Nina
D as Programm war grandios. Die Wunderweiber hatten sich selbst übertroffen, auch wenn noch hier und da an den Details gefeilt werden musste und eine Menge Proben ins Land gehen würden, ehe die Nummer ab Anfang Dezember vor Zuschauern gezeigt werden konnte. Nina, die an einem der begehrten Tische auf der Terrasse saß und beim Zuschauen zwei weich gekochte Eier im Glas verspeiste, stand auf und spendete ihren Artistinnen Applaus.
»Großartig gemacht. Wer nach dieser Vorstellung nicht wieder ans Christkind glaubt, bei dem ist Hopfen und Malz verloren.«
Die beleibte Berthe lachte auf. »Dit soll mal eener wajen – dem komm ick aber mit der Rute, dat dit kracht im Karton!«
Sie lachten alle. Die Stimmung war heiter und gelöst wie immer, wenn sie nach Wochen harter Arbeit mit dem Ergebnis zufrieden waren und sich das Feiern verdient hatten. Die erste Probe auf der Hauptbühne des Wintergarten, die noch dazu mit allem Drum und Dran stattfand, war etwas Besonderes. Erst wenn die Lichter des Sternenhimmels den Raum in ihren strahlenden Glanz tauchten und nichts mehr verhüllt werden konnte, zeigte sich, ob das, was sie am Reißbrett geplant und in etlichen Einzelschritten einstudiert hatten, sich zu einem Ganzen zusammenfügte und den Zauber entfaltete, der die Zuschauer aus ihrem Alltag entführte. Trotz aller Erfahrung waren Nina und ihre Truppe vor missglückten Ideen nicht gefeit. Wenn aber etwas sich als so rundum gelungen erwies wie das neue Weihnachtsprogramm, löste sich allgemeine Erleichterung in Lärm und Gelächter auf.
»Schampus für alle?«
»Aber sicher doch!« Jenny tänzelte bereits mit der Flasche herum, aus der sie selbst den ersten, übersprudelnden Schluck nahm, und Sonia verteilte Gläser. Wie gewöhnlich bildeten die beiden das Herzstück der Show. Jenny, in hautengem Gold und Grün, verbog sich in der Mitte der Bühne zu Kränzen und hängte sich so an den meterhohen Weihnachtsbaum aus Metallstreben, und Sonia zeichnete Gäste in weihnachtlicher Montur auf Karten mit dem Wintergarten- Briefkopf. Manchmal sprang sie dabei von der Bühne und trat so dicht vor den Gast, den sie zum Zeichnen ausgewählt hatte, dass er sie hätte berühren können. Das war so ihre Art. Ihre Eigenheit. Wen sie zeichnete, bestimmte ausschließlich sie selbst, da half kein Betteln und keine Bestechung. Die Berliner mochten sie so, wie sie war. Die Karten mit ihren Zeichnungen erfreuten sich einer enormen Beliebtheit und verkauften sich auf einer Art Schwarzmarkt zu erstaunlichen Preisen.
Die zwölf Frauen, die mit ihrem Tanz einen Rahmen um Jenny und Sonia bildeten, trugen knappe, flatternde Tutu-Kostüme in der Farbe von Champagner, dazu eine Art Heiligenschein und auf dem Rücken ein Paar durchscheinende Flügel. Wie immer hatte Sonia die Kostüme entworfen und dabei einmal mehr den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Gewänder waren sexy, frech, provozierend wie die ganze Nummer. Diese bunt durcheinanderwirbelnde Schar von Engeln hatte ganz und gar nichts Heiliges an sich, doch sie hatte auch nichts mit den Nackttänzen gemein, auf die immer mehr kleinere Varietés sich verlegten, um Zuschauer in ihre halb leeren Säle zu locken.
Die goldenen Jahre, in denen all diese Bühnen wie Pilze aus dem Boden geschossen und Abend für Abend ausverkauft gewesen waren, hatten ihr Ende erreicht. Zwar hatte die Vergnügungssucht der Berliner nicht abgenommen, sondern trieb weiterhin allabendlich Scharen auf der Jagd nach immer wilderer, abenteuerlicherer Unterhaltung auf die Amüsiermeilen der Hauptstadt, doch die Konkurrenz war größer geworden.
