Jenny
V erglichen mit dem, was die Wunderweiber sonst boten, war das Programm ein wenig gepfuscht und zusammengeschustert, doch zu ihrem Glück kam es wie in jedem Jahr hervorragend an. Am Ende musste Jenny, die eine Mischung aus Weihnachtsengel und Springteufel darstellte, hoch oben in ihrem Spanischen Netz ein Dutzend Saltos rückwärts vollführen, ehe die wild applaudierenden Zuschauer ihr endlich gestatteten, an dem unsichtbaren Seil hinunterzugleiten, wobei sie sich wie eine Schlange darum wand.
Kaum landete sie auf ihren Füßen, formte sie aus ihren Armen über dem Kopf ein Herz, hob ein schlankes Bein und verdrehte den Fuß so, dass ihr der als Knecht Ruprecht gewandete Darius ein Glas Champagner auf die Sohle stellen konnte. Der Rest der Wunderweiber gruppierte sich um sie, und gemeinsam nahmen sie die Standing Ovations entgegen.
Sie war noch immer ein Publikumsliebling. Ihr Name war es, den das begeisterte Publikum johlte, und Ludwig Schuch von der Verwaltung, der neuerdings in so gut wie jeder Vorstellung saß, konnte ihn unmöglich überhören.
»Schlangen-Jenny, Schlangen-Jenny, Schlangen-Jenny!«
Neuerdings wurde dieser illustre Name sogar fett und an prominentester Stelle auf die Plakate gedruckt:
Heute Abend exklusiv nur im Wintergarten –
Das Weihnachtsprogramm der Wunderweiber!
Mit ihren Stars: der schnellen Sonia,
Paolo Podiebrad aus Prag und
SCHLANGEN-JENNY!
Sie konnte heilfroh darüber sein. Paolo Podiebrad, der in Wirklichkeit Franz oder Gott-weiß-wie hieß, wurde bereits zum Schnee von gestern, und etliche andere, die noch im Frühjahr mit ihnen aufgetreten waren, hatten für die neue Saison keine Verträge mehr erhalten. Immer schneller wechselten die Programme, wurden Nummern, die nicht sensationell genug schienen, abgesetzt, und Artisten, die Anzeichen von Alter oder Müdigkeit zeigten, gegen neue ausgetauscht. Ensembles wie das ihre, die seit Jahr und Tag ihr Publikum fanden, gab es immer seltener. Stattdessen formierten sich ständig neue, die so schnell, wie sie aufgetaucht waren, auch wieder verschwanden. Berlin war noch immer süchtig nach Vergnügen, es war danach vielleicht süchtiger denn je, doch die Gesellschaftsschicht, die es sich leisten konnte, wurde dünner und war sich ihrer Macht bewusst.
Jenny nannte sie insgeheim die Unersättlichen. Sie betrachteten das Varieté als ihr ureigenes Schlaraffenland, in dem sie sich allabendlich mit nie da gewesenen Delikatessen vollstopften. Was ihnen schmeckte, verschlangen sie bevorzugt gleich mit Haut und Haar, und was ihnen nicht schmeckte, wurde ausgespuckt und durfte nie wieder serviert werden.
Ihr tat der Rücken weh, und ihre Füße musste sie nachts, wenn sie nach Hause kam, in eine Schüssel mit stinkendem Essig stellen, wie ihre Großmutter Trude es getan hatte. Viel jünger fühlte sie sich oft auch nicht, wenn sie sich endlich in ihr Bett fallen ließ, und manchmal fragte sie sich, wie lange sie noch durchhalten würde, und was geschehen sollte, wenn sie es nicht mehr tat.
Aber solche Fragen waren dem bisschen kostbaren Nachtschlaf abträglich, schadeten dem ohnehin strapazierten Teint und verdarben ihr den Abend. Jenny schnappte sich das Champagnerglas von ihrer Fußsohle, leerte es und verbeugte sich. Dann gab sie Direktor Neugebauer mit einem Handzeichen reichlich unwirsch zu verstehen, er möge den Vorhang fallen lassen.
