14

Kyrill

Eintausendzweihundertfünfzig Kilometer von Berlin entfernt

E r hatte gelernt, sich so leise zu bewegen, dass der Wind seine Schritte verschluckte. In einem Regensturm wie diesem war das nicht weiter schwierig. Es war ein Kinderspiel.

Umso mehr, als kein Mensch auf ihn achtete.

Sie sahen ihn nicht. Sie drehten sich nicht nach ihm um. Er selbst sah zwar ihre Körper, wie sie zum Wall gruppiert um die offene Grabstelle standen, doch ihre Gesichter konnte er nicht erkennen. Sie waren unter einem Dach aus schwarzen Schirmen verborgen.

Der Stamm der Weißbirke bot ihm kein Versteck, die Zweige mit ihrer lichten Belaubung keinen Schutz vor dem Regen. Aber die Birke war der Baum der Heimat. Was den Russen ihre Vogelbeere und den Deutschen ihre Eiche war, war den Menschen aus Lettland die Birke – ihre Schlankheit, Biegsamkeit, ihr weißes Glänzen, mit dem sie der Legende nach einst die Achse der Welt markiert hatte. Er lehnte sich gegen das nasse Holz, dessen Rinde sie jedes Jahr im Frühling eingeritzt hatten, um aus der Wunde den frischen, sprudelnden Saft zu trinken, der belebend und berauschend wirkte wie Alkohol.

Jungbrunnen, Heilquelle, Krafttrunk des Dievs, des lettischen Gottes des Himmels.

Wie seltsam das war. Von der einen Seite wie von der anderen, der russischen wie der deutschen, waren diese komischen kleinen Mythen, festgehalten in primitiven Volksliedern, die die Letten Dainas nannten, veralbert worden.

Etwas anderes habt ihr nicht zu bieten?

Nennt ihr das euer Nationalepos, diese Sammlung von Quatschliedchen, die ihr nicht mal aufschreiben könnt?

Die Letten waren kein Volk, geschweige denn eine Nation, hatte sein Lehrer am Gymnasium erklärt und diese mündlich überlieferten Liedstrophen zum Beweis herangezogen. »Wer keine eigene Kultur ausbildet, der hat eine Untertanen-, keine Herrschernatur. Und sehen Sie sich doch nur diese traurige Schar von sogenannten Göttern an, meine Herren. Was ist dieser Himmelsgott Dievs denn? Ein Bauer, der seinen Kuhstall ausmistet und sich danach am hausgebrauten Bier besäuft.«

Dass die Letten Bauern zu Göttern ernannten, schien ausreichend Beweis dafür, dass sie Untermenschen waren und natürlich niemals die Geschicke einer Stadt von Rigas Pracht und Größe aus dem Boden hätten stampfen können. Schweden, Polen, Deutsche und Russen hatten die Stadt, die um ihrer Schönheit willen zu einem Dasein als Zankapfel verurteilt war, umkämpft und erobert, besessen und bereichert. Jetzt aber, ganz zuletzt, war sie doch noch in die Hände dieses geduckten, bäuerlichen Volkes gefallen. Und er, der hierher zurückgekommen war, wünschte sich auf einmal nichts so sehr, wie ein Lette zu sein, hierbleiben zu dürfen und im Frühling von dem Saft dieser Birke zu trinken.

Sie sahen ihn nicht. Sie drehten sich nicht nach ihm um. Schwarz trugen sie, wie es bei den Lutheranern üblich war, keine helle Kleidung, wie seine eigene Kirche sie als Zeichen des Lichts vorschrieb.

Seine eigene Kirche .

Er hatte ja gar keine Kirche mehr, war sich nicht einmal sicher, ob er je eine gehabt hatte. Solange er ganz selbstverständlich an all ihren Riten teilgenommen hatte, hatten sie ihm nichts bedeutet, aber jetzt überfiel ihn auf einmal eine wilde, geradezu panische Sehnsucht nach irgendeiner Tradition, zu der er gehörte.

Ganz gleich, zu welcher.

Er hätte zu den Menschen unter den schwarzen Schirmen gehören wollen, die hier, auf dem Großen Friedhof der Livländischen Vorstadt, am geschlossenen Sarg von ihrem Toten Abschied nahmen. Nicht am offenen, wie es bei den Orthodoxen vorgeschrieben war. Aber das war ausgeschlossen. Er gehörte zu ihnen so wenig, wie er zu seinen eigenen Leuten gehört hatte, die nicht mehr seine Leute waren.

Nur zu dir habe ich immer gehört.

Nur zu Riga und dir.

Was der Priester, der bei den Lutheranern nicht Priester hieß, redete, hörte er nicht. Als er mit der Aussegnung fertig war, setzte der Lindwurm aus schwarzen Schirmen sich in Bewegung. Einer nach dem anderen löste sich aus dem Pulk, trat vor das Grab und warf mit der Hand, die nicht den Schirm hielt, ein wenig Sand auf den Sarg im Grab.