Da war der Rundfunk, die Funkstunde Berlin, die seit drei Jahren regelmäßig ihr buntes Unterhaltungsprogramm ausstrahlte und inzwischen ein eigenes Orchester unterhielt. Da war das Kino, die großen Lichtspielhäuser, die Menschen regelrecht in sich aufsaugten. Seit im vergangenen Jahr zum ersten Mal einer der brandneuen Tonfilme auf einer deutschen Leinwand gezeigt worden war, hatten etliche Theater ihre Pforten schließen und neuen Kinos weichen müssen.
Die beiden großen, international berühmten Häuser, der Wintergarten und die Scala, hielten sich weiterhin an der Spitze, doch sie lieferten sich einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf. In diesem Jahr nun war aus heiterem Himmel ein drittes Haus hinzugekommen. Im Gebäude des einstigen Ostbahnhofs hatte das Plaza eröffnet, das seine Karten billiger anbot und die Arbeiterschaft als neues Publikum umwarb.
Fritz Aschinger schäumte darüber vor Wut. Nicht nur, weil er selbst geplant hatte, billige Stehplätze für Arbeiter anzubieten, sondern weil es die jüdischen Eigentümer der Scala waren, die das neue Etablissement gegründet hatten.
»Vom Plaza dürfen wir uns hoffentlich ein wenig Frische erhoffen«, hatte ein launiger Kritiker nach der Eröffnung im Berliner Tageblatt geschrieben. »Im altehrwürdigen Wintergarten hingegen setzen inzwischen selbst schon die berühmten Glitzersterne eine fingerdicke Staubschicht an.«
Am Morgen darauf war Aschinger explodiert. »Ich verlange von Ihnen, dass Sie ausschließlich hochmoderne Akte unter Vertrag nehmen«, hatte er den armen Direktor Neugebauer angebrüllt und ihm die Zeitung vor die Füße geknallt. »Nie Dagewesenes. Sensationelles. Von mir aus vollkommen Sittenwidriges, solange es noch nie anderswo gezeigt worden ist.«
Neugebauer überragte ihn um fast einen Kopf und war bald doppelt so breit, aber er sank vor ihm zusammen wie ein verängstigter Hund. »Aber Herr Aschinger!«, wagte er sich leise zu wehren. »Sittenwidriges bei uns im Wintergarten? Das kann ich nicht absegnen, bei aller Liebe. Sie kennen doch unser Motto – vom Guten nur das Beste. Wir haben schließlich einen Namen zu verlieren. «
»Solange Sie aufhören, mein Geld zu verlieren, können Sie sich Ihren Namen und Ihr Motto stecken, wohin Sie wollen«, hatte Aschinger geschrien, sich auf dem Absatz umgedreht und war aus Neugebauers Büro gestampft.
»Kein feiner Mann«, hatte das altgediente Fräulein Haselsteng, Neugebauers Sekretärin, entrüstet von sich gegeben, während der Direktor, der Sprache beraubt, nur dagestanden, seinem Vorgesetzten hinterhergestarrt und am obersten Knopf seiner Weste gedreht hatte.
Das Klima war rauer geworden, daran gab es nichts zu deuteln. Eine täglich wachsende Zahl von Artisten, die bei den kleineren Theatern keine Arbeit mehr fanden, standen am Bühneneingang des Wintergarten Schlange, um sich zu bewerben. Noch immer butterte Neugebauer vom Geld seiner Frau zu, um sich den einen oder anderen Akt, der es ihm angetan hatte, leisten zu können. Im Großen und Ganzen aber ließ sich Aschinger über alles, was Neugebauer plante, ausführlich in Kenntnis setzen, und das meiste schmetterte er gnadenlos ab. Für den selbstgefälligen Direktor, der sich so gern im Glanz seiner Zirkusuniform gesonnt hatte, war das eine Demütigung sondergleichen. Er hatte den Spaß an der Arbeit verloren, und dass er Aschinger nicht einfach alles hinwarf, zeigte nur, wie sehr er den Wintergarten liebte.
