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Carlo

U nd Sie sind also die künftige Freifrau von Veltheim?« Adele Baronesse von Harras spießte etwas von ihrer Vorspeise aus feinem Rindertatar und Wildkräutersalat auf die Gabel und starrte Jenny dabei ungeniert an. »Die liebe Freiin Gundula hat ja schon etwas von einer Verlobung angedeutet, aber ob es sich bereits schickt, zu gratulieren, ist mir nicht recht klar geworden.«

Falls Tante Sperling, die in ihrem rosengemusterten Spitzenkleid viel zu zart und dezent für eine »Freiin Gundula« wirkte, dergleichen tatsächlich angedeutet hatte, so handelte es sich um reines Wunschdenken, das Carlo, wie er zugeben musste, teilte. Jenny allerdings würde diese Seifenblase mit einem einzigen Nadelstich zum Platzen bringen. Mit ihrem gesunden Appetit, den er göttlich fand, hatte sie ihre Vorspeise bereits in sich hineingestopft. Fritzi servierte ihr grundsätzlich doppelte Portionen, aber das hielt Jenny nicht davon ab, ihren Teller ohne jedes Zieren und schneller als alle anderen zu leeren.

»Es schickt sich nicht«, entgegnete sie unverblümt und hielt dem Blick der Baronesse stand. »Carlo und ich sind zwei Geheimniskrämer. Wir ziehen in Erwägung, zur Hochzeit nach Schottland durchzubrennen, obwohl wir uns fragen, ob das inzwischen nicht ganz fürchterlich aus der Mode ist.«

Er hätte sie küssen wollen. Hier und jetzt, vor der gesamten Tischgesellschaft und beileibe nicht nur züchtig auf die Wange. »Ist sie nicht wundervoll?«, wäre er am liebsten herausgeplatzt. Sie vermochte den gekünstelten Ton seiner Klasse perfekt zu imitieren, spreizte den kleinen Finger von der Gabel und schürzte mädchenhaft ihre prachtvollen Lippen, während sie die frappierendsten Unverschämtheiten vom Stapel ließ.

Am meisten aber liebte er sie in diesem Augenblick, weil sie der Behauptung, mit ihm verlobt zu sein, nicht widersprochen hatte. Stattdessen hatte sie tatsächlich das Zauberwort Hochzeit in den Mund genommen, auch wenn es nur geschehen war, um die Baronesse zu verulken.

Die Besucherinnen waren zu dritt: eine ledige Baronesse Harras, ihre Schwägerin, eine verwitwete Baronin mit dem Vornamen Hedwig, und ihre Cousine, eine ebenfalls verwitwete Juliane Edle von Brackel. Tatsächlich war die Familie mit der von Oma Hulda, die eine geborene von Holtzendorff war, weitläufig bekannt. »Dein Herr Großvater stand einmal kurz davor, mir einen Antrag zu machen«, hatte die Baronesse Adele Carlo sozusagen zur Begrüßung erklärt. »Wir sind also in gewisser Weise verwandt, auch wenn die liebe Hulda am Ende die der Familie genehmere Partie war.«

Das grenzte an Beleidigung, aber Oma Hulda hielt sich mit solchen Kinkerlitzchen nicht auf. »Wenn wir in gewisser Weise verwandt sind, können wir uns die förmliche Vorstellung ja sparen und uns zu Tisch setzen«, war alles, was sie dazu von sich gegeben hatte.

Carlo hatte dann immerhin Jenny, Viktor und Darius vorgestellt, und die Baronesse Adele hatte sich über den Namen Triantafillidis überhaupt nicht mehr beruhigen können.

»Ein Grieche, zweifellos ein Phanariote, nein, wie außergewöhnlich! Ein Gast von der Wiege der abendländischen Kultur. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Tinontofantidis. Ich bin sicher, Sie sind Philosoph oder Staatslenker oder etwas anderes, was Sie über uns gewöhnliche Sterbliche erhebt.«

»Löwenbändiger«, hatte Darius zur Antwort gegeben, und danach war die Baronesse mindestens zwei Minuten lang still gewesen.