Rigaer Sand.

Es überraschte ihn, dass so viele gekommen waren. Von der Familie mit ihren unzähligen Onkeln, Tanten und Cousinen konnte kaum noch jemand übrig sein. Ein so starker Baum mit so vielen verzweigten Ästen – ausgelöscht bis zum letzten Trieb. Nun war auch noch der Stamm gestorben, und eigentlich war daran nichts Trauriges, denn was für einen Sinn hatte ein Leben, wenn einem kein Mensch mehr blieb?

Ihm selbst blieb auch keiner mehr. Wenn es keinen Menschen gab, der von einem wusste, nach einem fragte oder suchte, war es, als wäre man gar nicht mehr da.

Im Grunde hätte es ihn jedoch nicht wundern sollen, dass man den alten Edu, das Urgestein der Bärentötergasse, nicht allein die letzte Ruhe antreten ließ: Die Deutschen von Riga hielten zusammen, sie hatten immer zusammengehalten, und jetzt, wo nur noch eine Handvoll von ihnen nicht in sämtliche Winde verstreut war, würden sie davon nicht abrücken.

Im Gegenteil.

Weinen hörte er niemanden, doch das musste nichts heißen. Die Deutschen von Riga waren seit jeher Meister darin gewesen, den Rücken und die Oberlippe steif zu halten.

Er selbst hätte gern geweint. Der Regen, der ihm in Rinnsalen über das Gesicht lief, rief ihm in Erinnerung, wie erlösend sich Tränen anfühlen konnten. Er hätte gern um den alten Edu geweint und um die Menschen, die Edu geliebt hatte und deren Überreste um ihn verteilt in der Erde lagen.

Konnte man einem Mann etwas Härteres antun, als ihm sein Kind zu rauben?

Er hätte zu ihm laufen, vor dem offenen Sarg auf die Knie fallen und den Toten beschwören wollen: Ich wollte das nicht! Ich werde verrückt an dem Schmerz, den ich verursacht habe, wie Sie an dem, den Sie erlitten haben, und ich habe Ihren kleinen Jungen auch geliebt.

Aber der Sarg war ja nicht offen. Es war kein orthodoxes Begräbnis. Und ob offen oder geschlossen – wenn man vor einem Sarg stand, war es zu spät.

Wäre es nicht zu spät gewesen, hätte er es gewagt, den alten Mann aufzusuchen und mit ihm zu sprechen? War er deshalb gekommen?

Nein, dachte er, denn ich weiß ja, was er gerufen hätte, sobald er mich erkannt hätte:

Da steht der Mörder! Haltet ihn! Bringt ihn um!

Warum war er dann zurückgekommen? Hier gab es doch nichts mehr für ihn, so wenig wie für den alten Mann, der gestorben war.

Der Pulk der Trauernden löste sich auf, teilte sich in Gruppen und Paare, die irgendwohin zum Leichenschmaus fahren würden.

Ins rote Haus?

Stand noch etwas davon, war es wieder aufgebaut worden?

In Riga war man so unendlich stolz darauf, mit Holz zu bauen, mit dem Rohstoff der Rigaer Erde, aber Feuer und Zerfall liebten Rigas Holz mindestens ebenso wie die Bürger der Stadt. Das rote Haus war im Grunde ein klobiger Klotz gewesen, der trotz der hübschen Schnitzereien äußerlich wenig hermachte, aber es bot unglaublich viel Platz. Wie oft hatte sie von den großen Festen – Weihnachten, Ostern, Kindstaufen, Hochzeiten, Leichenbegängnissen – erzählt, wenn alle sechs Onkel mit ihren Familien zu Besuch kamen und alle Räume des Hauses vor Menschen überquollen und vor Leben hallten.

Wohin war das alles verweht?

Er wünschte, er hätte den schwarzen Schirmen, die tröpfelnd den Friedhof verließen, folgen und es herausfinden dürfen.

Aber das durfte er nicht.

Er war der Mörder, der einem Mann sein Kind geraubt hatte, und das Schicksal hatte ihn dafür zu einem Menschen gemacht, der kein Kind hatte, der wie ein Blatt im Wind war und zu niemandem gehörte.

Er war Bolschewik gewesen. Bolschewiken glaubten an kein Schicksal, sondern an die Kraft der Arbeiterklasse, alles zu verändern. Bolschewiken trieben sich auch nicht auf kirchlichen Begräbnissen herum und beklagten, dass sie nicht weinen konnten. Er hatte auch zu den Bolschewiken nie wirklich gehört.

Nur zu ihr.

Nur zu Riga und ihr.