Nina hingegen war von Aschingers Kontrollmaßnahmen ausdrücklich ausgenommen. Der Feuilletonist des Tageblatts hatte nämlich eigens darauf hingewiesen, dass er sie in seine vernichtende Kritik nicht einbezog: »Die exquisiten Wunderweiber der Zauberin Nina von Veltheim ziehen dagegen immer wieder ein neues Kaninchen aus dem Hut und präsentieren sich heute noch so verblüffend, sinnlich und erregend wie bei ihrer Premiere vor sechs Jahren. Und das alles, ohne in einen erotischen Kitsch zu verfallen, wie wir ihn in der unsäglichen Weißen Maus geboten bekommen, oder sich auf billige Weise anzubiedern wie in den Revuen des Herrn Kante im Admiralspalast.«
Die Revuen, die Rudolf Kante für den keine hundert Schritte vom Wintergarten entfernten Admiralspalast inszenierte, mochten in der Tat billig und anbiedernd sein, doch sie waren zugleich ungeheuer erfolgreich und fanden etliche Nachahmer. Nina war froh, dass niemand sie in eine solche Richtung drängte, sondern dass Aschinger ihr weiterhin freie Hand ließ. Sie konnte nur Programme inszenieren, die sie begeisterten, und um sie zu begeistern, musste ein Programm eine Geschichte erzählen. Es war Ninas tiefste Überzeugung, dass Menschen Geschichten brauchten, um sich selbst und ihre Welt zu verstehen.
Sie hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, nachdem sie sich dazu durchgerungen hatte, sein Angebot abzulehnen. Tatsächlich hatte Aschinger hörbar mit den Zähnen geknirscht und ihr hingeworfen: »Sie müssen ja wissen, was Sie sich erlauben können.« Tage später hatte er ihr für ihr Ensemble jedoch ein neues Angebot unterbreitet, das das alte weit in den Schatten stellte.
Und das, ohne noch einmal an die Intendanz, für die er sie gewollt hatte, zu erinnern. Und ohne in den Vertrag für das Ensemble eine einzige Bedingung aufzunehmen, die das Künstlerische betraf!
»Trollt euch, ihr Schönen«, sagte Nina zu den Frauen, die noch immer lachend und johlend Champagner tranken. »Heute und morgen habt ihr frei, also geht feiern, dass die Schwarte kracht. Aber vergesst nicht: Ab Freitagabend stehen wir wieder auf der Bühne.«
Der Sommer war zu Ende, die Berliner kehrten von der Ostsee oder wohin es sie sonst über die paar Ferientage verschlagen hatte, in ihre Stadt zurück, und die Theater brannten darauf, ihnen ihre Pforten zu öffnen.
»Auf ein winzig kleines Glas ins Salamander kommst du wohl nicht mit?«, fragte Jenny mit dem Unterton einer Verführerin.
»Fräulein Nina muss sich schonen.« Das war Hieronymus Haase, der Oberkellner, der wie aus dem Boden gewachsen auf einmal hinter ihr stand. »In ihrem Zustand ist das Salamander kein geeigneter Aufenthaltsort, und außerdem hat sie ihre Eier noch nicht aufgegessen.« Mahnend wies er auf das Glas mit dem Gemisch aus gelbem Dotter und geschmolzener Butter, das er ihr auf einem silbernen Tablett serviert hatte.
Nina lachte. Sie war schwanger und würde, so unglaublich es klang, kurz nach Weihnachten ein Kind zur Welt bringen. Einen kleinen Jungen wünschte sie sich. Vielleicht, weil sie Viktor so liebte. Oder weil Otta, obwohl sie nächstes Jahr dreizehn wurde, darauf beharrte, sie wolle das einzige kleine Mädchen im Leben ihrer großen Schwester bleiben.
Es war, als hätte ein penibel aufrechnendes Schicksal sie dafür belohnt, dass sie der Versuchung nicht erlegen war, sondern Aschingers Angebot abgelehnt hatte. Ein paar Wochen später war ihr in ihrem üblichen hektischen Alltag auf einmal aufgefallen, dass sie schon eine ganze Weile ihre Blutung nicht mehr gehabt hatte. Zum Arzt gegangen war sie erst, als sie während eines Wochenendbesuchs auf Neu-Mahlen nicht mehr aufhören konnte, sich zu erbrechen.
