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Anton

F riedel Rottenheimer und Guste Brenneisen standen nebeneinander in der Küche und trugen eine Art Kampf um den Rührlöffel aus, als Anton nach Hause kam. Dabei konnte Friedel Rottenheimer so gut wie überhaupt nicht kochen, und Guste Brenneisen, seine Haushälterin, riss sich nicht darum. Heute aber, wo der Besuch aus Brandenburg erwartet wurde, wetteiferten beide darum, zu beweisen, »dass bei uns in Berlin ganz und gar nich’ schlechter aufgetischt wird als bei der hohen Herrschaft aufm Land.«

Das mochte ein Grund für den plötzlichen gemeinschaftlichen Eifer sein. Der zweite aber bestand zweifellos darin, dass Carlo, ohne es zu beabsichtigen, diese Wirkung ausübte: Antons Fast-Schwager war dermaßen liebenswert und hatte trotz seiner kräftigen Statur und seiner Kompetenz etwas derart Hilfloses an sich, dass Scharen von Frauen sich darauf stürzten, ihn zu bemuttern.

Und für einen Carlo, von dem sich herumgesprochen hatte, dass er an gebrochenem Herzen litt, galt das umso mehr.

Anton lachte, wählte aus dem Weinregal einen tiefdunklen norditalienischen Rotwein und holte einen spritzigen, aus dem Rhône-Tal stammenden Weißwein herein, der draußen auf dem Fensterbrett zum Kühlen gestanden hatte, und überließ die Frauen ihrer Beschäftigung. Er trug die Flaschen in das Vorderzimmer mit den hohen Fenstern, aus dem er und Nina ihren Salon gemacht hatten, entkorkte sie, damit der Wein sein Bukett entfalten konnte, und setzte sich in seinen Lieblingssessel am Kachelofen, um im gedämpften, dunkelgoldenen Licht der Wandlampen auf Carlos Ankunft zu warten.

Ein wenig musste er über sich selbst lachen, weil so viel Häuslichkeit weder zu ihm noch zu Nina zu passen schien. Seine Verehrerinnen, die ihm schmachtende Briefchen und anzügliche Geschenke ins Theater sandten, wären vermutlich entsetzt gewesen. Vielleicht sollte er sich obendrein noch Filzpantoffeln und eine Nachtmütze zulegen, um das Bild vom unwiderstehlichen Frauenhelden endgültig zu zerstören.

Im Grunde hatte dieses Bild nie zu ihm gepasst. Die Aufmerksamkeit der Kolleginnen, die ihm bereits an Max Reinhardts Schauspielschule zuteilgeworden war, hatte ihn eher verwundert als begeistert. Er selbst hatte sich immer als das betrachtet, was die Amerikaner einen one-girl’s-guy nannten. Der begabten, heißblütigen Liesa Sentis, in die er sich als knapp zwanzigjähriger Eleve unsterblich verliebt hatte, war er treu geblieben, und sie war es auch gewesen, die er schließlich geheiratet hatte.

Nur hatten zwischen jenem Verlieben und der Heirat vier Jahre eines Krieges gelegen, der alles veränderte.

Seine Beziehung zu Liesa.

Seine Freundschaft zu Rudi.

Und ihn selbst.

Eine Zeit lang hatte er sich verloren, war haltlos durch die Trümmer seiner Welt getaumelt und hatte sich an so gut wie jede Frau geklammert, die es ihm eine Nacht lang ersparte, mit seinem Entsetzen allein zu sein. Katharina, eine Schauspielkollegin, war eine jener Frauen gewesen, mit denen er es sogar eine Weile ausgehalten hatte. Sobald sie ihm jedoch zu verstehen gegeben hatte, dass sie sich mehr und etwas Festeres wünschte, war er geflohen. Dass er noch einmal in der Lage sein würde, jemanden zu lieben, dass er den Mut aufbringen, sich selbst vergeben und einen neuen Anfang zugestehen würde, hatte er für unmöglich gehalten. Bis Nina aufgetaucht war.

Nina von Veltheim, an der nichts zynisch, zerbrochen oder menschenverachtend war, die nach Berlin gekommen war, um sich ihren Traum zu erfüllen, und die sich in alles, was sie tat, ohne Rückhalt stürzte. Sie hatte einen besseren, einen heileren Mann verdient als ihn. An ihrer Seite war er sich bis ins Innerste verdorben vorgekommen, doch sooft er versucht hatte, sie zu ihrem eigenen Besten fortzuschicken, hatte seine Sehnsucht ihn gezwungen, ihr nachzulaufen.

