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Jenny

J enny Alomis war ein Luxusgeschöpf, das für ihren Komfort ohne Hemmungen Geld zum Fenster herauswarf. Ein Salonwagen im Orient-Express wäre nach ihrem Geschmack gewesen, ein Kühler mit Champagner, der im vor Samt strotzenden Abteil auf sie wartete, und ein Zugkellner, der alle halbe Stunde mit exquisiten Häppchen vorbeikam. Wenn sie jedoch mit Viktor und Darius reiste, buchte sie grundsätzlich die vierte, die sogenannte Holzklasse, weil es in den oberen Klassen nicht gestattet war, Tiere zu transportieren.

Auf den ungepolsterten Bänken des letzten Wagens drängten sich Bauersfrauen, die in Einkaufstaschen lebende Hühner auf dem Schoß hielten, Händler mit Ziegen, die Schaufel und Eimer für das Geschäft ihres Viehzeugs bereithielten, und zwischen klappernden Milchkannen stapelten sich Kisten mit Küken. Einmal war Jenny sogar mit einem leibhaftigen Kalb gereist, das die ganze Fahrt über so jämmerlich geschrien hatte, dass sich ihr das Herz umgedreht hatte. Kurzerhand hatte sie es dem Besitzer abgekauft und es mit nach Neu-Mahlen genommen.

In einem spontanen Einfall hatte sie behauptet, es sei ein Geschenk für Carlos Tante, die Gundula hieß, jedoch von allen Sperling genannt wurde und keine Kreatur auf Erden leiden sehen konnte. Liebevoll hatte Tante Sperling das Tier aufgepäppelt, und als inzwischen ausgewachsene Kuh namens Mathilde lebte es noch immer geliebt und umhegt auf dem Gut. Die edlen Trabrennpferde der Veltheimschen Zucht hatten es allem Anschein nach als ihresgleichen akzeptiert.

Jetzt saß Jenny eingezwängt zwischen ihrem Sohn und Darius, dem Mann, mit dem sie ihre Wohnung und in gewisser Weise auch ihr Leben teilte. Jedenfalls mehr als mit Carlo, durchfuhr es sie. Sie war dankbar für das Rattern des Zuges, denn das machte es unmöglich, ein Gespräch zu führen, und erlaubte ihr, ihren Gedanken nachzuhängen. In ihrem wilden, übervollen Alltag war dafür kaum je Zeit, und genau so gefiel es ihr. Für gewöhnlich war ihr alles recht, was dabei half, sich vor allzu schwerem Denken zu drücken, doch diese Sache mit Carlo konnte sie nicht ewig verdrängen. Irgendwann musste sie sich der Frage stellen, wie es weitergehen sollte.

Carlo von Veltheim war ein feiner Kerl.

Ein verdammt feiner Kerl, vermutlich der feinste, der ihr in ihrem Leben unterkommen würde.

Er hatte es nicht verdient, dass sie ihn auf ewig hinhielt, und dass er der Bruder ihrer engsten Freundin war, machte die Sache nicht besser.

Im Grunde genommen waren Carlo und sie seit bald fünf Jahren ein Paar, auch wenn sie nicht zusammenlebten, sondern er auf seinem Gut blieb und sie in der Kreuzberger Dachwohnung, die sie nach ihrem Auszug aus der Jerusalemer Straße gemietet hatte. Zusammen mit ihrem Sohn und mit Darius, dem Pontosgriechen aus Istanbul, der sich als »Darius der Löwenbändiger« einen Namen gemacht hatte, in ihrem Haushalt jedoch die Aufgaben eines Kindermädchens versah. Der Löwe, den er bei seinen Auftritten zu bändigen versuchte, war der Grund für ihre Reise in der Holzklasse und thronte auf seinem Schoß. Er hieß Ypsilantis, stammte wie Darius aus dem untergegangenen Osmanischen Reich und war die größte Katze, der Jenny jemals begegnet war.

