Nina
N ina war keine Beleuchterin. Aber wenn sie eine Idee hatte, probierte sie gern erst einmal selbst aus, wie sie funktionierte, ehe sie die Leute von der Technik einbezog. Dabei kamen ihr die Kenntnisse in allen erdenklichen Bereichen des Theaters zugute, die sie sich seit der Kinderzeit auf ihrer Dachbodenbühne angeeignet hatte. Für die Büchse der Pandora, das Vorprogramm mit Friedhelm Lehwalds Ente, hatte sie sich am Ruhetag des Varietés ein paar Stunden für sich allein auserbeten. Bevor sie mit der Arbeit anfing, verriegelte sie sämtliche Türen des Bühnenraums, denn einen neuen Plan hielt sie grundsätzlich geheim, bis er spruchreif war. Um mit den beiden Lichtkegeln, die ihr vorschwebten, zu experimentieren, hatte sie sich eine sehr große und eine sehr kleine Taschenlampe gekauft, wie sie im Krieg an Soldaten ausgegeben worden waren. Diese würden als Scheinwerfer fungieren.
Eine ganze Weile schob sie die große und die kleine Holzkiste, die sie mitgebracht hatte, auf der Bühne hin und her und lief an verschiedene Plätze im Zuschauerraum, um zu prüfen, wie sie sich machten. Verwundert stellte sie fest, wie beschwerlich rasches Laufen inzwischen für sie war.
»Was willst du werden? Schwergewichtsboxer?«, fragte sie mit einem Lachen ihren Sohn, der ihren Leib zu einer wahren Riesenmelone aufwölbte. Dass es ein Sohn war, stand für Nina inzwischen fest. Wenn sie nachts in Antons Armen wach lag, weil ihr das Einschlafen mit dem Kugelbauch nicht mehr so leichtfiel, wenn sie sich rundum geborgen fühlte und die Augen schloss, sah sie sich mit einem kleinen Jungen. Sie sah, wie sie ihn vor sich auf den Rücken ihres Pferdes Palü setzte, wie sie mit ihm in den Armen zwischen den Wunderweibern umhertanzte, wie sie durch Berlin mit ihm streifte, vorbei an den Schaufenstern, in denen die neuen Modelleisenbahnen durch Miniaturlandschaften sausten, und wie sie ihm die Sterne am Himmel des Wintergarten zeigte: all die winzigen, leuchtenden Glühbirnen, von denen eine jede für einen Traum stand, der hier geträumt und zumindest eine Nacht lang auch erfüllt worden war.
Anton glaubte nach wie vor an ein Mädchen, doch er beharrte nicht mehr so vehement darauf. Überhaupt hatte sich Antons Verhalten verändert. Er wirkte fahrig, zerstreut, nicht länger mit Haut und Haar in den Zustand versunken, den Nina »blödsinnig vor Glück« genannt hatte. Beinahe war sie versucht, zu glauben, die nun so rasch sich nähernde Vaterschaft mache ihn nervös. Als sie ihn darauf ansprach, stritt er das nicht ab.
»Das ist schon möglich«, sagte er und legte wie zum Schutz eine Hand auf ihren Leib. »Es wird einem auf einmal bewusst, wie vollkommen abhängig dieses kleine Menschenwesen ist. Es hat sich nicht aussuchen können, an was für Eltern es gerät, es muss nehmen, was es bekommt, und wir können nur unser Bestes geben, um es zu hüten und dafür zu sorgen, dass nichts und niemand ihm Schaden zufügt.«
»Und warum macht dich das so schwermütig?« Sie hatte gelacht und ihn geküsst. »Kopf hoch, Papi! Wir werden die lustigsten Eltern aller Zeiten sein, denn was kann unser Kind von uns Wichtigeres lernen, als dass das Leben schön ist, dass es herrlich ist, im zwanzigsten Jahrhundert und im Frieden zu leben, und dass die Welt vor wunderbaren Menschen wimmelt? Und wenn es mal Tage gibt, an denen uns vor lauter Müdigkeit das Lachen vergeht, haben wir unsere Freunde, die für unser Kind das Kasperle machen.«
Ein Kasperletheater würde sie ihrem Kind selbst bauen. Sie hatte bereits damit angefangen und ihre eigenen kaputt gespielten und kaputt geliebten Puppen aus Neu-Mahlen geholt, um sie zu restaurieren.