Irgendwann hatte er begriffen, dass eine zerrüttete Vergangenheit ihn nicht zwang, sich auch die Zukunft zu zerrütten. Ein wenig stand es um ihn und die unzähligen anderen Männer, die im Krieg Unvorstellbares getan hatten, wie um die deutsche Republik: Sie war aus Trümmern errichtet worden, sie hatte eine Schuld auf sich geladen, die nicht zu tilgen war, aber nicht, indem sie alles hinwarf, machte sie etwas besser, sondern indem sie weiterkämpfte und darum rang, das Richtige zu tun.

Die deutsche Republik hatte Krisen überwunden, Erfahrungen gesammelt und sich stabilisiert. Er und Nina, fand Anton, hatten das Gleiche getan. Dass sie erst jetzt ihr ersehntes Kind erwarteten, mochte seinen tieferen Sinn haben, denn ihre Beziehung war gereift. Wenn Anton in dieser noch so ungewohnten häuslichen Stille in sich hineinlauschte, vernahm er nichts als Harmonie. Flüchtig bedauerte er, dass Nina noch nicht zu Hause war und er das, was er empfand, nicht mit ihr teilen konnte. Gewiss hatte die Besprechung des neuen Programms im Wintergarten jedoch wieder einmal länger gedauert, und letzten Endes hatte das auch sein Gutes: Wenn er allein Carlo willkommen hieß, fand sich dieser nicht sofort dem strahlenden Glück eines werdenden Elternpaares ausgesetzt. Stattdessen blieb ihnen Zeit, einen Aperitif zu sich zu nehmen und sich von Mann zu Mann zu unterhalten, was Carlo in seiner Lage guttun mochte.

Sich ausgerechnet in Jenny Alomis zu verlieben, war wie ein Rezept zum Unglücklichsein. Anton kannte wenige Menschen, die er so gerne mochte wie Jenny, aber sie gehörte zu den letzten Frauen, an die er sein Herz hätte verlieren wollen. Er spürte etwas in ihr, das ihn warnte, weil er es von sich selbst kannte: Jenny, die so offenherzig daherkam und keine Hemmungen hatte, in aller Öffentlichkeit ihre politische Meinung, die körperlichen Eigenheiten ihrer Liebhaber oder den neuesten Tratsch über Berlins Theaterleiter auszuposaunen, verschloss etwas so tief in sich, dass kein Mensch es zu fassen bekam.

Nina, ihre vertrauteste Freundin, beließ es dabei und stellte ihr keine Fragen. »Sie will eben an diese Dinge, die sie in Riga erlebt hat, nicht mehr denken, und warum sollte sie auch?«, hatte sie gesagt. »Ich will an den Tod meines Vaters nicht denken und du nicht an den Tod deiner Frau, an all die Traurigkeit. Wer weiß, wie viele Menschen Jenny verloren hat und was für gute Gründe es gibt, daran nicht zu rühren?«

Anton verstand, was sie meinte. Er selbst hatte einmal ähnlich gedacht, doch er hatte erlebt, dass eine vertrauensvolle Beziehung zwischen zwei Menschen nicht möglich war, wenn einer von beiden seine dunkelste Seite verschloss. Es war ein Leben am Vulkanschlund, in ständiger Habachtstellung, weil das Verborgene sich jederzeit seinen Weg bahnen konnte. Außerdem wusste Anton, dass es bei einer derart verzweifelten Anstrengung, etwas zu verbergen, nicht um Traurigkeit ging.

Es ging um Schuld.

Bei Jenny Alomis genauso wie damals bei ihm selbst.

In den Strom seiner Gedanken hinein schrillte die Türglocke. Wer war es, Carlo oder Nina? Sie hatten an der Vordertür ein Schild befestigt und darum gebeten, den Durchgang offen zu lassen, damit ihr Gast nicht vor verschlossener Pforte stand. Carlo musste bald hier sein, doch ebenso gut konnte Nina vor der Tür stehen. Ihr fehlte es oft an Geduld, ihren Schlüssel aus einer ihrer diversen Taschen zu kramen, und Anton liebte das an ihr.

Gab es etwas an ihr, das er nicht liebte?