Ihre häusliche Gemeinschaft mit Darius, der keine Forderungen stellte, Viktor, der sich selbst genügte, und Ypsilantis, der sie hoheitsvoll ignorierte, war so unkompliziert, wie sie es wollte und brauchte. Der Rest war schließlich kompliziert genug. Ihr Beruf, von dem sie nicht wusste, wie lange sie ihn würde ausüben können, wie lange ihre Glieder sich nach Belieben drehen, biegen und schrauben ließen und ihr Rücken der Belastung standhielt. Sie war nicht mehr ganz so jung, wie die meisten glaubten. Die dreißig hatte sie überschritten, und nicht nur ihre Knochen hatten genug für das Doppelte an Jahren hinter sich.

Kompliziert war auch ihre Beziehung zu Carlo.

Von Anfang an hatte er keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich mehr von ihr wünschte als alle paar Wochen eine Handvoll paradiesischer Tage entweder in ihrer Berliner Wohnung oder in seinem eigentümlichen, museumsartigen Gutshaus, bei seiner Familie, die Jenny wider Erwarten ins Herz geschlossen hatte. Gemeinsam verreist waren sie auch. Paris, Wien, Venedig. Viel gesehen hatten sie von keiner dieser Städte, weil sie aus den Betten ihrer Luxushotels kaum herausgekommen waren. Es war schön mit Carlo. Schön, weil er genau wie seine Schwester eine Hingabe an den Tag legte, die bedingungslos und überwältigend war. Schön aber auch, weil er im Gegensatz zu Nina ruhig und besonnen war und Jenny damit einen Halt gab, von dem sie nicht gewusst hatte, wie wohl sie sich damit fühlte.

Carlo war klug und aufrichtig, er hatte in seinem Leben nichts zu verbergen. Wenn Jenny mit ihm zusammen war, schlief sie tief und traumlos bis in den Morgen, wie es seit ihrer Kindheit nicht mehr geschehen war. Vermutlich hatte sie nicht einmal als Kind so geborgen und furchtlos geschlafen und war nie mit einer solchen Verwunderung darüber erwacht, wie erholt sie war. Er tat Dinge für sie, die kein Mann zuvor für sie getan hatte: Achtete darauf, dass sie gut aß und sich warm genug anzog, vergewisserte sich unentwegt, dass es ihr an nichts fehlte, und fragte sie jeden einzelnen Morgen, an dem sie zusammen erwachten, wie es ihr ging.

Als sie ihn einmal darauf ansprach, hatte er erstaunt erwidert: »Tun das nicht alle Leute? Will nicht jeder wissen, dass es dem Menschen, den er liebt, gut geht?«

Carlo wollte es wirklich wissen, er wollte alles wissen, was Jenny betraf. Andere Männer stellten halbherzig Fragen nach ihrem Befinden, ihrem Beruf und ihren Wünschen, bis sie sie in ihr Bett bekommen hatten, doch bei Carlo beruhte es auf ehrlichem Interesse. Das Verblüffendste an Carlo war jedoch, dass er nichts Patriarchalisches, nichts Herrschsüchtiges an sich hatte und keine Machtspiele spielte. Er wollte mit Jenny leben, und er wollte, dass sie glücklich war.

Die meisten Leute, die sie kannte, begriffen beim besten Willen nicht, wo daran das Problem war.

»Der Kerl is’ hübsch wie’n Jemälde, er liecht dir zu Füßen, und wieso du dir den nich’ krallst und zum Standesamt zerrst, is’ mir ’n Rätsel«, hatte Else Wiener bekundet, die einst im Wintergarten als Souffleuse fungiert hatte und jetzt für die Wunderweiber tanzte.