»Ich weiß, Fritzis Butterrübeneintopf ist eine Zumutung«, hatte Oma Hulda gesagt. »Wenn meine Enkelin Nina allerdings auch Fürst-Pückler-Eis und Burgunderwein wieder von sich gibt, bereite ich mich besser auf das Dasein einer Urgroßmutter vor.«
Drei Tage später hatte Jenny durch den gesamten Künstlertrakt des Wintergarten posaunt: »Unsere Nina ist schwanger! Im Winter gibt’s Zuwachs bei den Wunderweibern!«
Seither kochte Hieronymus Haase ihr nicht nur fortwährend Eier, sondern behandelte sie auch wie eines. Und zwar wie ein rohes. Er und Fridolin Pätznick, der Türsteher, der bereits in der Spielwarenabteilung von Wertheim bergeweise Geschenke kaufte, waren eindeutig Kandidaten für die Rolle der Taufpaten. Derer gab es etliche – und dabei stand noch nicht einmal fest, ob, wann und wo der »Veltheimsche Kleining«, wie Jenny das Kind nannte, überhaupt getauft werden würde.
So vieles stand noch nicht fest. Würden Nina und Anton heiraten? Würde Nina reibungslos weiterarbeiten können, während Friedel Rottenheimer und Guste Brenneisen einen Teil der Kinderpflege übernahmen? Würden sie es schaffen, nicht nur Riesen-Plüschgiraffen, Kinderklaviere und Mobiles mit tanzenden Bären, sondern alles Notwendige beizeiten zu besorgen? Und würden sie überhaupt gute Eltern sein?
Nina hatte erwartet, dass all diese Fragen sie belasten würden, doch stattdessen verspürte sie eine innere Ruhe, wie sie sie nicht von sich kannte. Alles würde sich finden. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, dass etwas nicht perfekt zu sein brauchte, solange es gut und lebendig war. Sie und Anton hatten keine finanziellen Sorgen, sie liebten einander, und sie liebten ihr Kind. Was sollte also schiefgehen?
Noch immer aufs Neue verwundert, stellte Nina allmorgendlich fest, dass sie auf eine bisher nie erlebte Weise glücklich war.
Sie hatte das Weihnachtsprogramm früher als sonst auf den Weg bringen wollen, damit sie in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft nicht in Bedrängnis geriet. Ihre Asphalt-Engel übertrafen in jeder Hinsicht alle Erwartungen, und von nun an konnte sie es sich erlauben, die Dinge ein wenig ruhiger angehen zu lassen.
Wenn sie es wollte.
Wenn nicht, würde sie bis zum letzten Moment vor der Geburt die Bühnenluft auskosten, die ihr Lebenselixier war, und erfüllt von der besonderen Energie, die das Theater ihr schenkte, ihrem Kind hinaus in ihre Zauberwelt helfen.
Sie legte Hieronymus die Hand auf den Arm. »Ich bin schwanger. Nicht krank. Solange ich auf keinem Tisch tanze, denke ich nicht, dass das Salamander eine nennenswerte Gefahr für mich und meinen Nachwuchs darstellt.«
»Meiner bescheidenen Erfahrung mit Kinderaufzucht nach verkraftet das Kleingemüse das Salamander besser als wir Alten«, führte Jenny ins Feld. »Ein Tropfen Wodka ist der Intelligenz förderlich, aber wenn darin das Problem besteht, lassen wir Nina von Alfred eben Milch servieren.«
Hieronymus Haase sah noch immer missbilligend drein, also half Nina ihm aus seiner Not: »So gerne ich mit euch feiern würde und sosehr ich euch allen zustimme – heute wird es nichts mit dem Salamander. Ich erwarte noch ein paar Bewerber für unser Rahmenprogramm, und hinterher muss ich schnellstmöglich nach Hause.«
»Dann kommen wir eben zu dir«, entschied Jenny. »Daheim kannst du dich als Diva auf den Diwan betten, wie Doktor Hieronymus es angeordnet hat, und wir können uns vom schönen Anton bedienen lassen und uns gratis besaufen.«
»Das könnt ihr gerne machen«, erwiderte Nina gelassener, als sie sich fühlte. »Aber der Grund, weshalb ich so schnell nach Hause muss, ist Carlo, der mit dem Abendzug aus Templin kommt. Er besucht uns für ein paar Tage. Wenn dir das nichts ausmacht, seid ihr herzlich eingeladen. Früher oder später werdet ihr euch ja ohnehin über den Weg laufen.«
Es war der wunde Punkt, der Tropfen Wermut in ihrem Glückscocktail. Nina hatte versucht, sich keine Illusionen zu machen. Die Liebe zwischen ihrem Zwillingsbruder und ihrer Herzensfreundin war immer eine wackelige Angelegenheit gewesen, ein Drahtseilakt, bei dem nicht feststand, dass beide unverletzt im Sicherheitsnetz landen würden. Das war es ja, was das Varieté dem Leben allen Sensationen und Raritäten zum Trotz so ähnlich machte: Es fand ohne Sicherheitsnetz statt. Bei jedem Auftritt unter dem Sternenhimmel des Wintergarten riskierte Jenny, sich die Knochen zu brechen, und bei ihrem Auftritt im Leben ihres Bruders hatte dieser sich das Herz gebrochen.