Jetzt aber lief sie zu einem neuen Angriff auf, und diesmal hatte sie Jenny im Visier. »Eine Bekannte aus der hiesigen Kirchengemeinde war kürzlich in Schottland«, behauptete sie. »Ihrem Bericht nach hat Edinburgh durchaus gewisse Reize, doch es gibt dort nichts, das die exorbitanten Preise rechtfertigt. Im Übrigen will mir nicht einleuchten, weshalb Sie für Ihre Hochzeitsreise ein derart entlegenes Ziel anstreben. Nahe läge es doch, Ihrem Bräutigam die Stadt zu zeigen, der wir beide entstammen und mit der ohnehin so rasch keine andere wird mithalten können. Fraglos nicht das laute und aufdringliche Paris, ganz zu schweigen von Venedig, das wie eine Kloake stinkt.«

Fritzi hatte Jenny als Zwischengang ein Körbchen mit knusprigem, frisch gebackenem Weizenbrot, eine Schale gelbe Butter und eine Untertasse voll Lachskaviar vorgesetzt. Jenny war im Begriff gewesen, sich darüber herzumachen, ließ jetzt jedoch das Buttermesser sinken. Ihre Haut war ohnehin sehr weiß, was zu den pechschwarzen Brauen und Wimpern großartig wirkte, aber jetzt sah Carlo sie vollkommen erbleichen. Tante Sperling, die wie üblich endlos über die Tischordnung nachgesonnen hatte, hatte ihn und Darius zwischen die Besucherinnen platziert, damit jene in den Genuss eines Tischherrn kamen. Carlo wünschte, er hätte sich dem nicht gefügt, sondern darauf bestanden, wie sonst an Jennys Seite zu sitzen.

Sie war stark wie eine Trakehnerstute, sie schaffte alles allein und bat nie jemanden um Hilfe, aber in diesem Augenblick glaubte Carlo zu spüren, dass sie ihn brauchte. Was genau vor sich ging, wusste er nicht. Aber dass es an die Wunde rührte, die Jenny in ihrem Innern hermetisch verschloss, hätte auch ein Wildfremder erkannt.

»Was meinen Sie damit – die Stadt, der wir beide entstammen?«, fragte sie scharf.

»Nun, der liebe Freiherr Carl-Otto hat doch vorhin bei der Vorstellung klar und deutlich verlautbart, dass Sie ebenso wie ich gebürtige Riganerin sind.«

»Sie … Sie kommen aus Riga?«, stammelte Jenny.

Mit einem Schlag fühlte Carlo sich schuldig. Hatte er es tatsächlich versäumt, Jenny gegenüber zu erwähnen, dass die Besucherinnen Baltendeutsche waren? Das war kein Versehen, erkannte er. Seine Schwester Nina mochte ihn für reichlich vertrottelt halten, aber ein solches Versäumnis wäre ihm nicht unterlaufen, wenn er es nicht insgeheim gewollt hätte. Vielleicht hatte er befürchtet, Jenny könne das gemeinsame Abendessen ablehnen, wenn sie erfuhr, woher die Gäste stammten, vielleicht hatte er unbewusst geahnt, was ihm jetzt klar und deutlich vor Augen stand: Es war diese Stadt, in der Jennys Dämonen hausten, diese Stadt, die sie ihm verschwieg, weil das, was sie dort zurückgelassen hatte, selbst für die todesmutige Jenny Alomis zu entsetzlich war, um sich dem zu stellen.

Waren es nicht immer Städte, bei all diesen Entwurzelten, die der Krieg über ganz Europa verstreut hatte? Die wenigsten Menschen verließen ihre Heimat aus freien Stücken, sosehr Jenny auch bemüht war, den Anschein zu erwecken, dass sie nie etwas anders als aus freien Stücken tat.

»Und ob, meine Liebe, und ob«, flötete Adele von Harras. »Meine Heimat ist unsere schöne, verlorene Perle des Baltenlandes genau wie die Ihre. Übrigens kamen Sie mir sofort vertraut vor, als Sie vorhin mit dem lieben Freiherrn Carl-Otto den Raum betraten. Ich bin sicher, unsere Familien pflegten gesellschaftlichen Umgang miteinander. Wo befand sich denn Ihr Stadtwohnsitz? In der Livländischen Vorstadt doch sicher? Unweit des Theaters? Wir hatten dieses reizende Haus in der Bärentöterstraße, sahnegelb verputzt und mit dem süßen Zwerchhaus an der Traufe. Erinnern Sie sich? Ach, was für herrliche, unwiederbringliche Zeiten. Wer hätte gedacht, dass all dies einmal von Barbaren ausgelöscht werden könnte, wo es seit achthundert Jahren festen Bestand hatte?«