Er wäre ein Trottel gewesen, der es nicht verdiente, ein solcher Glückspilz zu sein.

»Ich gehe schon«, rief er den geschäftigen Frauen in der Küche zu, schlenderte durch den Korridor und warf im Vorbeigehen einen Blick in das Kinderzimmer, das so gut wie fertig eingerichtet war. Sie hatten die hohen Wände weiß gestrichen und dann Sonia eingeladen, die den gesamten Raum mit ihren märchenhaften Figuren, ihren gemalten Geschichten geschmückt hatte. Wenn ihr Kind in diesem Raum einschlief, würden tanzende Bären, singende Frösche, freundliche Riesen und sanft schaukelnde, lächelnde Mondsicheln durch seine Träume wirbeln, keine Dämonen und Geister aus einer unheilvollen Vergangenheit.

Auf dem Regal reihte sich ein Zoo von kuscheligen Plüschtieren, die Hieronymus Haase und Fridolin Pätznick vom Wintergarten angeschleppt hatten, und in der Wiege lagen von Tante Sperling bestickte Kissen und eine Decke, die in den Probepausen von den Wunderfrauen aus unzähligen bunten, gehäkelten Quadraten zusammengenäht worden war. Die Wiege selbst hatte Ulrike von Veltheim aus Neu-Mahlen geschickt. Es war die, in der die Zwillinge Nina und Carlo gelegen hatten, und ihre mit Sonne, Mond und Sternen verzierten Namenszüge hatte ihr Vater eigenhändig dort aufgemalt.

Wenn ihr Kind auf der Welt war, würde Anton seinen Namen in derselben Schrift hinzufügen. Vorausgesetzt, dass er und Nina sich je auf einen Namen würden einigen können!

Er selbst liebte Pippa, wie Nina von ihrem Vater genannt worden war, oder Gundula nach ihrer reizenden Tante, die die ganze Familie Sperling nannte. Nina hingegen schwärmte für einen der modernen Namen wie John oder Harry, »und wenn es partout ein Mädchen werden muss, plädiere ich für Josephine«.

Anton musste lächeln. Wie auch immer ihr Kind heißen und egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde – es würde in einen Kokon aus Liebe hineingeboren werden, umgeben von Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschten, als es glücklich zu machen.

Er selbst war das einzige Kind seiner Eltern gewesen, die ihn ebenfalls mit ihrer Liebe überschüttet und manchmal um ein Haar erdrückt hatten. Als er sich jedoch entschlossen hatte, die Banklehre, in die sein Vater ihn voller Stolz geschleust hatte, hinzuwerfen und Schauspieler zu werden, hatten sie ihn im Zorn aus dem Haus geworfen.

Ein Gaukler, ein Bohemien, gar ein brotloser Künstler, das war nichts, was die ehrwürdigen, kaisertreuen Eheleute Wendland verkraften konnten. Anton hatte seine Verletztheit und die Sehnsucht nach den beiden unterdrückt und seinen Traum unbeirrt weiterverfolgt, bis der Krieg dazwischengekommen war. Er war eingezogen worden, hatte im belgischen Passchendaele um ein Haar sein Leben verloren und war als anderer Mensch nach Hause zurückgekehrt. Den Stapel liebevoller Briefe, in denen seine Mutter um ihn gebangt und sein Vater um eine Versöhnung gebeten hatte, hatte er erst erhalten, als es zu spät war. Die beiden waren kurz nacheinander an der Spanischen Grippe gestorben.

Anton hatte die Trauer tief in sich vergraben und lange Zeit nicht daran rühren können. Jetzt konnte er es. Er würde seinem Kind von seinen Großeltern erzählen und sich bemühen, ihm von ihrer Liebe etwas weiterzugeben. War es nicht das, was Eltern sich wünschten? Dass sie in der Liebe weiterlebten, die ihre Kinder ihren Enkelkindern schenkten, im Erbe von Liebe von Generation zu Generation?

Er jedenfalls wünschte es sich.

Und ob sein Kind Schauspieler, Sportfliegerin, Bierkutscher oder Polarforscherin werden wollte, war ihm von Herzen gleichgültig, solange seine Tochter oder sein Sohn dabei glücklich war.

Mit Schwung öffnete er die Tür und breitete die Arme aus, um entweder seine Liebste oder seinen Schwager darin willkommen zu heißen.

Im Dunkel des Hausflurs, wo wohl wieder einmal das Licht nicht funktionierte, stand ein Mann, aber es war nicht Carlo. Es war Rudolf Kante.