Nina hatte es abgeklärt betrachten, hatte Carlo trösten und ihm erklären wollen, dass ihrer beider Vorstellungen vom Leben letztlich nicht zusammengepasst hatten, aber sie tat sich viel schwerer damit als erwartet. Im Grunde hatte gerade die Unvereinbarkeit dieser zwei starken, eigenwilligen Menschen, die sie beide liebte, den Reiz ihrer Beziehung ausgemacht. Sie hatten sich aneinander gerieben, hatten einander verstört und verletzt, aber sie hatten einander auch bereichert, hatten voneinander gelernt und waren daran gewachsen.
Viktor hatte ohne Zweifel Carlo innig geliebt, auch wenn er kein überschwängliches Kind war. Bei der Familie auf Neu-Mahlen hatte er Halt gefunden. »Er kommt darüber hinweg«, hatte Darius kurz nach der Trennung auf eine Frage von Nina geantwortet. »Er ist ja sein Leben lang gewohnt, über alles hinwegzukommen, aber ob bei all den Narben, die er in seinem Herzen verschließt, am Ende noch viel Herz übrig bleiben wird, sollte sich vielleicht einmal jemand fragen.«
Für gewöhnlich enthielt sich Darius jedes wertenden Urteils über Jennys Art, ihr Leben zu gestalten. Carlo aber hatte auch ihm etwas bedeutet, und es war unübersehbar, dass er dieses Mal mit Jennys Entscheidung ganz und gar nicht einverstanden war.
Nina selbst wusste, dass sie sich jede Einmischung in ihr Liebesleben verbeten hätte. Also ließ auch sie selbst sich zu keiner Äußerung hinreißen, so schwer ihr das Schweigen fiel. Es blieb ja nun einmal kein Mensch bei einem Liebhaber, weil dessen Schwester ihm ins Gewissen redete, und was hätte Nina auch reden sollen? Sie wusste schließlich, dass Jenny ein wilder Vogel war, der hinter Käfigstangen Platzangst bekam, und Carlo hatte es auch gewusst.
»Sie hätte in der Uckermark, als Gutsherrin von Neu-Mahlen, nie und nimmer leben können«, hatte sie zu ihrem Bruder gesagt.
»Ich hätte sie nicht dazu gezwungen«, hatte Carlo erwidert. »Ich wäre mit ihr auf den Mond gezogen, wenn sie ausgerechnet dort mit mir hätte leben können. Aber sie ist zu dem Schluss gekommen, dass sie überhaupt nirgendwo mit mir leben kann. Sie hat mir nicht genug vertraut, um das Risiko einzugehen und mich das Gegenteil beweisen zu lassen.«
Carlo war Ninas Gegenstück. Wo sie rastlos, voller Zweifel und leicht zu erschüttern war, hatte sie ihn stets ausgeglichen und standfest erlebt. Er hielt seine Gefühle im Zaum wie das Gespann vor dem alten Landauer, machte seine Ängste und Enttäuschungen mit sich selbst ab und freute sich auf seine stille Weise. Ihn jetzt so untröstlich zu sehen, so vollkommen verzweifelt und unfähig, sich in seinem Leben wieder zurechtzufinden, erschreckte sie. Carlo war kein Mann, der andere im Stich ließ oder ihnen die Last seines Kummers aufbürdete. Wie gewohnt kümmerte er sich um das Gut und die Pferde, brachte Zweijährige zu Verkaufsrennen und besuchte die Sitzungen des Landrats. Doch er zeigte kein Zeichen von Lebensfreude mehr. Er war immer beliebt gewesen und hatte ein offenes Haus geführt, doch ihre Mutter erzählte, dass er sich mit keinem seiner Freunde traf.