»Ja«, murmelte Jenny ausdruckslos und stierte ins Leere. »Ich erinnere mich.«

»Die Löwenapotheke war zwei Häuser weiter«, plapperte die Baronesse unbekümmert weiter. »Und dann das rote Haus, wie wir es nannten, dieser majestätische Bau aus dem Holz unserer Rigaer Birken, mit den geschnitzten Verzierungen an den Dachgiebeln, das der Familie von Siver gehörte. Der Senior, Waldemar, stand dem Börsenkomitee vor und war Ältester der Gilde, und von seinen sieben Söhnen war Eduard, der das Haus übernahm, der Liebling und durfte werden, was er wollte. Arzt ist er geworden. Ich bin sicher, den werden Sie auch noch kennen, die ganze Vorstadt ging ja mit ihren Zipperlein zu ihm.«

»Ja«, sagte Jenny wieder, in dem gleichen ausdruckslosen Tonfall, der Carlo einen Schauder über den Rücken jagte. »Ich kenne ihn.«

»Eine so feine und propere Familie«, sagte die Baronesse. »Und die Frau Doktor, was für eine durch und durch vornehme Dame und was für eine wunderbare Mutter. Wie kleine Püppchen, wie Prinz und Prinzesschen hat sie ihre Schar herausgeputzt, und nichts war für das hübsche Dreigespann gut genug. Ist es nicht eine unsägliche Grausamkeit des Schicksals, dass eine solche Familie alle drei Kinder verliert? Es hat ihr das Herz gebrochen, dem armen Mutting, der armen Frau von Siver, und wer kann es ihr verdenken? Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt noch von dieser Tragödie gehört haben, meine Liebe – wann sind Sie denn von Riga weg?«

»Vor einer Ewigkeit«, sagte Jenny.

»Ja, so kommt es einem manchmal vor, nicht wahr?« Die Baronin legte die Gabel nieder und wischte sich über die Stirn. »Als hätte unser Leben dort sich in einer anderen Zeit abgespielt, die der Rest der Welt einfach vergisst. Schon deshalb ist es wichtig, dass wir Baltendeutschen zusammenhalten. Ihr Name sagt mir allerdings nichts. Alomis, Alomis – ich nehme an, Ihr verstorbener Mann war Lette oder Litauer? Dagegen ist ja nichts einzuwenden, wir mussten schließlich alle zusehen, wie wir zurechtkamen. Darf ich aber fragen, was Sie für eine Gebürtige sind?«

»Alomis«, sagte Jenny mit ihrer ausdruckslosen Geisterstimme. »Ich bin Jenny Alomis und sonst nichts.«

»Und damit ist es genug«, fuhr Oma Huldas Stimme dazwischen wie mit der Sense. »Deine Sentimentalitäten in allen Ehren, Adele, aber selbst dir dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass deine Fragerei Carlos Gast den Appetit verdirbt. Das ginge mir, nebenbei bemerkt, ganz genauso. Soweit ich mich erinnere, tauscht man beim Essen die unvermeidlichen Belanglosigkeiten, aber man bombardiert einander nicht mit Fragen wie bei einem Polizeiverhör.«

»Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung!«, fuhr Adele von Harras pikiert auf. »Ich war lediglich erfreut, in der Fremde einer Landsmännin zu begegnen und ein paar Erinnerungen tauschen zu können. Hätte ich gewusst, dass ich mich damit bei der ungekrönten Königin des Hauses unbeliebt mache, hätte ich mich selbstredend nicht so weit vorgewagt.«

»Na bestens«, brummte Oma Hulda. »Fritzi, Sie können dann den Fischgang auftragen.«

Es wäre meine Pflicht gewesen, einzuschreiten, dachte Carlo. Meine Liebste in Schutz zu nehmen, nicht zu warten, bis meine Oma es für mich tut.

Und warum habe ich es nicht getan?

Weil ich noch hundert Mal mehr als diese impertinente Heimatvertriebene darauf brenne, zu erfahren, was Jenny verbirgt, gestand er sich ein und schämte sich.

Fritzi kam mit der großen Servierplatte, auf der auf einem Bett aus Lauch ein Zander angerichtet war. Jenny, die für gewöhnlich Stielaugen bekam, sobald ein neues Gericht auf dem Tisch stand, starrte weiter teilnahmslos ins Leere.