»Ja, meine Damen und Herren, mein hochverehrtestes Publikum!«, rief der unvermeidliche Ernst-Egon, während er im Glanz seines Sternenmantels von der Seite auf die Bühne stiefelte. »Das war es also wieder einmal für heute hier in Ihrem Wintergarten! Wir hoffen, unter unserem Sternenhimmel konnten wir Ihnen heute Nacht Ihre wildesten Träume erfüllen, und wie immer präsentierten wir Ihnen vom Guten nur das Beste!«
Jenny atmete auf. Kaum senkte sich der ebenfalls von Sternen übersäte Vorhang, schwang sie herum und flitzte allen voran von der Bühne.
Gleich dahinter empfing sie Nina mit dem größten Handtuch, das sie bei den Weißen Wochen im Kaufhaus Hermann Tietz hatte ergattern können. Jenny liebte es, sich in das flauschige Material zu hüllen und aus tiefster Brust durchzuatmen. Die Umarmungen von Liebhabern wurden im Grunde überschätzt. Wenn man so erschöpft war wie sie neuerdings nach einer Aufführung, ging nichts über die Umarmung einer Freundin mit einem auf dem Heizrohr angewärmten Handtuch.
»Du warst grandios.«
»Ich weiß. Bin ich doch immer.«
»Aber heute warst du noch grandioser.«
»Das muss an meinem Hexenschuss liegen, der mir bei diesem Hundewetter zusetzt und mich zu den bizarrsten Verrenkungen treibt.«
»Ach, du Aufschneiderin. Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was Hexenschuss ist.«
Kurz lehnten sie sich aneinander und ruhten sich beieinander aus. »Wo ist Sonni?«, fragte Jenny, als sie den Kopf wieder hob. »Gehen wir drei noch auf einen Absacker zu Alfred? Ich glaub, ich brauch heute einen.«
»Heute?«
Sie grinsten sich an.
»Immer«, sagte Jenny. »Aber heute brauche ich zwei.«
»Du brauchst immer zwei«, sagte Nina. »Dem Himmel sei Dank, denn ich brauche mindestens drei. Wirf dich in deinen Fummel, ich warte am Ausgang auf dich. Sonia ist mit Friedhelm schon vorgegangen.«
»Verstehe.« Jenny verzog das Gesicht. »Eigentlich hätte ich es schön gefunden, mir mal wieder ohne Friedhelm mit euch beiden einen hinter die Binde zu gießen.«
»Ich auch«, sagte Nina, und ihre Blicke trafen sich. Mehr Worte brauchten sie nicht zu wechseln, um einander zu verstehen, und es gab ja auch nichts weiter dazu zu sagen. Sie hatten Friedhelm, dem Enten-Mann, nichts vorzuwerfen. Er war der freundlichste, leiseste, unaufdringlichste Mensch, den man sich denken konnte, er war als Künstler einzigartig, ein Poet, der ohne Worte dichtete, und er war der Mann, den ihre verschlossene, einsame Freundin Sonia liebte.
Sie liebte ihn wirklich, auch wenn sie nicht zu den Frauen gehörte, die sich mit ihren Freundinnen darüber in sämtlichen Einzelheiten austauschte. Während sie mit dem armen Franz Podiebrad immer wie eine fürsorgliche Mutter gewirkt hatte, die ihrem Jungen einen Halswickel anlegte, wirkte sie mit Friedhelm Lehwald wie eine schöne, von der Liebe berauschte junge Frau.
Ihr störrisches rotes Haar glänzte neuerdings wie Seide, ihr Gang hatte auf einmal etwas Tänzerisches, und die weißen, altmodischen Kleider, die sie immer trug, brachten ihre seegrünen Augen zum Leuchten. Sie war wie eine Auster, die ihre eigene Perle entdeckt hatte, und nun, wo sie für alle Augen sichtbar war, fragte sich Jenny, wie sie so lange hatte verborgen bleiben können.