»Du hast ja recht, meine liebste Alleswisserin«, hatte Anton gesagt und Nina in die Arme geschlossen. »Ich will auch ganz bestimmt weder Trübsinn noch Bierernst in unsere Kinderstube lassen, davon hatte unsere eigene Generation schließlich mehr als genug. Ich glaube, mir ist nur Carlos Besuch ein wenig an die Nieren gegangen. Seine Traurigkeit und seine Überzeugung, er trage an der Trennung von Jenny alle Schuld. Es ist schwer, selbst so glücklich zu sein, wenn es einem Menschen, der einem nahesteht, so elend geht.«
Darin hatte sie ihm zustimmen müssen. Sie hatte gehofft, Carlo an jenem Wochenende im September ein wenig aufrichten zu können, und er hatte sich, wie es seine Art war, dafür dankbar gezeigt. Hatte das Essen gelobt, alle Unternehmungen, die Nina und Anton ihm vorgeschlagen hatten, mit tapferem Lächeln mitgemacht und ihnen geholfen, ein zauberhaftes Schaukelpferd vom Trödler im Hof abzuschleifen und neu anzumalen. Aber mit dem Herzen war er bei alledem nicht dabei gewesen, das hatte Nina, die den Bruder schließlich ihr Leben lang kannte, überdeutlich gespürt. Carlo war ihr immer wie das personifizierte Vertrauen ins Leben vorgekommen, ein Mensch, der an das Gute glaubte und sich auf ruhige Art am Kleinsten freute. Von jener Freude war nichts mehr zu bemerken.
»Pass auf dich und meinen Neffen oder meine Nichte gut auf«, hatte er beim Abschied auf dem Bahnhof gesagt und Nina so vorsichtig an sich gedrückt, als wäre sie aus Porzellan. »Ich habe ihn oder sie jetzt schon lieb, und er oder sie wird schließlich eines Tages Neu-Mahlen erben.«
Damit hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er es für ausgeschlossen hielt, selbst eines Tages ein Kind zu haben. Ausgerechnet Carlo, der dafür geboren schien und sowohl bei Otta als auch bei Viktor in der Rolle des Ersatzvaters geradezu aufgegangen war. Wenn er in voller Länge ausgestreckt auf dem Boden des Morgenzimmers gelegen und mit den zwei Kindern Ritterburg gespielt hatte, hatte Nina ihn ganz in seinem Element erlebt. Er wäre ein großartiger Vater geworden, und Nina wünschte ihm, dass ihn dieses Glück irgendwann einfach überrumpelte, ohne sich darum zu scheren, ob er dafür bereit war.
Sooft sie allerdings ihre Busenfreundin Jenny sah, wurde ihr klar, wie schwierig das war. Jenny Alomis war einfach keine Frau, die man hinter sich ließ und der eine andere das Wasser reichen konnte.
Der Versuch, mit ihr darüber ein Gespräch anzufangen, war vergebliche Liebesmüh. »Du kennst mich doch«, unterbrach sie Nina bereits nach den ersten Worten. »Sobald’s mir zu eng wird, mach ich die große Flatter. Mit deinem Bruder war’s mir vom ersten Tag an zu eng, aber du weißt ja selbst, wie reizend er ist und wie schwer es ist, Nein zu ihm zu sagen.«
Dazu lachte sie ihr dunkles, gutturales Jenny-Lachen, wirbelte herum und schlug hintereinander fünf Räder schräg über die Probebühne. Unglaublich, was sie mit ihrem Körper Tag für Tag anstellen konnte, obwohl sie ungehemmt Raubbau an ihm betrieb. Unglaublich vielleicht auch, was sie mit ihrer Seele anstellen konnte, denn zuweilen kam es Nina vor, als verbiege sie diese ebenso wie ihre Glieder.
»Denk du lieber an unseren Johnny«, hatte Jenny gerufen, nachdem sie wieder auf die Füße gesprungen war und Nina auf den Bauch geklopft hatte. »Ausgesprochen schlau von dir, dass du dich für ein männliches Modell entschieden hast. Mädchen sind Zimtzicken, die ihren Müttern das Leben zur Hölle machen. Ich muss es wissen, ich war darin nämlich Weltmeisterin. Aber so ein Kleining wie mein Viktor? Als er fünf Jahre alt war und im Grunde gerade erst angefangen hatte, zu sprechen, hat er zu mir gesagt: ›Ich hab dich so lieb, Maminka, das reicht dreieinhalb Mal um die ganze Welt.‹ – ›Warum denn dreieinhalb Mal?‹, habe ich ihn gefragt, und dieses kleine große Menschenwunder hat mir geantwortet: ›Ach, das weiß man doch nie, wozu man das letzte halbe Mal noch braucht.‹«
Viktor war in der Tat ein Wunder. Er würde einen prachtvollen großen Freund für ihren eigenen kleinen Jungen abgeben, aber dass Carlo vom Leben dieser beiden Menschen, die er liebte, ausgeschlossen blieb, tat Nina im Herzen weh.