»Bei dem Verlauf, den das Gespräch nimmt – wäre es nicht angebracht, die Kinder ins Bett zu schicken?«, fragte die Baronesse Adele und nickte vielsagend in Richtung Otta und Viktor, die mit großen Augen dem Geschehen folgten. Carlos kleine Schwester war eine Plaudertasche vor dem Herrn, während Viktor, der bis zu seinem vierten Lebensjahr kein Wort gesprochen hatte, die Dinge schweigend in sich aufnahm. Jetzt aber hatte sich seine ältere Freundin ihm angeschlossen. Die beiden Kinder saßen da wie zwei Salzsäulen.

»Ach, weißt du«, bemerkte Oma Hulda, die sich vom gebutterten Kartoffelstampf auflegte, »als die Herren beschlossen hatten, vor unserer Haustür einen Krieg vom Zaun zu brechen, war es leider schon zu spät, die Kinder ins Bett zu schicken, und seither fragen wir uns: Was soll sie jetzt noch schrecken?«

»Vor Ihrer Haustür?«, rief die Edle Juliane, deren zartes, spitzes Stimmchen nicht zu dem mächtigen Resonanzkörper ihres Brustkorbs passte. »Sind vor Ihrer Haustür etwa blutige Gefechte ausgetragen worden? Ganz sicher nicht, denn hier blüht und gedeiht ja alles. Die Eingesessenen leben wie die Maden im Speck, und keinem von ihnen ist der eigene Grund und Boden unter den Füßen weggerissen worden.«

Zu seinem Entsetzen sah Carlo, dass der kleinen, kugelrunden Frau die Tränen über die Wangen strömten.

»Ach, Julianchen, mein Herzing, nun gräm dich doch nicht. Dass Hulda und die Ihren nicht verstehen, was wir haben durchmachen müssen, ist doch kein Wunder. Wir waren schließlich Frontstadt, nicht sie. Auf unsere Straßen, auf unsere schönen, schönen Häuser mit ihren prächtigen Fassaden und den Läden mit den so herrlich gefüllten Schaufenstern sind wirklich Granaten abgefeuert worden, und uns hat man evakuiert, wie einen Strom von Verbrechern oder Vieh aus der eigenen Stadt getrieben. Nie hätten wir uns vorstellen können, dass wir nicht wiederkommen würden, dass uns die erbarmungslosen Bolschewisten die Heimat und alles, was wir unser Eigen nannten, auf immer rauben würden.«

»Vor unseren Augen«, jammerte das Julianchen weinend, »vor den Augen meiner armen Mutter haben sie das Porzellan aus ihren Schränken gerissen, all ihre Hochzeitsgeschenke und die Erbstücke von den Schwiegereltern, und unter Gelächter zerschellen lassen. Und warum? Haben wir nicht seit Generationen in Frieden mit den Russen gelebt? Wir sind unter uns geblieben, wir Deutschen auf der deutschen Seite und die Russen auf der russischen Seite, getrennt durch das deutsche Theater mit seinen wunderbaren Opernaufführungen und dem Ballett, in dem auch so mancher Russe nichts dagegen hatte, sich einen Platz reservieren zu lassen. All die Jahre ist es so gegangen. Wir haben in unserem ganzen Leben keinem Russen etwas getan, keinem Bolschewisten und auch niemandem sonst.«

»Und wo war die lettische Seite?«, fragte Carlo. Warum er jetzt, wo das Kind längst in den Brunnen gefallen war, auf einmal den Mund aufmachte, hätte er niemandem erklären können.

»Die lettische Seite?« Die verschwägerte Baronin hob die dünnen Brauen.

