zucken und verzichten konnte?

»Nein«, hörte sie Anton wie als Antwort auf ihre stumm gestellte Frage sagen. »Nein, ich halte dich nicht für eine Nationalistin, im Gegenteil. Und ich dachte, du wüsstest, dass ich dich für alles andere als eine dumme Gans halte. Aber ich halte Menschen grundsätzlich für verführbar. Mein einstiger Freund Rudolf Kante pflegte zu sagen: Käuflich ist jeder. Es ist lediglich eine Frage des Preises.«

Nina zuckte zusammen. Wie kam er jetzt plötzlich auf Kante? Sie hatte seinen Namen nicht erwähnt, hatte weder Anton noch Jenny und Sonia erzählt, dass angeblich Kante ihr eine Empfehlung ausgesprochen hatte. Das war das Vertrackteste, das Unheimlichste an der ganzen Angelegenheit: Rudolf Kante hasste sie. Oder zumindest hatte er sich vor Jahren, während ihrer Anfangszeit in Berlin, in einen Hass auf sie hineingesteigert und jede Gelegenheit genutzt, um ihr zu schaden. Weshalb hätte ausgerechnet er sie für eine lukrative Position empfehlen sollen, von der er wusste, dass sie mit Macht verbunden war und dass sie Ninas innersten Wünschen entsprach?

Damals hatte er dafür gesorgt, dass Direktor Neugebauer ihr die Tür des Wintergarten vor der Nase zuschlug, und es hatte sie ein langes, zähes Ringen gekostet, bis sie ihr Ziel schließlich doch noch erreicht hatte. Dass er ihr jetzt auf dem Silbertablett den Posten vermittelte, den sie immer gewollt hatte, schien ein Ding der Unmöglichkeit.

Ja, das alles war lange her, und es war durchaus denkbar, dass Rudolf Kante sich inzwischen beruhigt und besonnen hatte, wie die meisten Leute es taten. Schließlich waren sie alle älter und erwachsener geworden, und kein vernünftiger Mensch, schon gar nicht ein gefragter Regisseur wie Kante, vergeudete allzu lange seine Kraft mit uraltem Hass.

Sicher dachte Kante nur höchst selten daran, dass eine Nina Veltheim überhaupt existierte und dass er ihr einst Feindschaft bis aufs Blut geschworen hatte.

Ihr Gefühl sagte Nina jedoch, dass dem nicht so war.

Männer wie Kante vergaßen nichts. Sie trugen einen Schmerz mit sich herum, der so groß war, dass er sie umgebracht hätte, wenn sie kein Ventil fanden, um sich Luft zu machen. Wut war ein gutes Ventil. Der rasende Zorn auf einen Sündenbock. Dass Kante dieses Ventil aufgegeben hatte, um sich seinem Schmerz zu stellen, konnte Nina sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Sie stand auf. Die Lust auf Champagner und kalte Platten war ihr vergangen. »Dass du alle Menschen für käuflich hältst, erscheint mir reichlich zynisch, aber das ist dein Problem, nicht meines«, sagte sie. »Ich jedenfalls werde meine Entscheidung treffen, ohne mich von dir manipulieren zu lassen. Ich lasse mir auch nicht von dir einreden, ich wäre ein schlechter Mensch, wenn ich mich anders entscheide, als es dir gefällt. Du hast kein Recht dazu, Anton. Wir leben zusammen, aber das bedeutet nicht, dass du mir deine Sicht der Welt aufzwingen kannst.«

Sie nahm ihr Gedeck und ihr Glas, um es in die Küche zu tragen. Halb erwartete sie, hinter sich Schritte zu hören, die anzeigten, dass er ihr folgte, doch als sie ausblieben, hielt sie an und drehte sich noch einmal um.

Er stand beim Tisch, blies sich das schwarze Haar aus der Stirn und sah sie an. »Darum geht es in Wirklichkeit, nicht wahr?«, fragte er. »Um deine Angst, ich könnte dir etwas vorschreiben oder dir meine Meinung aufdrücken?«

Nina sagte nichts. Sie spürte, wie ihr Nacken und ihre Schultern sich versteiften.

»Ist das der eigentliche Grund, warum du mich nicht heiraten willst?«, kam es von Anton wie ein Schuss. »Weil ich vor dem Gesetz dann ein Recht dazu hätte, und weil du mir allen Ernstes zutraust, von diesem Recht Gebrauch zu machen?«