Jenny
E s kam nicht oft vor, dass Jenny Zeit hatte, Viktor von der Schule abzuholen. Schon seit der ersten Klasse ging ihr Sohn den Weg nach Hause alleine, während Darius ihm am häuslichen Herd das Mittagessen kochte. Sie hätten eine Köchin einstellen können, die vermutlich Besseres zustande gebracht hätte als Darius. Als jedoch Jenny dies einmal vorgeschlagen hatte, hatten beide Männer entschieden protestiert.
»Das Essen für den Poulaki koche ich, keine Fremde«, hatte Darius seiner Empörung Luft gemacht.
»Aber du kannst doch gar nicht kochen«, hatte Jenny wiederholt, was er ihr zu Beginn ihrer Bekanntschaft höchstpersönlich erklärt hatte.
Darius hatte den Einwand ignoriert und sich wieder dem Kochtopf auf dem Herd zugewandt. »Wie soll jemand, der diese Arbeit gegen Bezahlung verrichtet, dem Poulaki das Gefühl vermitteln, umsorgt zu werden?«, fragte er und schnippelte Salatgurken in den heftig köchelnden und nach etwas Scharfem, Exotischem riechenden Eintopf. »Außerdem bin ich es, der weiß, was Viktor schmeckt und was ihm bekommt. Er hat weder den Appetit noch den Pferdemagen seiner Mutter geerbt, sondern ist empfindlich. Ihm kann man nicht einfach irgendetwas vorsetzen, wie es einer Wildfremden in den Sinn kommt.«
Viktor selbst hatte sich kürzer gefasst: »Ich ess das Essen von Darius.«
»Und es schmeckt dir?«, hatte Jenny ungläubig ausgerufen.
»Nein«, hatte Viktor erwidert. »Aber es ist von Darius.«
Es bestand also kein Zweifel daran, dass die beiden nach der Schule ausgezeichnet ohne sie zurechtkamen, und an den meisten Tagen war ihre Zeit auch viel zu knapp, um ihnen von Nutzen zu sein. Heute aber hatte der Wintergarten aufführungsfrei, und Nina hatte keine Probe angesetzt, weil sie sich um irgendeine Neuerung bei der Ausleuchtung kümmern wollte. Jenny hatte geplant, nach ihrer Matinee nach Hause zu gehen und ein paar vertrackte Figuren für das neue Programm zu trainieren. Als sie schon auf dem Weg war, packte sie jedoch eine plötzliche Sehnsucht nach ihrem Kind. Auf einmal wollte sie ihn um jeden Preis gleich bei sich haben und den Nachmittag mit keinem verbringen als mit ihm.
Sie würde ihn von der Schule abholen.
Das allerdings erwies sich als leichter beschlossen als getan.
In der Innenstadt herrschte heute ein Trubel, der etwas Nervöses, Ungesundes an sich hatte, und Jenny hatte alle Mühe, sich zwischen den in alle Richtungen strebenden Passanten und den brüllenden Zeitungsjungen die Friedrichstraße hinunter zu drängeln. Das Realgymnasium, das Viktor seit dem Ende der Ferien besuchte, lag an der Kreuzung zur Oranienburger Straße, und für den kurzen Weg bis dorthin brauchte sie eine Ewigkeit. Es schienen doppelt so viele Menschen wie gewöhnlich unterwegs zu sein. Viele von ihnen blieben in Gruppen mitten auf der Straße stehen und redeten erregt aufeinander ein.
»Extrablatt, Extrablatt!«
Die Horden von Jungen, die in dicken Trauben vom Zeitungsviertel herüberströmten und unentwegt neue Ausgaben ihrer Presseerzeugnisse anpriesen, machten nichts leichter. Jenny versuchte eine Zeit lang, sie zu ignorieren. Wenn die Zeitungsredaktionen es für lohnend hielten, ein oder sogar mehrere Extrablätter am Tag herauszugeben, hatte das so gut wie nie einen erfreulichen Grund, und Jenny wollte sich heute von Unerfreulichem nicht aufhalten lassen. Sie wollte bei Viktor sein. Wollte vor der Schule auf ihn warten. Auf einmal kam es ihr unendlich wichtig vor, ihn gerade an diesem Tag nicht zu verpassen.
Er würde bald kein Kind mehr sein. Manchmal kam es Jenny vor, als wäre er schon jetzt keines mehr, sondern rutschte gemeinsam mit Darius zuweilen ihr gegenüber in eine Art Elternrolle. Er erklärte ihr, sie müsse mehr schlafen, und trug ihr die Treppe hinunter ihren Schal hinterher, wenn sie ihn am Haken vergessen hatte. Zu ihrem Geburtstag hatte er ihr einen Regenschirm geschenkt, weil sie keinen besaß.