Friedhelm war nicht zu ihr in die Kellerwohnung gezogen, weil dort noch immer Podie wohnte, den keiner von beiden seines Zuhauses berauben wollte. Aber wann immer sie sich trafen, waren sie unzertrennlich, eine stille Einheit, die kein Aufhebens machte, sich nicht in Liebesbezeugungen erging, sondern einfach für jeden unverkennbar zusammengehörte.
Es war schön, es mit anzusehen.
Weder Nina noch Jenny konnten bestreiten, dass die genügsame Sonia, die für sich selbst nie viel forderte, so glücklich war, wie niemand sie zuvor erlebt hatte.
Friedhelm Lehwald tat ihr gut, er holte sie aus ihrem Schneckenhaus und brachte sie zum Lachen, zum Singen und zum Tanzen. Jenny ertappte sich immer wieder dabei, dass sie den Mann gern mögen wollte, und sie wusste, dass es Nina genauso ging.
Trotz allem aber trauten sie ihm nicht über den Weg, und das hatte womöglich nur einen einzigen Grund: Er war damals dabei gewesen. Er war in der Lage, sich lautlos zu bewegen, und hatte nie bis zur letzten Zufriedenheit erklären können, warum er überhaupt samt seiner Ente in ihrem Leben aufgetaucht war. Der Verdacht war so ungeheuerlich, dass keine der Freundinnen ihn jemals ausgesprochen hätte, doch sie wussten beide, dass sie ihn tief in ihrem Innersten hegten.
Sooft die anderen – allen voran Anton – wiederholt hatten, dass die Strebe des Gerüsts, auf der Nina gestanden hatte, abgenutzt und rutschig gewesen sein musste, dass sie aufgrund ihres Gewichts das Gleichgewicht verloren hatte und der Tod des kleinen Johnny nichts anderes war als ein tragisches Unglück, hatten Nina und Jenny ihnen zugestimmt. Nur sie beide wussten, dass sie an das sogenannte Unglück nicht glauben konnten. Dies hier war kein Wanderzirkus. Es war der Wintergarten, Deutschlands renommiertestes Varieté in Berlins vornehmstem Hotel. Das Gerüst wie die gesamte Bühnenanlage wurde ständig von erfahrenen Technikern überprüft, und noch am Abend zuvor hatte es vier Beleuchter getragen, ohne auch nur in einer einzigen Niete zu ächzen.
Nina war lediglich ein einziges Mal in der Lage gewesen, Anton und Jenny stammelnd und stockend zu schildern, was sie von dem sogenannten Unfall in Erinnerung hatte. Auch wenn sie nicht mehr als Fetzen wiedergeben konnte, war sie sich eines Umstands sicher gewesen: Sie war nicht auf einer schadhaften Strebe ausgeglitten. Das Gerüst war ihr unter den Füßen weggestoßen worden.
»Aber das kann doch gar nicht sein, Liebste«, hatte Anton sie beschworen, als sie versucht hatte, mit ihm darüber zu sprechen. »Du warst allein im Raum, du hast alles verriegelt, und das gesamte Personal vom Wintergarten liebt dich. Wer um alles in der Welt sollte dir so etwas antun wollen?«
Jenny sah, wie Nina sich innerlich krümmte, wenn er so mit ihr sprach. Er war ihr aufregender Geliebter gewesen, vielleicht der sinnlichste Mann der deutschen Theaterwelt, und wie sehr die beiden einander begehrt hatten, hatte man ihnen fünf Meilen gegen den Wind angemerkt. »Habt ihr kein Bett zu Hause?«, war noch der harmloseste Spruch, mit dem Kollegen sie bedacht hatten, wenn sie ineinander versunken und meilenweit vom Rest der Welt entfernt von einer Tanzfläche getaumelt kamen.
Jetzt hingegen sprach er mit ihr, als wäre er ihr Großvater oder ihr Arzt. Besorgt. Liebevoll. Frei von jeder Erotik.