Sie versuchte, nicht mehr daran zu denken. Hier und heute ging es um die beste Beleuchtung für die Enten-Nummer, die sie sich wieder und wieder angesehen hatte, um sie bis ins Detail zu erfassen. Friedhelm Lehwald war tatsächlich ein Poet, der nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern dichtete. Noch einmal betrachtete sie die beiden Kisten, die sie im spitzen Winkel zueinander aufgestellt hatte, und war schließlich zufrieden. Nun galt es, mit den zwei Taschenlampen auszuprobieren, wie das Licht der Scheinwerfer am günstigsten fiel.
Hätte Anton erlebt, wie seine hochschwangere Geliebte sich daranmachte, das Gerüst hinter dem samtenen Vorhang zu erklimmen, wäre er losgestürmt wie ein wütender Stier und hätte sie zurück auf den Boden geholt. Am liebsten wäre es ihm ohnehin gewesen, wenn sie in diesen letzten Wochen vor der Geburt überhaupt nicht mehr gearbeitet, sondern ihm gestattet hätte, sie daheim in Watte zu packen. Da er aber wusste, dass er mit diesem Wunsch bei ihr auf taube Ohren gestoßen wäre, brachte er es gar nicht erst vor, sondern ermahnte sie nur Morgen für Morgen, sich zu schonen und vorsichtig zu sein.
Anton selbst spielte zurzeit am Lessingtheater die Hauptrolle in dem skandalumwitterten neuen Drama Cyankali von Friedrich Wolf. In dem Stück, das sowohl begeisterte Kritiken des linksgerichteten Feuilletons als auch geifernde Schmähreden der konservativen Presse auf sich zog, ging es um ein Paar aus der Arbeiterklasse, das ein Kind erwartete, es aber nicht ernähren konnte. Es war in der Tat harter Tobak: Auf offener Bühne stürzte sich eine schwangere Frau aus dem Fenster, und die Hauptdarstellerin starb qualvoll, als sie mit Zyankali eine verbotene Abtreibung an sich vornehmen wollte.
»Es ist ein wichtiges Stück«, hatte Anton gesagt. »Ehe Wolf es geschrieben hat, hat er ermittelt, dass jedes Jahr an die zehntausend Frauen an einer solchen dilettantischen Abtreibung sterben. Ich weiß, wir müssen das Gesetz ändern, damit Ärzte diese Schwangerschaften abbrechen dürfen und das Leben der Frauen gerettet wird. Im Augenblick aber, wo unser eigenes Kind unterwegs ist, wünsche ich mir einfach nur, wir könnten auch die Kinder retten, und es gäbe eines Tages niemanden mehr, der kein Geld hat, um seine Familie zu ernähren.«
Nina wusste nur zu gut, wovon er sprach. Sine, eine ihrer Tänzerinnen, die in bitterster Armut aufgewachsen war, hatte mit sechzehn Jahren bei einem Quacksalber ein Kind abtreiben lassen. Gestorben war sie nicht, auch nicht von der Polizei verhaftet worden wie die Hete in Wolfs Drama, aber wegen der Vernarbungen, die die unsachgemäße Behandlung in ihrem Unterleib verursacht hatte, war sie zu einem Leben mit ständigen Schmerzen verurteilt.
»Der hat an meiner Kleenen rumjewütet wie ’n Fleischer an ’nem Schlachtschwein«, hatte Felice, Sines Mutter, Nina erzählt. »Hätten wir damals schon die Piepen gehabt, die wir bei dir verdienen, hätten wir das Dingelchen leben lassen, und ich wär heut die Oma von ’nem Wurm von acht.«
Eine Oma wie Ninas Mutter, die sich voller Ungeduld darauf freute, würde sie nun vermutlich nie werden. »Meine Kleene kann doch keen’ Kerl mehr in sich rin lassen«, hatte Felice gesagt. »Die geht vor Schmerzen die Wände hoch, wenn sie bloß dran denkt.«
Nina dachte darüber nach, während sie am Gerüst für die Beleuchter emporkletterte. Sie war keine Politikerin und konnte nichts tun, um die langsamen Fortschritte, die bei den Lebensbedingungen von Deutschlands Arbeiterschicht erzielt wurden, zu beschleunigen. Sie konnte nur für ihre kleine Schar sorgen, sicherstellen, dass sich keiner von ihnen um das Morgen sorgen musste, sondern imstande war, das Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten.