Eine Art Rollentausch, wie man ihn frischgebackenen oder gar werdenden Eltern schwerlich erklären konnte.
Neulich, als Jenny mit Nina und Anton in der Bodega im Haus Vaterland zu Abend gegessen hatte, hatte Anton voll Inbrunst erklärt, er wünsche sich, sein Kind vor allem Übel zu behüten.
»Ich bin dankbar, dass es in einer Zeit zur Welt kommt, in der das möglich ist und hoffentlich auch weiterhin möglich bleibt«, hatte er gesagt.
Jennys Sohn war nicht in einer solchen Zeit zur Welt gekommen. Sie hatte ihn in ihrer Not rasch Viktor genannt, weil sie vor Angst, ihn nicht behüten zu können, schier verrückt geworden war und wider alle Vernunft gehofft hatte, sein starker Name werde es für ihn tun.
Aber sie hatte ihn durchaus behütet. Nicht vor allem Übel, aber vor den apokalyptischen Reitern, die hinter ihr hergejagt waren. So hatte sie es damals empfunden, hatte ihren brennenden Atem im Nacken gespürt. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie all ihre Kräfte auf nichts anderes hatte konzentrieren können als darauf, ihren Sohn zu behüten, ihn lebend durch den Sturm zu bringen.
Als sie es mit den letzten Reserven nach Berlin geschafft hatten, war sie zu Tode erschöpft gewesen, und von dieser Erschöpfung hatte sie sich nie wieder erholt. Sie wusste, dass niemand es ihr anmerkte. Schließlich war sie ohne Unterlass auf Achse, und Ninas Frau Rottenheimer vertrat die Ansicht, sie komme gänzlich ohne Schlaf zurecht. Verkapselt in ihrem Innern aber war eine Erschöpfung, die sie vor jeglicher Komplikation flüchten ließ, und zugleich eine Gewissheit, die ständig auf der Hut war: Sie war gewiss nie eine besonders vorbildliche, besonders konventionelle oder dem allgemeinen Kindeswohl besonders zuträgliche Mutter gewesen, und in ihrem gewöhnlichen Alltag beschäftigte sie etliches, das mit ihrer Mutterschaft nichts zu tun hatte. Hätte aber ihrem Kind noch einmal eine Gefahr gedroht wie jene, aus der sie es gerettet hatte, so hätte sie noch einmal auf dieselbe Weise all ihre Kräfte darauf konzentriert, es zu behüten.
So waren Menschen noch immer ausgerichtet, auch wenn sie sich von Kühen, Karnickeln und Waldameisen ansonsten erheblich unterschieden: Sie waren bereit, bis zum Äußersten zu gehen, damit ihr Nachwuchs überlebte.
Warum ihr das gerade heute durch den Kopf ging, war nicht leicht zu erklären. Noch vor einigen Jahren war es ihr praktisch unentwegt durch den Kopf gegangen. Dann war ihr Leben in ein zwar nicht ruhigeres, aber sichereres Fahrwasser geraten, und die Gedanken waren seltener geworden, ja sie hatten manchmal für Monate vollkommen aufgehört. Seit ihrem letzten Besuch auf Neu-Mahlen waren sie jedoch von Neuem aufgeflammt und suchten sie nun wieder ständig heim.
Heute besonders.
Etwas lag in der Luft, befeuert vom Geschrei der Zeitungsjungen.
Sie rannte im Slalom um Menschentrauben herum und am Großen Schauspielhaus vorbei, ehe sie schließlich klein beigab. »Gib schon her«, sagte sie und riss einem der Jungen die dünne, in aller Hast gedruckte Ausgabe des Berliner Tageblatts aus der Hand. Statt des abgezählten Preises von zehn Pfennigen gab sie ihm eine willkürliche Handvoll Münzen und las im Weiterlaufen die fett gedruckte Schlagzeile:
Zusammenbruch an der New Yorker Börse!
Panik in der Wall Street!
Vermutlich gehörte auch das unvermeidlich zur Elternschaft: dass einen ein Instinkt selbst vor Dingen warnte, von denen man kaum etwas verstand. Jenny war geübt darin, alles Unliebsame beiseite zu wischen. Die Mutter in ihr konnte sich jedoch nicht damit beruhigen, dass New York und die Wall Street weit weg waren und dass es nicht sonderlich besorgniserregend schien, wenn irgendwelche Aktienhändler bei einem Kurssturz einen Teil ihrer exorbitanten Vermögen verloren.
Jennys Vater hatte mit Aktien gehandelt und am heimischen Schreibtisch, zwischen den Wandmalereien seines Arbeitszimmers, Briefe an seinen Händler mit seinem Siegelring in Wachs gesiegelt. Es war eine Art Steckenpferd von ihm gewesen, ein Nervenkitzel für die Freizeit, wie andere Männer Karten spielten oder bei Rennen wetteten.