Er tat Jenny von Herzen leid. Er tat sein Bestes, aber er machte nichts besser. In den Tagen nach dem Unfall hatte er wie ein Löwe darum gekämpft, seinem Kind ein ordentliches Begräbnis ausrichten zu dürfen, auch wenn es den Behörden zufolge nie gelebt hatte und daher auch nicht gestorben war. Ein Kind, das sein Leben verlor, ehe die Welt es zu Gesicht bekam, war in den Spalten der amtlichen Register ein Nichts, und Anton rang mit Klauen und Zähnen darum, dass sein kleiner Sohn kein Nichts war. Nachdem er diesen Kampf jedoch gewonnen hatte, war er umgeschwenkt und setzte seither für Nina die Maske des freundlichen Krankenpflegers auf. Seinen eigenen Kummer vergrub er in sich, um ihr in ihrem beizustehen. Für Nina aber wäre es womöglich besser gewesen, wenn er wie an jenem Abend auf der Bühne geheult, geschrien und mit ihr zusammen gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals gewütet hätte.
Vielleicht hätte Nina sich dann auch überzeugen lassen, dass tatsächlich nur ein grausamer Zufall und nicht etwa ein grausamer Verbrecher am Werk gewesen war. Und Jenny mit ihr. Es konnte doch nicht sein, dass sie recht hatte und ihr wirklich jemand etwas derart Entsetzliches hätte antun wollen?
In jener Nacht hatte Jenny sich von ihrer bewusstlosen Freundin losreißen müssen, war hinüber zum Café Bauer gerannt und hatte Viktor und dem Enten-Mann zugeschrien, sie sollten so schnell wie nur irgend möglich einen Krankenkraftwagen besorgen. Jennys patentem Sohn, der einfach zum Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus gerannt war und dort Alarm geschlagen hatte, verdankte es Nina, dass sie nicht innerlich verblutet war.
Auch der doppelte Armbruch hatte sich richten lassen und war wieder zusammengewachsen. »Sie sind ja noch jung«, hatte der behandelnde Arzt gesagt. »Da steckt der Körper das weg.«
Lediglich Ninas ebenfalls noch junge Fortpflanzungsorgane steckten die viel zu frühe Sturzgeburt durch das Platzen der Fruchtblase nicht weg. Eine Gebärmutter mit einem Riss war kein Automobil, das sich mit der neuesten Technik reparieren ließ. »Aber damit können Sie leben«, hatte der Arzt ihr jovial versichert, als hätte er Erfahrung damit. »Und für eine Frau gibt es ja zahlreiche Gelegenheiten, am Leben von Kindern Anteil zu nehmen, auch wenn sie selbst nicht Mutter werden kann. Ich beispielsweise hatte eine Tante …«
»Ich auch«, hatte Nina ihn unterbrochen und war gegangen.
»Kannst du gefälligst Viktor sagen, er soll mich künftig Tante Nina nennen?«, hatte sie mit beißendem Sarkasmus zu Jenny gesagt. »Dann kann er später auch den Leuten erzählen, dass er beispielsweise eine Tante hatte.«
Der kleine Johnny würde nie jemandem erzählen, dass er eine Tante hatte. Seine Tanten wären Jenny und Sonia gewesen, aber der kleine Johnny war tot. Wenn es zutraf, dass jemand das Gerüst mit Nina darauf umgestoßen hatte, dann war derjenige ein Mörder.
»Das ist doch nicht möglich, Jenny«, hatte Anton zu ihr gesagt. »Du musst ihr das ausreden, sie darf zu allem Überfluss nicht auch noch glauben, dass jemand fähig ist, ihr so etwas anzutun.«
Jenny versuchte, es ihr auszureden. Dabei hinderlich war nur, dass sie es sich zugleich selbst ausreden musste und dass sie darin nicht gut war. Sie hatte sich das Gerüst angesehen, ehe es abgebaut und durch ein neues ersetzt worden war. Es war weder alt noch baufällig gewesen, hatte nirgendwo Roststellen aufgewiesen, und Fritz Giese, der altgediente Bühnenmeister, hatte verzweifelt versichert, es sei regelmäßig gewartet worden und ganz bestimmt nicht schadhaft gewesen.