»Die lettische Seite von Riga«, erklärte Carlo. »Ihre Cousine hat uns von der friedlichen deutschen und von der Opern liebenden russischen Seite erzählt, aber Riga ist, soweit ich weiß, doch eine lettische Stadt. Also muss es ja wohl auch eine lettische Seite gegeben haben?«

Die drei Damen tauschten Blicke und gestikulierten, doch eine Antwort gab ihm keine. Stattdessen war es Jenny, die sich ihm halb zuwandte und in kaltem Ton sagte: »Darüber haben wir uns damals keine Gedanken gemacht. Wir waren ja überzeugt davon, dass Riga uns gehörte, denn wir waren schließlich vor acht Jahrhunderten ins Land marschiert und hatten all die gottlosen Heiden missioniert. Wichtige Leute, die Letten waren, gab es nicht in unserem Riga. Keine Adligen, keine Großgrundbesitzer, keine Bankiers, keine Ärzte, kein Großbürgertum. Höchstens wenn man einen Handwerker brauchte oder auf dem Markt seinen Fisch auswählte, kam man gelegentlich mit Letten in Berührung, aber wo die hausten, haben wir uns nicht gefragt.«

Sie hatte gesprochen, ohne jemanden anzusehen. Die weiß schimmernden, filetierten Fischstücke, die Fritzi ihr fürsorglich auf dem Teller ausgebreitet hatte, hatte sie nicht angerührt.

»Wir haben niemandem etwas weggenommen!«, rief die Baronesse Adele empört. »Das Gegenteil ist der Fall – unseren angestammten Besitz haben die Russen uns weggenommen, und zwar schon, bevor an das Bolschewisten-Pack überhaupt zu denken war. Zwanzigtausend Hektar Ackerland hat mein Vater im Kurländischen besessen, ein Teil davon war zu meiner Mitgift bestimmt, und was ist daraus geworden? Der Zar hat es sich einverleibt, um seinen Krieg gegen unsere eigenen Landsleute zu führen. Unsere Brüder und Verlobten hat er in seine Armeen gezwungen, damit sie gegen ihr eigenes Volk kämpften!«

»Du hattest doch gar keine Brüder«, sagte Oma Hulda, doch sogar sie klang einigermaßen aus dem Konzept gebracht. »Verlobte haben auch nicht gerade Schlange gestanden, soweit es mir in Erinnerung ist …«

»Den Sohn vom Doktor von Siver haben sie in eine von ihren Garnisonen verschleppt!«, rief Adele geradezu triumphierend. »Zu genau den Truppen, die später unser Riga beschossen haben. Aber der Georg von Siver, der war ein echter Deutschbalte, der ließ sich nicht zum Verräter am eigenen Vaterland machen. Lieber hat er sich mit seinem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten, und sein armes Mutting, die schöne Ewa von Löwis, hat’s ertragen müssen. Und das Mädchen? Ihr süßes Töchting, ihr Püppchen, das eine solche Hoffnung war? Die Kleine haben die Bolschewisten geschändet, dass sie im Kopf nicht mehr richtig war und sich auf grausigste Weise gegen die eigene Familie gekehrt hat.«

Kurz war es so still, dass Carlo die Frauen neben ihm schwer atmen hörte. Dann meldete sich Jenny mit eisiger Stimme von Neuem zu Wort.

»Nicht geschändet«, sagte sie. »Das holde Töchting hat sich aus freiem Willen mit den bösen Bolschewisten eingelassen. Muss aus durch und durch verdorbenem Material gewesen sein, das Flittchen, aber so was kommt eben in den besten Familien vor.«

Der triumphierende Ausdruck rutschte der Baronesse vom Gesicht. »Dann haben Sie das also doch noch miterlebt?«, fragte sie. »Die Tragödie der armen Familie von Siver?«

»Die Tragödie der armen Familie von Siver«, wiederholte Jenny.

»Alle drei Kinder!« Die Baronesse warf die Arme in die Luft. »Kein Wunder, dass ein Mutterherz darüber zerbricht.«

»Ach, ihr Lieben«, ließ sich jetzt die stille kleine Tante Sperling vernehmen. »Das sind doch gar zu traurige Themen für ein geselliges Tischgespräch. Wollen wir uns nicht anderem zuwenden? Es ist schließlich eine solche Freude, die jungen Leute heute bei uns zu haben, unseren Carlo und unsere Jenny und Herrn Triantafillidis aus Berlin. Vielleicht sind Sie so freundlich, uns ein wenig zu erzählen, was es Neues gibt vom Leben in der Hauptstadt. Mir kommt ja Berlin immer noch vor wie die Stadt aus diesem bemerkenswerten Film von dem Herrn Lang – wie hieß er doch gleich?«

»Metropolis«, half Carlo ihr aus und wunderte sich einmal mehr über das, was Tante Sperling neben all dem Häkeln, Sticken und Stricken mit ihrer Zeit anfing.