»Mir kommt es vor, als wäre in meinem Jungen etwas erloschen«, hatte sie zu Nina gesagt.
»Carlo ist fast dreißig und kein Junge mehr«, hatte sie entgegengehalten.
»Das weiß ich«, hatte ihre Mutter erwidert. »Aber du wirst jetzt selbst bald Mutter und wirst erleben: Wenn jemand deinem Kind das Herz bricht, wünschst du dir sehnlichst die Zeit zurück, in der du es nur in die Arme schließen, mit ein paar Stücken Blockzucker füttern und eine Spieldose aufziehen musstest, damit alles wieder gut war.«
Nina hatte Blockzucker besorgt und Carlo über das Wochenende eingeladen. »Na komm schon, sei kein Frosch. Anton ist jetzt schließlich so etwas wie dein Schwager und freut sich darauf, ein bisschen Zeit mit dir zu verbringen. Und ich mich auch. Wir können um die Häuser ziehen oder daheimsitzen und Schlesische Lotterie spielen – wonach immer dir der Sinn steht. In jedem Fall ist es vielleicht auf lange Zeit das letzte Mal, dass wir friedlich beisammenhocken können, ohne dass im Zimmer nebenan ein kleiner Tyrann nach mir schreit.«
Carlo hatte schließlich eingewilligt und würde heute Abend eintreffen.
Was Jenny in diesen Monaten seit der Trennung empfunden hatte, hatte Nina nicht gewusst, denn Jenny sprach nicht darüber. Stattdessen stürzte sie sich ins Leben, als hätte es einen Carlo von Veltheim in ihrem Leben nie gegeben. Wenn Nina aber einen Beweis wollte, dass es ihn gegeben hatte, so bekam sie ihn jetzt. Jenny stand still, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Alle Blicke waren in kaum verhohlener Neugier auf sie gerichtet, aber sie schien nichts davon zu bemerken, sondern war allein unter dem künstlichen Himmel voller Sterne.
»Ach, Carlo kommt«, murmelte sie endlich. »Dann will ich natürlich nicht stören. Einen netten Abend euch. Ich werde wohl ein bisschen in Familie machen und mich dann früh in die Falle legen. Ich hab’s in letzter Zeit ein bisschen zu doll getrieben.«
Dass Jenny Alomis ihren Freunden einen »netten Abend« wünschte, kam praktisch nicht vor. Dass sie anschließend loszog, um sich »früh in die Falle zu legen«, kam noch viel weniger vor. Aber genau das tat sie. Sie schnappte sich ihren grün-goldenen, zuvor abgeworfenen Morgenmantel vom Boden, winkte allen zu und ging.
Nina sah ihr nach und hatte das Gefühl, sie sollte sie nicht allein gehen lassen. Dabei war Jenny der unabhängigste, eigenständigste Mensch, den man sich vorstellen konnte, und außerdem hatte sie selbst ihre Termine mit den Artisten für das Rahmenprogramm.
»Ich gehe mit ihr.« Das war Sonia, von der Nina zuweilen dachte, sie könne Gedanken lesen. »Vielleicht mag sie bei ihrem Abend in Familie ja noch ein bisschen Gesellschaft haben, und wenn nicht, kann ich ja wieder gehen.«
Sie war ein Segen, diese Sonia Spielmann aus Lemberg. Sie fragte nie nach Erklärungen oder Hintergründen, sondern sah selbst, was getan werden musste, und tat es ohne Federlesens.
»Danke.« Die Blicke der Freundinnen trafen sich.
»Keine Ursache.«
Sonia ging, stieß sich die Schulter am Türrahmen, weil sie wohl tief in Gedanken war, und verschwand. Gleich darauf packten auch die übrigen Wunderweiber unter Murmeln und Raunen ihre Sachen.