Irgendetwas war nicht mit rechten Dingen zugegangen, und solange sich nicht herausfinden ließ, was das war, würde sie sich in Friedhelm Lehwalds Gegenwart unbehaglich fühlen, so unfair das wahrscheinlich auch war.
So oder so war der Mann nun einmal nicht abzuschütteln und würde heute Nacht mit ihnen im Salamander sitzen. Immer noch besser ein night cap in seiner Gesellschaft als gar keiner, entschied Jenny, küsste Nina auf den Kopf und lief los, um sich umzuziehen. Keine fünf Minuten später machten sie sich untergehakt auf den Weg ins Salamander. Die Nacht war verhangen und sternenlos, doch im überfrorenen Schneematsch auf dem Pflaster spiegelte sich das Glitzern der Leuchtreklamen. Vor der Tür stand Fridolin und verabschiedete die letzten Zuschauer. Seine unerschütterliche Heiterkeit hatte er verloren wie sein Geld und sein Zuhause, doch noch immer machte er in Frack und Zylinder eine fabelhafte Figur und verbeugte sich vor jedem einzelnen Gast mit vollendeter Höflichkeit.
»Es war uns eine Ehre, mein Herr, gnädige Dame. Wir hoffen, Sie beehren uns bald wieder. Ab nächsten Freitag bekommen Sie dann exklusiv nur hier bei uns die Kuban-Kosaken zu sehen und dazu die formidable Claire Waldoff mit einer Auswahl brandneuer Chansons.«
»Und die Wunderweiber? Die Schlangen-Jenny?«
»Selbstredend, meine Gnädigste, selbstredend. Einzig und allein hier bei uns, und wie immer vom Guten nur das Beste.«
Die Leute stiegen in eine wartende Limousine. Nina und Jenny blieben bei Fridolin stehen und schlangen jede einen Arm um ihn.
»Geh heim, Frido«, sagte Nina. »Du bist seit vier Uhr morgens auf den Beinen.«
Zusätzlich zu seinem Posten im Wintergarten fuhr Fridolin, der im Sommer sechzig geworden war, auf einem uralten Fahrrad Schrippen aus. Er tat alles, nutzte jede Möglichkeit, ein wenig zusätzliches Geld aufzutreiben, um irgendwie die Summe zurückzuzahlen, die er sich geliehen und im Börsenkrach verloren hatte. Bei Hiero und Christa, die etwas glimpflicher davongekommen waren, schlief er auf dem Sofa in der Küche, während sie das zusätzliche Bett an einen Schlafgänger vermieteten. So viele Menschen hatten die bürgerliche Existenz, die sie sich aufgebaut und für sicher gehalten hatten, verloren, und etliche von ihnen trieb ihre Not in die Arme der Nazis.
Aber nicht Fridolin, Hiero und Christa!
Sie waren verarmt, sie hatten zu kämpfen, aber sie hatten immer noch ihre Freunde, die ihnen aushalfen, wie sie selbst vor Jahren jedem, der es brauchte, ausgeholfen hatten. Jenny ließ einen Schein in die Tasche von Fridolins Frack gleiten und sah, dass Nina es auf der anderen Seite ebenso tat. Fridolin würde schimpfen, wenn er ihnen das nächste Mal begegnete, aber er würde in den paar Stunden der Nacht ein wenig ruhiger schlafen, und Nina und Jenny würden so tun, als wüssten sie von nichts.
Es war alles zu ertragen, solange man Freunde hatte, dachte Jenny. Nur wenn man allein war, wurden Sorgen und Angst so groß wie Gebirge und man selbst so klein, als würde man von ihnen erdrückt.