»Oh, ja, richtig, Metropolis. Alles rollt und läuft und funktioniert automatisch, in der Nacht ist es so hell wie am Tag, und in der Straße, in der unser Ninchen wohnt, haben sie jetzt ein Telefonhäuschen errichtet. Darin braucht man nur ein paar Münzen in einen Schlitz zu werfen und hat auf einmal die halbe Welt am Apparat.«

Sie gab sich solche Mühe, und Carlo liebte sie dafür. Seiner Mutter schien es ähnlich zu gehen, denn sie nahm Tante Sperlings Hand in ihre und drückte sie. »Wir müssen unbedingt bald wieder einmal hinfahren und Ninchen besuchen, nicht wahr? Mögen Sie Berlin, Baronesse? Ich finde es einfach überwältigend. Meine Tochter ist dort am Theater tätig, am Varieté, um genau zu sein, wie Frau Alomis übrigens auch. Als ich im Alter unserer Nina war, wusste ich nicht einmal, was ein Varieté überhaupt ist, und heute leitet meine Tochter eine Kompanie an einem der berühmtesten Etablissements Europas. Dem Wintergarten. Haben Sie davon gehört?«

»Wir sind ins Varieté nie gegangen«, erwiderte die Baronesse. »Ich wüsste auch nicht, dass es in unserem Viertel so etwas gegeben hat. Kleinkunst, Tingeltangel, mehr nacktes Fleisch als Talent – das war nicht unsere Welt. Im deutschen Theater hingegen waren wir unter unseresgleichen. Das Ballett-Ensemble konnte es spielend mit dem Bolschoi aufnehmen, und in den Logen traf man zu den festlichen Premieren alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte. Ich sehe das Glitzern der großen Lüster noch heute in den Nächten, in denen der Schlaf sich nicht einstellen will. Dann quäle ich mich mit grauenhaften Vorstellungen von dem, was aus alledem wohl geworden ist.«

Jenny stand auf. Kerzengerade erhob sie sich vor der Frau, die sich im Pfuhl ihrer Erinnerungen suhlte, und nur wer sie sehr gut kannte, bemerkte das leise Zittern ihrer angespannten Schultern. »Aus Ihrem deutschen Theater ist das lettische Nationaltheater geworden«, sagte sie. »Die Unabhängigkeit der Republik Lettland ist dort ausgerufen worden. Das war vor mehr als zehn Jahren, was aber offenbar nicht bedeutet, dass es mittlerweile bei allen Ewiggestrigen angekommen ist. Damals kam es auch nicht sonderlich schnell bei allen an. Es hat noch gut anderthalb Jahre gedauert, in denen Sowjetrussen und die Eiserne Division der Deutschen sich bis aufs Blut bekriegt haben, ehe der Frieden von Riga schließlich unterzeichnet worden ist. Und damit wünsche ich Ihnen allen noch einen schönen Abend. Darius, kümmerst du dich um den Kleining? Ich denke, es ist jetzt wirklich an der Zeit, die Kinder ins Bett zu schicken.«

Sie drehte sich um und wollte das Speisezimmer verlassen.

»Aber nicht doch, Frau Jenny!«, rief Fritzi, die mit einer frischen Servierplatte in der gegenüberliegenden Tür stand, entgeistert. »Ich habe extra für Sie Kommmorgenwieder gemacht, die essen Sie doch so gerne!«

Jenny wandte den Kopf, und ihr eben noch eisiger, zynischer Ton wurde geradezu liebevoll. »Das ist wie immer ganz zauberhaft von Ihnen, Fritzi. Ich fürchte aber, mich noch länger an diesem Tisch zu behalten, wäre so, als lege man sich eine Zeitbombe in seinen Blumenkübel. Ich weiß Ihre Mühe zu schätzen und werde Ihre Kommmorgenwieder für immer in schmachtender Erinnerung behalten.«

Damit ging sie schnellen Schrittes aus dem Zimmer, dass die Absätze ihrer Schuhe auf dem Parkett des Korridors klapperten.

Carlo hatte auf seinem Platz gesessen wie gelähmt. In dem Augenblick, in dem Jenny den Raum verließ, schoss er jedoch wie von der Sehne geschnellt hoch und eilte ihr hinterher.