Ihre Kollegin Berthe, die von der Reinemachefrau zum Varieté-Star avanciert war, hatte frei nach Shakespeare gefragt: »Liebste ihm oder liebste ihm nich’ – dit is’ hier die Fraje, oder? Und wennde ihm liebst – denn versteh ick nich’, wieso du ihm nich’ heiraten tust.«

Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre, dachte Jenny mit einem Seufzen. Wie schwer es tatsächlich war, verstanden vermutlich nicht einmal Nina und Sonia, auch wenn sie zumindest kaum je Fragen stellten. Um alles zu verstehen, hätten sie alles wissen müssen, und das gestattete Jenny nicht einmal ihren besten Freundinnen.

»Wenn ich ein offenes Buch bin, bist du ein vernageltes Kabinett«, hatte Nina einmal zu ihr gesagt, nicht ahnend, dass es noch wesentlich schlimmer war.

Jenny war kein Kabinett, sondern ein Sarg, in dem verborgen lag, was nie mehr ans Licht kommen durfte.

»Alles in Ordnung?« Von der Seite warf Darius ihr einen seiner prüfenden Blicke zu. Er musste ihr Seufzen gehört haben. Der Zug fuhr jetzt geschmeidiger, das Rattern war nicht mehr so laut. Die zwei Marktfrauen mit den klappernden Milchkannen waren ausgestiegen.

»Alles bestens«, behauptete Jenny. »Ich kann nur nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, was dieser Fritz Aschinger vorhat. Aber das wird mir schon gelingen, sobald wir auf Neu-Mahlen sind und das Geschwader der Veltheim-Damen über uns herfällt. Tante Sperling mit ihren Taschentüchlein, Fritzi mit ihrem Eintopf, Otta mit ihrem Bierkutscher-Organ und Oma Hulda mit ihren Stellungnahmen zur Lage der Nation.«

Fritzi war keine echte Veltheim-Dame, sondern ursprünglich als Hausmädchen zu Carlos Familie gekommen. Mit dem verlorenen Krieg hatten die Zeiten des Überflusses für die Brandenburger Gutsbesitzer jedoch ein jähes Ende genommen, und die verwitwete Freifrau Ulrike von Veltheim hatte den größten Teil des Personals entlassen müssen. Fritzi war geblieben, weil sie mit ihrer patenten Art in die Familie hineingewachsen war, und versah fortan auch die Aufgaben einer Köchin. Das kam ihr zupass. Der Platz am Herd war ihr Element und der Rührlöffel ihr Zepter. Nicht alles, was sie fabrizierte, war Haute Cuisine, aber wie Oma Hulda stoisch bemerkte: »Bisher ist noch keiner von uns einer Vergiftung erlegen, und mit der Zeit härtet sich so ein Magen ab.«

Fritzis Gugelhupf war richtig gut, und ihren Kohleintöpfen konnte man entgehen, indem man bedauernd vorgab, an Blähungen zu leiden.

Jenny mochte die vier Frauen von Neu-Mahlen und Carlos zwölfjährige Schwester Otta schrecklich gern. Bis auf Fritzi waren sie alle dafür geboren und erzogen worden, ein Leben in sorglosem Luxus zu führen, doch die vollkommen anders geartete Karte, die das Schicksal ihnen zugespielt hatte, nahmen sie ohne Gejammer hin. Sie schlugen sich durch. Und sie weigerten sich, sich die Freude am Leben nehmen zu lassen. Die Idee zu den Wunderweibern, mit der Nina in irgendeiner Nacht am Kneipentisch herausgeplatzt war, beruhte auf dieser Erfahrung: Auf der erstaunlichen Stärke von Frauen, die sich in der Verwüstung des Krieges zurechtfinden mussten, Kinder aufziehen, Essen auf den Tisch bringen, Trauer herunterschlucken und dabei auf die Pauke hauen, weil sie gelernt hatten, wie erbarmungslos der Tod war und wie kostbar das eine Leben.