Anton umklammerte die Türklinke, um nicht zurückzuweichen. Ein lahmes »Rudi«, war alles, was er herausbrachte.

»In der Tat, der bin ich immer noch«, kam es von dem Mann, der einst sein bester Freund gewesen war und dem er gewissermaßen seinen Weg zum Theater verdankte. »Willst du mich nicht hereinbitten?«

»Wir erwarten Besuch«, wehrte Anton wie aus der Pistole geschossen ab. »Ninas Bruder kommt aus der Uckermark. Er muss jeden Augenblick hier sein.«

»Ach, sieh einer an.« Noch immer war Rudis Gesicht alterslos, glich in seiner bleichen Haarlosigkeit einer Maske und ließ sich nicht lesen. »Wie war das noch, wie hat man uns einst in Berlins Theaterwelt genannt? Toni Pech und Rudi Schwefel, der eine nicht ohne den andern zu bekommen. Aber das ist lange her, habe ich recht? Es gefiel dir, es zu vergessen, und jetzt bist du der Schwefel, und der Rudi hat eben Pech gehabt, den lässt du auf der Fußmatte stehen.«

»Quatsch«, sagte Anton und gab den Weg frei, auch wenn seine sämtlichen Instinkte sich dagegen sträubten. »Komm rein.«

»Na also.«

Rudi trat in den Korridor. Er trug über seinem schwarzen Abendanzug einen langen Mantel, der so weiß wie seine Gesichtshaut war. Mit einer geschmeidigen Bewegung schälte er sich aus dem fließenden Stoff und übergab Anton Mantel und Schal sorgfältig zusammengelegt wie einem Garderobier. Während Anton die Kleidungsstücke an einen Haken hängte, war Rudi ihm bereits in den Salon vorausgegangen, als wäre er in ihrem Haushalt Dauergast.

»Nett habt ihr es hier, würde ich ja gern sagen«, erklärte er, während er sich in Antons abgewetzten Lieblingssessel fallen ließ. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich dieser Hinterhofromantik, wie unsere expressionistischen Pleite-Filmemacher sie heraufbeschwören, nie viel abgewinnen können. Ich gehe schließlich zum Flanieren auch nicht ins Scheunenviertel oder verbringe meinen Urlaub im galizischen Judengetto.«

Anton musste schlucken. »Uns gefällt es.«

»Sicher doch.« Rudi zuckte mit den nicht vorhandenen Brauen. »Sonst würdet ihr hier ja nicht hausen. Es ist ja schließlich nicht so, dass ihr euch nichts Besseres leisten könntet.«

Es ist das Beste, was ich je gehabt habe, dachte Anton. Ein Zuhause, in dem wir sein können, was wir sind, in dem wir uns fetzen, uns Beleidigungen um die Ohren schleudern, uns wieder versöhnen, uns lieben, Suppe aus Konservendosen löffeln, zu jeder Tages- und Nachtzeit unsere Freunde empfangen. »Was soll das, Rudi?«, fragte er. »Bist du gekommen, um meine Kreuzberger Hinterhofwohnung mit deiner Gründerzeitvilla am Wannsee zu vergleichen? Dann dürfte der Vergleich hiermit abgeschlossen und zu deinen Gunsten ausgefallen sein.«

»Danke, für mich keinen Wein«, sagte Rudi, ohne dass ihm welcher angeboten worden war. »Ein Tropfen von einem ordentlichen Cognac wäre mir lieber. Allzu klein braucht der Tropfen nicht zu sein, und der Cognac bitte weder zu jung noch zu blass.«

Anton hätte sich ohrfeigen wollen, doch er ging tatsächlich zum Beistelltisch und schenkte einen guten Fingerbreit von seinem Très Vieille Réserve aus dem Haus Augier in einen Schwenker. Mit Sorgfalt anerzogene gute Manieren ließen sich eben nicht so einfach abschütteln.

Er selbst nahm sich ein Glas von dem Piemonteser Rotwein, den er geöffnet hatte, setzte sich in den Sessel am anderen Ende des Tisches und wünschte sich, Carlo möge kommen.

Carlo, nicht Nina.

Wenn überhaupt ein Mensch seiner beherzten Nina Furcht einflößen konnte, dann war es der, der ihm gegenübersaß. Er war ihr unheimlich, weil ihn etwas antrieb, das sie nicht verstand. Hass. Der Leichnam von Liebe.