»Jenny, warte!«

Sie wartete nicht, sondern rannte die Freitreppe hinunter, quer durch die Halle und zur Vordertür hinaus. Der Schnee lag bereits kniehoch, doch noch immer fiel neuer und erhellte die Nacht mit seinem Glitzern. Vor dem Portal, auf der obersten Stufe blieb Jenny stehen, scherte sich nicht um das Vordach, das sie vor dem Niederschlag geschützt hätte, sondern ließ sich nass schneien. Das blau und silbern schimmernde Satin-Ensemble, das sie trug, war bereits durchnässt. Steif und fahrig zugleich fingerte sie unter dem Rocksaum ihre zerknautschte Schachtel Eckstein hervor, die zu ihrem silbernen Feuerzeug und der Zigarettenspitze aus Elfenbein so gar nicht passte.

»Echt und recht«, lautete der auf die Packung gedruckte Werbespruch der Marke, und in diesem Augenblick konnte Carlo sich nichts vorstellen, das mehr nach Jenny klang. Auch wenn sie log wie ein Hauptdiplomat, wenn sie ihr halbes oder ihr ganzes Leben verschwieg und verschleierte, wenn sie wie auf Eiern tanzte, um nicht preiszugeben, wo sie verletzt worden war. Die Substanz, aus der sie gemacht war, war echt und recht. Sie stopfte die filterlose Zigarette in die Spitze, zündete sie an und zog am Mundstück, als hinge ihr Leben davon ab. Tief sog sie den scharfen Rauch in die Lunge und blies eine weiße Wolke in die Schwärze der Nacht.

»Jenny.«

Sie drehte sich nicht um.

Carlo zog das Jackett seines Smokings aus und legte es ihr um die Schultern.

»Das ist kitschig, Carlo«, sagte sie.

»Es ist warm«, sagte er. »Bitte komm mit mir ins Haus, ehe du hier draußen erfrierst. Ich verspreche dir, du brauchst zu den reaktionären Drachen nicht zurück. Nie mehr. Ich spreche dieses eine Mal ein Machtwort und verbiete, die drei noch einmal einzuladen. Ich verschanze mich mit dir im Arbeitszimmer, lasse dich alles blau rauchen, hole dir Champagner und Kommmorgenwieder und Fritzis Berliner Luft mit heißen Himbeeren, ich stopfe dich voll, bis dir schlecht wird und du diesen ganzen grauenhaften Abend vergisst.«

Sacht nahm er sie bei den Schultern, und endlich drehte sie sich zu ihm um. »Das hat doch keinen Sinn, Carlo«, sagte sie, zog an der Zigarette und blies den Rauch aus.

Fassungslos sah er, dass ihr Tränen über die Wangen liefen, während sie mit ruhiger Stimme sprach.

»Doch«, sagte er. »Hat es. Alles, was wir zusammen tun könnten und was dich wieder ein bisschen froher macht, hat Sinn. Keinen Sinn hat, was diese fürchterliche Baronesse und ihre Verwandten dort oben veranstaltet haben, ohne dass ich sie daran gehindert hätte. Ich bitte dich um Verzeihung, Jenny. Hätte ich es gewusst, hätte ich dir nie und nimmer diese Gesellschaft zugemutet.«

Aus ihren dunkel schillernden Augen sah sie ihn an. »Du hast es doch gewusst«, sagte sie. »Dass die drei Grazien aus Riga stammen, werden dir deine Großmutter und deine Tante ja wohl kaum verschwiegen haben.«

»Nein, das nicht«, gab er zu. »Aber ich wusste nicht, dass sie sich wie die Aasgeier auf das Thema stürzen würden.«

»Warum sollten sie nicht?«, fragte Jenny. »Sie sind zum Platzen voll mit diesen Erinnerungen, sie brennen darauf, sie über jemandem auszuschütten, und allzu häufig wird ihnen ja kein Landsmann aus Riga begegnen. Sie verhalten sich ganz normal und so, wie man es von ihnen erwarten würde. Ich bin es, die nicht normal ist.«

»Das ist nicht wahr, Jenny. Du bist …«

»Natürlich ist es wahr«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Welcher normale Mensch verdient schon sein Geld damit, dass er sich so weit verbiegt, bis er sich selber auf den Arm nehmen kann?«

Carlo hätte so gern gelacht. Er liebte es, mit ihr zu lachen, und er wünschte sich in dieser eisigen, finsteren Nacht nichts sehnlicher als die erleichternde Wirkung von Humor.