Und genau das würde sie auch weiterhin tun. Sie erklomm die nächste Sprosse, prüfte, dass sie sicher stand, und richtete den Lichtkegel der kleineren Taschenlampe nach unten auf die Bühne, während sie sich mit der freien Hand festhielt. Angst hatte sie keine. Schließlich war sie oft genug hier heraufgestiegen, um die Wirkung von Beleuchtungsideen zu prüfen, und das Gerüst war solide, es bot ihr auch mit Kind im Bauch genug Sicherheit.
Sie schob die kleine Taschenlampe in ihren Gürtel und zog dafür die andere heraus, um den Lichtstrahl auf die größere Kiste zu richten, auf der Jenny tanzen würde. Sie sah sie geradezu vor sich und freute sich, dass sie offensichtlich exakt die richtige Position gefunden hatte, um dem Licht aus der Höhe einen magischen, geheimnisvollen Effekt zu verleihen. Der Widerspruch, den dies zu einem so bodenständigen Tier wie der watschelnden Ente bildete, war genau das, was ihr gefiel. Er bildete das Leben ab. Den Zauber im Banalen. Die Sensation an einem Ort, wo kein Mensch mit ihr rechnete.
Sie wollte nur noch rasch die beiden Positionen für die Scheinwerfer markieren, dann würde sie hinuntersteigen, eine kurze Besprechung mit Friedhelm Lehwald hinter sich bringen und zu ihrem Liebsten nach Hause gehen. Das Wetter war trübe und regnerisch, Anton hatte einen aufführungsfreien Abend, und Nina war in genau der richtigen Stimmung, um früh mit ihm in ihr riesiges Bett zu kriechen und sich so sanft und beschaulich, wie sie es nie gekannt hatte, von ihm lieben zu lassen. Einander mit Käse und Obst zu füttern, eine der letzten Nächte zu zweit auszukosten und dabei doch zu spüren, dass ihr Kind schon bei ihnen war, dass es, wenn auch noch unsichtbar, zwischen ihnen schlief.
Was dann geschah, ging so schnell, dass es ihr später nie mehr gelang, die Fetzen der Erinnerung zusammenzusetzen. Das Gerüst, das eben noch fest auf seinen metallenen Halterungen gestanden hatte und problemlos drei oder vier Beleuchter gleichzeitig tragen konnte, geriet unvermittelt ins Schwanken. Die Streben klirrten gegeneinander, und das Metall unter Ninas Sohlen rutschte weg. In der Rechten hielt sie die Taschenlampe, klammerte sich allein mit der Linken an einer Stange fest und konnte so ihr Gewicht nicht länger als einen Atemzug lang halten. Die Lampe entglitt ihr. Ehe ihr bewusst wurde, dass sie tatsächlich in die Tiefe stürzte, schlug sie auch schon auf dem Bühnenboden auf.
Instinktiv krümmte sie kurz vor dem Aufprall ihren Körper zur Kugel und versuchte, mit den Armen ihren Leib zu schützen. Seitlich streifte sie jedoch die scharfe Kante der Kiste, wurde vornübergeschleudert und landete auf Bauch und Brust, wobei sie den rechten Arm unter sich begrub. Neben dem unsäglichen Laut, wenn ein menschlicher Körper auf Bretter knallt, glaubte sie, ein Knacken zu hören, und ein Schmerz, bei dem ihr Hören und Sehen verging, schoss ihr in die Schulter.
Mein Arm, durchfuhr es sie, und flüchtig war sie beinahe erleichtert. Ich habe mir den Arm gebrochen, das kommt beim Reiten alle naselang vor und heilt auch wieder zusammen, versuchte sie sich zu beruhigen. Dem Kind schadet es nicht. Bis der kleine Johnny da ist, ist der Knochen wieder ganz, und ich kann ihn in die Arme nehmen.
Den gewaltigen Schwall Flüssigkeit, der aus ihr herausschwemmte und ihre Beine überspülte, spürte sie erst danach. Zugleich wurde ihr Bauch so hart wie ein Brett, und der Schmerz, der durch sie hindurchschnitt, war so scharf, dass sie den in ihrem Arm nicht mehr fühlte. Er raubte ihr den Atem. Gleich darauf raubte er ihr auch das Bewusstsein.