»Bist du dann so freundlich, mir zu sagen, was dich hertreibt?«, rang er sich ab. »Wie gesagt, erwarten wir über das Wochenende Besuch. Sobald Nina und ihr Bruder eintreffen, essen wir zu Abend.«

»Und zu eurem köstlichen Abendmahl einladen wollt ihr mich natürlich nicht, sehe ich das richtig?« Mit gespitzten Lippen trank Rudi von seinem Cognac. »Ich könnte das traute Familienidyll stören, die kleine Nina und ihren Bruder, der dir sicher schon durch und durch ein Bruderersatz geworden ist. Wenn es so etwas überhaupt geben kann, einen Ersatz für einen Bruder. Aber wie solltest du das beurteilen können? Du hast ja nie einen Bruder gehabt.«

»Rudi …«, setzte Anton an, brach aber ab, weil es dazu nichts zu sagen gab.

»Ich könnte das traute Familienidyll stören, indem ich die traute Dreieinigkeit daran erinnere, dass ich allerdings einmal einen Bruder hatte«, fuhr Rudi fort. »Das ist lange her, willst du jetzt einwenden, habe ich recht? Was du nicht weißt, ist, dass für einen Menschen, der das Beste in seinem Leben verloren hat, die Zeit sehr langsam vergeht. Tatsächlich vergeht sie überhaupt nicht mehr, weshalb für dich das alles Schnee von gestern sein mag, während dieser Schnee für mich noch genauso frisch ist, als wäre er gerade erst gefallen.«

»Verdammt, ich habe sie auch verloren«, entfuhr es Anton. »Reinhold und Liesa. Er war dein Bruder, aber er war mein Freund. Und Liesa war meine Frau.«

»Das habe ich nie bestritten«, erwiderte Rudi und leckte sich die glänzende Spur Cognac von der Oberlippe. »Ich war dein Trauzeuge, falls dir das noch dunkel im Gedächtnis ist. Ansonsten hast du ja ganze Arbeit geleistet bei deinen Bemühungen, deine Frau zu vergessen. Arme Liesa. Weißt du, dass sie einmal, nachdem wir uns geliebt hatten, in meinen Armen geweint und gesagt hat, sie kann in manchen Nächten aus Angst vor dem Tod nicht schlafen, weil sie den Gedanken nicht erträgt, vergessen zu sein?«

Anton saß da, horchte in sich hinein und spürte nichts als Mitleid. Mitleid mit Liesa, die solche Angst vor dem Tod und dem Vergessensein gehabt und dennoch nicht den Mut aufgebracht hatte, den Rest ihres Lebens zu nutzen. Mitleid mit Rudi, dem sein Erfolg am Revuetheater, seine Villa, sein Geld nicht geholfen hatten, sich aus dem Gefängnis der Vergangenheit zu befreien.

Jahrelang hatte ihn der Gedanke an seine Frau in den Armen seines besten Freundes mit einer ganzen Kanonade von Empfindungen erfüllt – Zorn, Kränkung, verletzter Stolz und Trauer –, aber all das lag hinter ihm. Mit Ninas Hilfe hatte er sich hindurchgekämpft, bis er eines Tages gespürt hatte, wie die Last der dunklen Gefühle von ihm abfiel.

»Ich habe Liesa nicht vergessen«, sagte er friedlich. »Und Reinhold auch nicht. Die beiden gehören zu mir und meinem Leben, aber dorthin, wo sie hingegangen sind, kann ich ihnen nun einmal nicht folgen. Ich muss mein Leben hier weiterführen – mit neuen Menschen, neuen Zielen und auch mit einem neuen Glück. Für dich gilt das Gleiche, Rudi. Du bist es den Toten nicht schuldig, dass du selbst tot bist.«

»Ach nein?« Rudi legte den Kopf schräg und wollte Cognac trinken. Als er bemerkte, dass der Schwenker leer war, ging er zum Beistelltisch und bediente sich selbst. »Stell dir vor, das habe ich auch schon bemerkt. Falls es dir entgangen sein sollte – auch ich habe mein Leben weitergeführt. Nicht ganz erfolglos, glaube ich, sagen zu dürfen.«

»Das ist untertrieben. Für deine neue Revue im Admiralspalast ist auf Monate hinaus keine Karte zu bekommen.«