Aber nicht einmal Jenny lachte. »Mit mir wirst du nie ein auch nur annähernd normales Leben führen können, lieber Freiherr Carl-Otto«, sagte sie. »Nicht einmal einen einzigen Abend mit ein paar verschrobenen Besucherinnen lang.«

»Und wenn ich das gar nicht will?«, fragte er. »Wenn ich auf die sogenannte Normalität von Rückwärtsdenkenden, die die Hetzparolen der Nazis nachplappern, verzichten und mich mit dir in dein wildes, verrücktes Leben stürzen will, weil es mir so viel menschlicher und echter vorkommt?«

»Ach, Carl-Otto.« Sie ließ zu, dass er sie hielt, dass er die vor Kälte starren Arme um sie breitete, doch sie erwiderte die Umarmung nicht. »Du willst das normale Leben ja doch, auch wenn es dir vor den drei baltendeutschen Granatenwerferinnen graut. Du willst mit einer Frau ins Standesamt gehen oder sogar vor den Altar treten. Mit einer Frau, die dem Beamten ihren Taufnamen nennen kann, die zu dem Kind, das sie mit in die Ehe bringt, zumindest eine Herkunft anzugeben hat, die nicht in Hysterie ausbricht und flüchtet, wenn ein paar Gäste an der abendlichen Tafel sich gelinde danebenbenehmen und ihr zwei, drei unbequeme Fragen stellen. Du willst selbst gern die sogenannte Wahrheit wissen und die Leichen aus dem Keller der Frau Alomis ausgraben, die im Übrigen ein Fräulein ist und weder einen Letten noch einen Litauer oder sonst einen Kerl als verblichenen Ehemann vorzuweisen hat.«

»Das macht mir nichts aus«, erklärte Carlo kämpferisch, während ihn zugleich ein Gefühl von Panik und eine rasant wachsende Traurigkeit ergriffen. »Viktor ist ein Pfundskerl, dem ich mit Freude ein Vater sein würde, wenn ihr beide es mir erlaubt. Ich könnte ihn adoptieren, ihn offiziell als meinen Sohn anerkennen, dann bräuchtest du dich künftig nicht mehr darum zu sorgen, dass das mit der unehelichen Geburt herauskommt.«

»Ich sorge mich darum ja gar nicht«, sagte Jenny. »Aber du bist der netteste Mann auf der Welt.«

Unvermittelt reckte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn mit ihren eiskalten Lippen auf den Mund. »Es hat wirklich keinen Sinn, Carling«, sagte sie dann, zog sein Jackett aus und hängte es ihm zärtlich über die Schultern. »Wie du heute bemerkt haben dürftest, habe ich mehr zu verbergen als ein Kind ohne Vater, das bei einer Kleinkünstlerin des Jahres 1929 ja schon beinahe zum guten Ton gehört.«

»Du bist keine Kleinkünstlerin!«, rief er und streckte die Arme nach ihr aus, griff aber schon ins Leere. »Warum nimmst du dir irgendetwas, das diese Giftschlange von sich gegeben hat, zu Herzen?«

»Das tue ich nicht«, sagte sie, ging im Bogen um ihn herum und blieb an der Tür noch einmal stehen. »Vielleicht habe ich ja gar kein Herz. Wer weiß. In jedem Fall packe ich jetzt meine Sachen, meinen Kleining und meinen griechischen Philosophen und fahre morgen mit dem ersten Zug dorthin zurück, wo ich hingehöre.«

»Jenny, nein, tu nichts Übereiltes!«, rief Carlo. »Lass uns reden, lass uns diese Probleme gemeinsam aus dem Weg räumen …«

»Es ist ja nicht übereilt«, sagte sie. »Ich hätte es längst tun sollen, und es lastet auf meinem ansonsten ziemlich abgehärteten Gewissen, dass ich es nicht getan habe. Mach’s gut, hübschester Freiherr von Brandenburg, sieh dich nach etwas Besserem um. Ich habe es überraschend genossen, von euren zwiebelgemusterten Erbstücken Kommmorgenwieder zu essen und von einem echten Kavalier umworben zu werden. Aber ich komme trotzdem nicht wieder, denn dazu ist der Kavalier zu schade. Höchstens wenn du mich zu deiner Hochzeit einlädst – dann führe ich extra für dich und deine Braut einen meiner Kleinkunstakte vor.«