»Die Börse ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung«, hatte er seine Söhne gewarnt, wobei vermutlich nur seine Tochter ihm zugehört hatte. »Einsetzen darf man nie mehr, als man sich schmerzlos leisten könnte, zu verlieren. Wer es dennoch tut, darf hinterher nicht klagen, wenn er sich den Hals bricht.«
Wie aber konnte die New Yorker Börse denn zusammenbrechen? Hieß es nicht, seit fünf Jahren ginge es dort ununterbrochen bergauf, weshalb die USA die Flut von Krediten, die sie Deutschland für seinen Neuaufbau gewährten, leichthändig aus der Portokasse bestritten? Waren nicht im Sommer bombastische Kursanstiege gemeldet worden, was Spekulanten, die hinter dem großen Teich Aktien besaßen, in ein rauschhaftes Hochgefühl versetzte? Jenny hatte einen Verehrer, von dem sie sich ab und an ins Kakadu zu Champagner und einer winzigen Prise Koks einladen ließ, einen Industriellen, der Papiere von General Electric hortete. Der hatte den gesamten glutheißen August hindurch die Spendierhosen angehabt und ihr erzählt, er könne sich demnächst zur Ruhe setzen: »Dann arbeitet nur noch mein Geld da drüben bei den Amis für mich. So schnell wie heute ist man im Leben noch nie reich geworden.«
Fridolin Pätznick, die Seele von Mensch, die dem Wintergarten seit Jahr und Tag als Türsteher diente, hatte sich sogar zusätzliches Geld gepumpt, um zusammen mit Hieronymus Haase und dessen »Lieblingsmann« Christoph – Christa genannt – ein amerikanisches Aktienpaket zu erwerben. »Aber sagen Sie’s nicht dem Fräulein Nina«, hatte er Jenny beschworen. »Soll nämlich für das Kleine sein. Was für die Zukunft. Na ja, und wenn für unsere Dreieinigkeit obendrein noch ein Zuschuss fürs Alter rausspringt, sagen wir nicht Nein.«
Sorgen hatte sich, soweit Jenny wusste, niemand gemacht. Höchstens dieser überdrehte Hellseher, einer der unzähligen Paradiesvögel, die das sensationshungrige Berlin hofierte. Seit geraumer Zeit verdiente der sich eine goldene Nase, die länger war als die von Pinocchio, indem er angeblich die Kurse an der Börse prophezeite. Vor ein paar Wochen hatte er tatsächlich vorausgesagt, dass ein Absturz ins Bodenlose drohte, aber Jenny hatte das genau wie die übrigen Voraussagen des Menschen für nicht mehr als werbewirksame Augenwischerei gehalten. Alles, was sie an dem Kerl interessierte, war die Tatsache, dass er an der Scala auftrat, nicht im Wintergarten, und dort zuverlässig Säle füllte.
Sie eilte weiter. Das hohe, strenge Gebäude des Friedrich-Realgymnasiums, in dem Viktor seine Schultage verbrachte, kam endlich in Sicht. Jenny wollte sich auf ihren Jungen freuen, wie sie es eben noch getan hatte. Weshalb ließ sie sich von dieser Zeitungsmeldung kirre machen? Sie besaß doch gar keine Aktien, und falls Hiero, Christa und Fridolin bei diesem Schlamassel Geld verloren, würden sich schon Wege finden, ihnen auszuhelfen. Ansonsten gab es ja wohl keinen Grund, einer Krise in Amerika wegen hier in Deutschland in Panik auszubrechen.
Übel war ihr trotzdem. Sie kam sich vor wie ein Tier, dem sich das Nackenfell sträubte, während es weiterrannte, als wäre es möglich, vor der Nachricht zu fliehen.
Es war nicht möglich.
Und es gab einen Grund.
Während Hinz und Kunz, vom Politiker bis zum Straßenkehrer, dem Wahn des Nationalismus verfielen und nach mehr und mehr Grenzen schrien, agierte das Kapital schon immer international. Alles hing mit allem zusammen. Ohne die Kredite aus Amerika hätte die marode deutsche Wirtschaft sich überhaupt nicht wieder auf die Füße rappeln können, das begriff selbst Jenny, die vorgab, sich um derlei Dinge einen feuchten Kehricht zu scheren. Wenn diese Kredite jetzt ausblieben – würde sich der behutsame Aufschwung, den Deutschlands Wirtschaft in den letzten Jahren genommen hatte, halten lassen?
Und wenn nicht?