»Über die Absichten des Herrn Aschinger nachzugrübeln, lohnt sich vermutlich nicht«, sagte Darius. »Wie immer sie aussehen, er wird sie durchsetzen, und was immer deine Freundin Nina tun will, wird sie tun.«

Ohne Frage, dachte Jenny. Nina war geradezu besessen von der Furcht, sie könne als junge Landadelige im Theaterbetrieb nicht ernst genommen werden, und alle Welt brenne darauf, ihr dreinzureden. Vermutlich deshalb war das Angebot, mit dem Aschinger ihr vor der Nase herumwedelte, so unwiderstehlich für sie. Unbegründet war diese Furcht natürlich nicht. In ihrer Anfangszeit hatte kaum jemand Nina für mehr als ein drolliges Püppchen gehalten, das mit seinen hochfliegenden Träumen für Gelächter sorgte. Auch Jenny selbst nicht. Nina aber hatte sich im Handumdrehen Respekt verschafft, weil sie nicht nur massenhaft Talent, sondern darüber hinaus den Biss einer Bulldogge besaß. Was sie einmal wollte, das ließ sie nicht mehr los, und wer in ihrem Windschatten lief, den riss sie mit.

Vielleicht der Einzige, der schon vom ersten Tag an keinen Zweifel gehegt hatte, dass Nina eine der Großen ihrer Zunft werden würde, war Anton Wendland gewesen. Zu jener Zeit hatte ihm bereits die Theaterwelt zu Füßen gelegen, er hatte die Wahl unter Berlins schönsten Frauen gehabt und keinen Grund, der streitbaren kleinen Brandenburgerin auch nur einen zweiten Blick zu schenken. Dass er es dennoch getan hatte, war ihm hoch anzurechnen, und Jenny hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass in dem schönen Anton nicht wie vermutet ein hohlköpfiger Lackaffe, sondern ein Kerl zum Pferdestehlen steckte.

Aber ich war auch nicht in ihn verliebt, dachte sie. Für Nina war es ungleich schwieriger gewesen: Sie wollte es nicht auf irgendeine Bühne schaffen, weil sie die Geliebte eines namhaften Schauspielers war, sondern ihre Ziele aus eigener Kraft erreichen. Auf jeden Versuch Antons, ihr eine Tür zu öffnen oder einen Stein aus dem Weg zu räumen, hatte sie mit zorniger Ablehnung reagiert, und so leid es Jenny für Anton tat: Sie konnte die Freundin verstehen. Anton hatte Geld, Erfolg und Anerkennung, Nina dagegen stand mit leeren Händen da. Es war alles andere als leicht, eine Liebe zu leben, wenn man sich dem anderen derart unterlegen fühlte, und es hatte ja auch niemand den modernen Frauen beigebracht, wie man das anstellte: eine moderne Frau zu sein. Mit den alten Geschlechterrollen zu brechen, war bei Weitem leichter, als neue zu entwickeln, für die es keine Vorbilder gab.

Für Nina musste die Stellung, die Aschinger ihr anbot, wie der Beweis aussehen, den sie glaubte, sich und der Welt noch immer schuldig zu sein: Ich habe es geschafft. Ich bin zu den Sternen aufgestiegen, wie es sonst nur Männern gelingt, und ich habe dazu niemandes Hilfe gebraucht.

Wie konnten sie alle von ihr verlangen, dass sie auf einen derartigen Triumph verzichtete, nur weil der Mann ihnen nicht ganz koscher vorkam und weder schwarzen Jazzsängerinnen noch jüdischen Konkurrenten zugetan war? Das hatte er schließlich mit gewiss einem Drittel des deutschen Bürgertums gemein, und soweit Jenny wusste, betätigte er sich nirgendwo politisch, sondern scheffelte lediglich Geld. Dass er Nina freie Hand lassen würde, hatte er ihr bereits zugesichert.

Wo also lag das Problem?