Deshalb war er zurückgekommen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Kyrill fuhr herum und fand sich dem Priester oder Pfarrer gegenüber, einem kleinen, rundgesichtigen Mann im vom Regen durchnässten Talar. Er hatte Lettisch gesprochen. Es verblüffte ihn, dass er ihn auch nach zehn Jahren, in denen er diese Sprache nicht benutzt hatte, noch problemlos verstand. Und dass die stolzen Deutschen von Riga keinen Geistlichen mehr hatten, der ihnen ihre Toten zu Grabe trug.

»Sind Sie ein Verwandter? Ein Freund? Finden Sie die Gaststätte, wo das Begängnis stattfindet, oder soll ich Ihnen den Weg weisen?«

»Nein, vielen Dank«, stammelte Kyrill hastig und suchte die Brocken der vergessenen Sprache zusammen wie die Scherben eines Kleinods. »Ich bin durch Zufall geschäftlich in Riga und dachte, ich erweise ihm die letzte Ehre. Wir hatten uns lange aus den Augen verloren. Ich habe nicht viel Zeit.«

Wann hast du eigentlich gelernt, wie gedruckt zu lügen?, fragte er sich. Als Junge konntest du es nur, wenn es um Liebe ging. Aus Liebe konntest du alles. Lügen, kämpfen, töten.

»Wie bedauerlich, dass Sie ihn nicht mehr lebend angetroffen haben«, sagte der Pfarrer. »Er war sehr allein, es hätte ihm sicher etwas bedeutet. Waren Ihre Familien bekannt, waren Sie ein Freund der Söhne?«

»Ein Freund der Tochter«, entfuhr es Kyrill, ehe er nachdenken konnte.

»Oh weh.« Der Pfarrer verschränkte die Hände, als wolle er für ihn beten. »Eine schlimme Geschichte. Ohne Zweifel schmerzlich für alle, auch wenn mir nichts Genaueres bekannt ist. Ich bin aus Jurmala, erst seit drei Jahren hier an der Gemeinde, ich weiß nur das, was die Leute reden.«

»Man weiß immer nur das, was die Leute reden«, murmelte Kyrill. »Alles andere wird darunter begraben.« Dann hob er den Kopf und sah den Pfarrer an. Er konnte nicht anders: »Wissen Sie, ob sie noch lebt?«

Der kleine Mann schauderte vor Kälte. »Ob die Tochter noch lebt? Ich glaube, niemand ist sich sicher. Ein paar deutsche Gemeindemitglieder in unserem Hauskreis sagen, sie ist irgendwo im Litauischen untergekommen und lebt dort mit dem Kind.«

»Mit dem Kind?« Kyrill glaubte zu spüren, wie der Stamm der Birke sich unter einer Windböe bog und ihm den Halt raubte. »Mit welchem Kind?«

»Oh, das wissen Sie nicht?« Der Pfarrer schlang die Arme um den Leib. »Es heißt unter den Deutschen, der Mörder hätte ihr ein Kind gemacht. Aber Gesichertes weiß ja niemand, und die Leute, die noch hier sind, sind sehr alt. Was sie erzählen, ist wie das Garn, das sie spinnen, um Wirkwaren für unsere Waisen herzustellen. Es wird immer länger. Die einen sagen, sie lebt irgendwo mit dem Kind in Saus und Braus, die anderen sagen, das Kind ist umgekommen oder nie geboren worden, und nicht wenige nehmen an, sie ist an ihrer Schuld zerbrochen und hat sich selbst gerichtet.«

Sich selbst gerichtet? Wie deine Mutter?

Nicht du.

Was immer auch geschehen ist, du hättest es nicht fertiggebracht. Du hast vor Gier auf dein Leben an allen Gliedern gebebt.

Kyrill stand wie erstarrt.

Was der junge Pfarrer ihm gerade offenbart hatte, begriff er auf einen Schlag.

Das Schicksal, an das die Bolschewiken nicht glaubten, hatte ihn noch weit härter bestraft, als er angenommen hatte: Er hatte einem Mann sein Kind geraubt und war zu einem Mann geworden, dem man sein Kind geraubt hatte.

»Ist Ihnen nicht wohl?«, fragte der Pfarrer. »Wollen Sie mit mir in die Küsterei kommen? Ich kann Ihnen ein Glas Wasser geben.«

»Danke, es geht schon«, murmelte Kyrill. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Wenn Sie mich nur noch eine kleine Weile hier allein lassen würden, damit ich meinen Abschied nehmen kann?«

»Sind Sie sich sicher?«

Kyrill nickte.

»Dann alles Gute und Gottes Segen.«

»Ihnen ebenfalls«, antwortete Kyrill, aber in ihm war kein Segen mehr, sondern nur noch Fluch.

Du bist zu weit gegangen, Schenja.

Ich habe mit den Bolschewiken gekämpft, und im Grunde glaube auch ich an kein Schicksal.

Das sogenannte Schicksal ist immer ein Mensch, der sich dazu aufschwingt.

Das Schicksal bist du.