»Hast du es etwa versucht? Du hättest mich anrufen sollen. Ich hätte dir nicht nur eine, sondern gleich zwei von meiner Sekretärin zustellen lassen.«

Anton hatte es nicht versucht, sondern in der Lichtspiel-Bühne davon gelesen. Er machte sich nichts aus Revuen, wie Rudi sie inszenierte, und was schlimmer war: Er wusste, dass Rudi sich auch nichts aus ihnen machte. Was er den Leuten vorsetzte, war zynisch, leblos und ausschließlich auf kommerziellen Erfolg ausgerichtet. Rudi machte daraus keinen Hehl. Im Gegenteil, er schien auf eine Weise, die in Antons Augen an Selbsthass grenzte, darauf stolz zu sein.

»Ich freue mich, dass du so viel erreicht hast«, brachte er wenig überzeugend heraus.

»Tatsächlich? Habe ich das?«, fragte Rudi. »Und woran misst du das? In so einem Leben ist ja im Grunde alles ein Wettbewerb, oder nicht? Auch ein Krieg ist letzten Endes nichts anderes als ein Wettbewerb, bei dem die Verlierer die Rechnung bezahlen und sich obendrein von aller Welt beschimpfen lassen müssen.«

»Was redest du denn da?«, fuhr Anton auf. Sosehr sich Rudi auch von ihm entfernt hatte und so fremd er ihm geworden war – dass er sich politisch auf die Seite derer schlagen würde, die den verlorenen Krieg zur ungerechten Schmach erklärten, hätte er bis eben für unmöglich gehalten.

»Verschreckt das, was ich rede, deine zartfühlende Seele?«, fragte Rudi. »Hast du dich nie gefragt, wie es mir bei dem Gedanken geht, dass mein kleiner Bruder, die schauspielerische Jahrhundertbegabung, völlig sinnlos in einem Schlammfeld irgendwo in Belgien abgekratzt ist? Unter den Augen meines sogenannten Freundes, der ihn mir hüten sollte. Und am Ende wird mir auch noch gesagt, dass ich mich für meinen Bruder zu schämen habe, dass ich mich für den ganzen Krieg zu schämen habe, den ja wir angeblich angefangen und obendrein verloren haben, weshalb wir künftig Dreck unter Europas Schuhsohlen sind.«

»Hör damit auf«, fuhr ihm Anton ins Wort. »Ich respektiere deine Trauer, das habe ich immer getan, aber ich werde nicht dulden, dass du in meinem Haus politischen Kräften das Wort redest, von denen ich glaubte, sie wären für uns beide tabu. Für Reinhold wären sie auch tabu gewesen, daran hege ich nicht den geringsten Zweifel.«

»Ja, natürlich«, sagte Rudi mit einem dünnen Lächeln auf den blassen Lippen. »Du hast ganz sicher sogar meinen eigenen Bruder besser gekannt als ich. Ich sage es ja, im Grunde ist alles ein Wettbewerb – wie bei den Olympischen Spielen, bei denen wir dreckigen Deutschen nur eben leider nicht mitmachen dürfen.«

»Wir werden mitmachen dürfen! Wir sind in den Völkerbund aufgenommen worden, und wenn niemand diesen Weg mit seiner Hetze sabotiert, wird die Versöhnung weiter voranschreiten. Die Wunden, die der Krieg gerissen hat, sind im Begriff, zu heilen, Rudi.«

»Wie schön. Und mein kleiner Bruder steht von den Toten auf.« Rudi spuckte allen Ernstes in sein Glas mit Cognac. »Aber lassen wir das. Über Völkerbund, Krieg und all das habe ich gar nicht reden wollen, sondern über dich und mich, mein Guter. Über unseren eigenen, ganz persönlichen Wettbewerb. Dass du darin immer die Nase vorn hast, wissen wir ja beide. Und auch, dass es dabei nicht immer mit rechten Dingen und den Regeln gemäß zugegangen ist. Erst hast du mir die Frau gestohlen, die ich liebte, dann hast du sie achtlos weggeworfen. Meinen Bruder, von dem du wusstest, was er mir bedeutet, hast du benutzt, bezirzt und sterben lassen, damit du dich auf der Bühne an seine Stelle setzen konntest. Du bist der große Anton Wendland geworden, der Held des modernen Dramas, und ich, der dir die Tür dazu geöffnet hat, bin der kleine Rudi geblieben, der Schmierentheater macht und über den du dich mit deinen Freunden vom Feuilleton mokieren kannst.«