Jenny fröstelte. Wie abscheulich das Wetter war, der böige Wind und der von Neuem einsetzende Regen, bemerkte sie erst jetzt. Vor ein paar Monaten hatte es in Berlin wieder Straßenschlachten gegeben, bei denen Menschen umgekommen waren. Die rechtsgerichteten Parteien gaben nicht auf, auch wenn ihre Wahlergebnisse lächerlich waren, sondern verbreiteten ihre widerliche Hetze gegen Juden, Kommunisten, Männer, die Männer liebten, Frauen, die es nicht mit der Treue hielten, Schriftsteller, die für straffreie Abtreibung plädierten, und Tänzerinnen, die mehr zeigten als verbargen. Sie hetzten gegen so gut wie alles, was Jennys Leben in diesen Jahren hell und lebenswert gemacht hatte, und wie es war, wenn man auf einen Schlag alles, was man für sicher gehalten hatte, verlor, wusste sie nur zu gut.
Die Demokratie in Deutschland war jung und zerbrechlich. Wenn jetzt Scharen von Menschen von Neuem um ihre Existenz fürchten mussten, würden ihre Feinde an allen Ecken und Enden auf offene Ohren stoßen.
Hör auf, den Teufel an die Wand zu malen, herrschte sie sich selbst an. Überlass das Sonia. Die malt besser als du. Sie hatte das Schultor fast erreicht und rannte, um bei den anderen Müttern zu stehen, wenn die zwei Flügel sich öffneten. Vor den Schulen, die Arbeiterkinder besuchten, warteten keine Mütter. Arbeitermütter standen den Tag an Fließbändern oder hinter Ladentheken, und ihre Kinder spielten nach der Schule auf der Straße, einerlei, wie übel das Wetter war. Vor dem vornehmen Realgymnasium aber versammelten sie sich: die sorgfältig in ihre Pelzkragenmäntel gehüllten, perfekt ondulierten und von Regenschirmen geschützten Mütter des gehobenen Bürgertums, deren Kinder nachts sicher in ihren Betten schliefen und tagsüber an fürsorglichen Händen zur Schule und zurück geleitet wurden.
Würden sie auch weiterhin so unbekümmert schlafen dürfen, und würden ihre Mütter sich um nichts zu sorgen haben als um Lerneifer, Appetit und Verdauung des hoffnungsvollen Nachwuchses?
Das gellende Läuten der Schulglocke übertönte den Lärm der Straße. Die Flügel des Tores schwangen auf, und heraus quoll wie ein Bienenschwarm eine Horde kleiner Jungen. Die größeren, die lange Hosen und flache, elegante Kappen trugen, schlenderten lässig mit den Händen in den Taschen hinterdrein, als interessiere sie der Schulschluss ebenso wie der Rest der Welt herzlich wenig. Jüngere wie Ältere bewegten sich in Gruppen, führten wort- und gestenreich letzte Gespräche und Rangeleien. Mütter langten mitten ins Getümmel und zogen die eigenen Sprösslinge zu sich heran. Schirme wurden über sie gehalten, damit kein einziger Tropfen sie traf, während sie Katzenköpfe für schlechte Noten kassierten.
Viktor kam fast als Letzter und allein. Als Einziger unter allen Schülern trug er eine blau und gelb gemusterte Fliege, und in seinem Mund steckte ein Bleistiftstummel, auf dem er herumkaute. Freunde oder Kameraden, die sich von ihm verabschiedet hätten, waren weit und breit nicht in Sicht.
Es versetzte Jenny einen Stich. Urplötzlich sah sie das Mädchen vor sich, das sie in einem anderen Leben gewesen war. Es hatte Kleider getragen, die es von den Übrigen ausschlossen, und es hatte in einer Welt gelebt, in der für Freunde kein Platz gewesen war.
Für keinen, bis auf einen.
Sie schüttelte sich und breitete automatisch die Arme aus, auch wenn ihr Sohn nicht länger zur Volksschule ging und sich zweifellos dafür schämte. Er blieb vor ihr stehen, das dichte, sandblonde Haar von Darius sorgsam gekämmt und auf der Wange ein Kratzer, der am Morgen noch nicht dort gewesen war. »Mami«, stellte er verwundert fest. »Was machst du denn hier?«
Jenny schloss die Arme um ihn und zog ihn sachte zu sich. Er reichte ihr bis ans Kinn. Sogar ein bisschen darüber. Leichter Regen traf sie beide, und keiner von ihnen hatte einen Schirm. »Ich hole dich ab«, sagte sie. »Wir gehen ins Café Bauer . So viel Rührei mit Schnittlauch und Schwarzbrot essen, wie du vertragen kannst. Ich würde auch Eis mit Sahne anbieten, aber aus Süßem machst du dir ja nichts.«
»Ich habe nicht Geburtstag«, sagte Viktor, während sie nebeneinander den Schulhof verließen. »Du auch nicht. Was feiern wir sonst?«
»Dass wir leben«, sagte Jenny. »Dass wir uns haben.«