Vielleicht bin ich es, dachte Jenny. Vielleicht hockt irgendwo ganz hinten in meinem Kopf noch immer ein zu Tode erschrockenes Wesen, das nicht anders kann, als hinter jeder Straßenecke Gefahr zu wittern. Statt erhaben zu sein. Statt über Gestalten wie diesen Löffelerbsen-Aschinger zu lachen, ihm zusammen mit Nina seinen Laden zu schmeißen, wie nur die Wunderweiber vom Wintergarten es konnten, und auf seine Kosten Champagner zu saufen.

Sie schüttelte sich. Sah hastig aus dem Fenster und erkannte die ersten, wie dem Schaufenster eines Zuckerbäckers entsprungenen Häuschen von Templin.

»Darius und ich haben uns gerade überlegt, wer es dir sagt«, ließ sich Viktor vernehmen, der mit Worten so sparsam umging wie ein Krämer mit Kupferpfennigen. »Wir sind gleich da. Wenn du nicht aufwachst, verschläfst du den Bahnhof.«

»Aber ich schlafe doch gar nicht«, verteidigte sich Jenny.

»Doch«, erwiderte Viktor und sah mit seinen beinahe schwarzen Augen, die zu dem hellen Schopf noch dunkler wirkten, zu ihr auf.

»Meine Augen sind offen.«

Viktor blieb unbeeindruckt. »Das hat nichts zu sagen. Ypsilantis schläft auch mit offenen Augen. Aber er verpasst nie den Bahnhof. Er verpasst überhaupt nie was.«

Du auch nicht, dachte Jenny und stand auf. »Also los. Schnappen wir uns unser Gepäck und sehen zu, dass wir nichts verpassen. Freust du dich auf vier Tage Pferde, Hunde und Scharen von reizenden Damen, die dich bis dorthinaus entzückend finden?«

»Oma Hulda findet mich nicht entzückend«, sagte Viktor. »Sie findet, Kinder sind eine Landplage, die man sich nur anschafft, damit man sich seinen Sarg nicht selbst zum Friedhof schleppen muss.«

Jenny entfuhr ein Prusten, während die Frau gegenüber, die mit einem Regenschirm ihre Gans vor Ypsilantis’ Krallen schützte, ihr einen angewiderten Blick sandte.

»Ich mag Oma Hulda«, fügte Viktor im Brustton der Überzeugung hinzu, stand ebenfalls auf und zerrte die Reisetasche, die er eigenhändig gepackt hatte, unter der Sitzbank hervor.

Wie ist uns eigentlich dieser Kleining so vorzüglich gelungen?, fragte sich Jenny. Vielleicht konnte man nichts Besseres tun, als Kinder einfach ins Kraut schießen zu lassen, vielleicht war es die ganze Herumerzieherei, die aus pfiffigen kleinen Jungen Widerlinge wie diesen Aschinger oder weit Schlimmeres machte. Ehe sie sich weiter in diesen Gedanken verrennen konnte, fuhr der Zug in den Bahnhof ein, und an der Straße, gleich hinter dem Gleis und dem verschlafenen Häuschen mit dem Blechdach entdeckte sie den verbeulten, aber blitzblank aufpolierten Landauer von Neu-Mahlen. Wie immer war er mit den beiden prächtig im Futter stehenden Braunen bespannt, deren gestriegelte Kruppen in der Wintersonne glänzten, und kein Mensch bewachte ihn. In Templin war das nicht nötig. Jeder kannte jeden, und hätte ein Unbefugter sich am Wagen der von Veltheims zu schaffen gemacht, wäre die halbe Ortschaft über ihn hergefallen.

»Da ist Carlo«, konstatierte Viktor und wies auf den breitschultrigen dunkelblonden Mann im Tuchmantel, der am Gleis stand und mit beiden Armen winkte. Glücklicherweise gehörte Jennys Sohn nicht zu den Kindern, die jede männliche Person in ihrem Umkreis Onkel nannten, und er betrieb auch keine offensichtliche Suche nach einem Ersatzvater. Aber er mochte Carlo. Die beiden hatten so etwas wie eine Freundschaft auf Augenhöhe, die zwischen Kindern und Erwachsenen selten war.