»Ich mokiere mich nicht über dich.« Anton sprang auf. »Und dass du dich für das Revuetheater entschieden hast, hat mit mir nichts zu tun.«

»Ach nein?«, rief Rudi, blieb jedoch sitzen. »Hast du dich vielleicht bei deinem Busenfreund Jessner für mich eingesetzt? Als er die Schauspielbühnen des Staatstheaters übernahm, hast du da zu ihm gesagt: Lass uns doch den Rudi Kante holen, das ist ein begabter Hund von einem Regisseur? Hast du an den Reinhardt-Bühnen ein Wort für mich eingelegt wie ich seinerzeit für dich? Aber nicht doch. Dass er seinem alten Kumpel Rudi womöglich den einen oder anderen Gefallen schuldet, das ist Toni Pechs Gedächtnis höchst praktisch entfallen. Er hat schließlich seine eigene Karriere, auf die er sich konzentrieren muss, und dazu die von seiner Gespielin, der kleinen Nina aus Brandenburg, die er den Wintergarten- Leuten regelrecht aufs Auge gedrückt hat.«

»Das ist nicht wahr! Nina hätte nie auch nur die geringste Hilfe von mir angenommen. Sie hat sich seinerzeit sogar von mir getrennt, weil ich ihr angeboten hatte, mich für sie einzusetzen …«

»Ach, du Ärmster.« Rudi ließ die wimpernlosen Augen rollen. »Ich hätte ja gerne die Probe aufs Exempel gemacht. Also habe ich dem Aschinger, der auf mich hört, weil ich seiner Meinung nach Stroh in Gold verwandeln kann, erzählt, er soll die kleine Miss Brandenburg zur Intendantin machen. Damit die gesamte Berliner Unterhaltungswelt zu sehen bekommt, dass sie nichts taugt, dass sie nicht mehr ist als das minderbegabte Flittchen von Toni Wendland. Aber was macht das Ding? Es kriegt kalte Füße und lehnt ab. Und als wäre es damit nicht genug, hat sie obendrein von dir ein Kind im Bauch.«

Anton spürte, wie ihm im Nacken der Schweiß ausbrach. Er musste seine Hände zu Fäusten ballen, die Nägel in die Haut bohren, um nicht auf den anderen loszugehen. »Was immer du mit mir auszutragen hast – lass Nina und mein Kind aus dem Spiel«, stieß er heraus, aber Rudi schien ihn gar nicht zu hören.

Er stand jetzt auch auf und machte einen Schritt auf Anton zu. »Damit du es weißt – das mit dem Kind geht zu weit«, sagte er. »Ich habe die ganze gottverfluchte Chose geschluckt, habe hingenommen, dass du alles hattest, was ich hätte haben wollen, aber dass dir jetzt auch noch ein Kind in den Schoß fällt, schlucke ich nicht. Liesa hat ein Kind erwartet, als sie das verdammte Veronal genommen hat. Ein Kind von mir, und du hast das gewusst.«

Die Türglocke schrillte.

Bitte lass es Carlo sein und nicht Nina, sandte Anton als stummes Stoßgebet zum Himmel.

Schritte auf den Dielen verrieten ihm, dass eine der beiden Frauen unterwegs war, um zu öffnen. Gleich darauf näherten die Schritte sich dem Salon, und dann füllte die breite, beruhigende Gestalt seines Schwagers den Türrahmen.

»Guten Abend. Ich hoffe, ich störe nicht?«

»Aber nicht doch. Ich wollte mich gerade auf die Socken machen«, sagte Rudi, ehe Anton ein Wort herausbrachte. »Einen angenehmen Aufenthalt in der Hauptstadt wünsche ich Ihnen. Genießen Sie den Cognac. Mein alter Freund Toni Pech ist zwar zu geizig, um sich einen wirklich guten zu leisten, aber unter den mittleren ist seiner zumindest nicht die schlechteste Wahl.«

Carlo trat zur Seite, stammelte überrumpelt eine höfliche Begrüßung.

Im Vorbeigehen tippte Rudi Anton gegen den Arm. »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, mein Guter. Dieses Letzte ist zu viel. Das sackst du dir nicht auch noch ein. Mach dir nicht die Mühe, mich zur Tür zu begleiten, ich finde meinen Weg selbst.«