Mit Carlo war so ewas möglich, weil er alle Geschöpfe ernst nahm. Selbst wenn er sich mit Ypsilantis unterhielt, schien er den stummen Antworten des Katers mit echtem Interesse zu folgen, und sooft er Jenny nach Neu-Mahlen einlud, war es für ihn selbstverständlich, nicht nur Viktor, sondern auch Darius einzuschließen.

»Ich denke, Herr Triantafillidis und sein Löwenkater könnten ein paar Tage Erholung gut brauchen«, pflegte er zu sagen und war damit obendrein einer der wenigen Menschen, die sich die Mühe machten, Darius’ Familiennamen korrekt auszusprechen.

Ich mag Carlo auch, dachte Jenny und verspürte ein wohliges Kribbeln im unteren Bauchbereich, während sie den anderen durch den Gang folgte. Für eine kleine Weile waren alle Sorgen und Bedenken vergessen, und Jenny vermochte sich ganz dem eigentümlichen Reiz ihrer Besuche auf Neu-Mahlen hinzugeben, von denen sie einst geglaubt hatte, sie würden sie zu Tode langweilen: Hier war alles harmlos, hier war alles hell, hier gab es keine Leichen im Keller, und niemand hegte Hintergedanken, sondern jeder barst vor guten Absichten.

Wie üblich ließen sich Darius und Viktor nicht vom allgemeinen Gedränge anstecken, sondern schritten ruhig und gemessen hinter dem Pulk her. Jenny verkniff sich ein Lachen. Wer den zweien zusah, musste sie einfach für Vater und Sohn halten, trotz der tintenschwarzen Locken des Mannes und des sandblonden Haarschopfs des Jungen. Beide gingen sie mit schnurgeradem Rücken und stolz erhobenem Kopf, blickten mit erhabener Gelassenheit geradeaus, und seit Darius mit Viktor einkaufen ging, trugen sie auch noch die gleiche Art von Kleidung: Darius ein Tweedsakko mit wenig dezenten Karos über einem zitronengelb gemusterten Hemd und aquamarinblauer Fliege, Viktor ein Hemd mit schwarz-weißem Zackenmuster zu Halstuch und Clubjacke in Burgunderrot.

Kaum erreichten sie die Tür des Waggons, empfing sie schon Carlo, der nicht den geringsten Hehl aus seiner Freude machte. »Viktor, wie schön, dass du endlich wieder einmal nach Neu-Mahlen kommst. Fritzi steht schon am Herd und brät Plinsen – für Herrn Triantafillidis mit Apfelmus und für dich mit Sauerrahm und Schnittlauch.«

»Und für mich?« Carlo hatte Darius die schwerere der beiden Taschen abgenommen, weil Viktor grundsätzlich darauf bestand, seine selbst zu tragen, Darius zog Viktor taktvoll ein paar Schritte weiter, und Jenny trat hinter ihnen in die Tür.

Carlos strahlendes Begrüßungslächeln wich etwas anderem. Seine Augen schienen sich zu verdunkeln, und die Sehnsucht, die darin aufglomm, war unverhüllt. Er stand mitten in einem Sonnenflecken, die Luft war kalt, glasklar und stank nach Pferdemist. Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Für dich kocht Fritzi seit drei Tagen Leberwurst«, raunte er in einem Ton, als bitte er sie hier und jetzt, mit ihm ins Bett zu steigen. »Heute Abend gibt es Schlachtplatte mit Sauerkraut und Wellfleisch. Und alles, was du sonst noch willst, Jenny. Weißt du das nicht? Dass du von mir haben kannst, was immer du dir wünschst?«