Sie gingen weiter. Als sie die Tür des Salamander öffneten und in die vertraute abgestandene Luft und die funzelige Beleuchtung traten, atmete Jenny erleichtert auf. Eckkneipen wie diese, auch Budiken genannt, gab es unzählige in Berlin, aber das Salamander zu betreten, war wie nach Hause kommen. In ihrer Anfangszeit war die dünne Kartoffelsuppe, die der Wirt Alfred auf seinem Feldkocher zusammenpanschte, oft die einzige Mahlzeit gewesen, die sie am Tag zu sich genommen hatten. Jenny hatte auf dem Tresen ihre Schlangentänze aufgeführt, um die Rechnung zu bezahlen, Sonia hatte auf Bierfilzen Gäste porträtiert, und Nina hatte sie beide engagiert, noch ehe sie wusste, wofür.
Alfred war hinter dem Tresen damit beschäftigt, Biergläser an die Haken über seinem Kopf zu hängen, und etliche Stammgäste winkten ihnen zu. Brotlose Künstler, wie sie selbst es gewesen waren, manche begabt, andere findig, alle vereint in der Hoffnung, im Hexenkessel Berlin ihren Weg zu machen, wie auch immer der aussehen mochte. Die Stimmung war nicht mehr so ausgelassen wie noch vor einem Jahr, als sie in der Illusion geschwelgt hatten, der Aufschwung wäre nicht zu bremsen, und die gute Zeit hielte für immer an. Aber auch hier, im Salamander, war niemand allein. Alfred ließ die, die nicht einmal eine Hand im Mund hatten, um davon zu leben, anschreiben, und wer immer ein paar Mark in der Tasche hatte, gab seinen weniger glücklichen Gefährten Bockwürste aus.
Dass Nina, Jenny und Sonia, die berühmten Wintergarten- Frauen, noch immer hierherkamen, um ihre Abende zu beschließen, rechneten die übrigen Gäste ihnen hoch an. Applaus und fröhliche Rufe begrüßten sie.
»Schönen Abend, alle miteinander.«
Das Geld für die Lokalrunde, die sie grundsätzlich schmissen, legte Jenny Alfred auf den Tresen, und unter allgemeinem Gejohle verzogen sie sich in die Ecke, in der Sonia mit Friedhelm wartete. Sie saßen nebeneinander, und in der wie absichtslosen Berührung ihrer Arme lag eine solche Verbundenheit, dass Jenny flüchtig von einer Sehnsucht erfasst wurde, die sie abwürgen musste. Auf einem dritten Stuhl stand der Korb für die Ente, die darin offenbar schlief, und zwei weitere standen für Jenny und Nina bereit. Ihren Vermouth trug ihnen Alfred mit schlurfenden Schritten an den Tisch, ohne auf eine Bestellung zu warten.
»Herr Aschinger hat heute vor der Vorstellung mit Friedhelm geredet«, sagte Sonia, die nie Umschweife machte. »Er hat gesagt, er und Pandora müssen gehen, er bezahlt sie nicht länger.«
»Aber Friedhelm und Pandora sind doch Teil von unserem Ensemble!«, platzte Jenny heraus. »Er bezahlt die Wunderweiber als Ganzes, und Nina gibt das Geld an uns weiter. Aschinger hat kein Recht, zu entscheiden, wer zu unserem Ensemble gehört und wer nicht.«
»Ich habe mir so etwas schon gedacht«, sagte Nina. »Deshalb sitzt Direktor Schuch jeden Abend im Publikum und studiert mit Argusaugen, wer welche Wirkung erzielt. Die Zeiten, in denen Aschinger mir freie Hand gelassen hat, sind vorbei. Der Konkurrenzkampf wird gnadenloser, und künftig wird er sehr wohl versuchen, mir vorzuschreiben, wen ich engagieren kann und wen nicht.«
»Pandora und ich möchten niemandem schaden«, sagte Friedhelm auf seine übliche stille Art. »Dass eine kleine Ente mit ihrem Tanz nur die Liebhaber der leisen Töne zu berühren vermag, ist ja nicht weiter verwunderlich, und die Jahre der leisen Töne scheinen vorerst vorbei. Es war reizend von Ihnen, Nina, uns aufzunehmen, und wenn es sich jetzt nicht länger rentiert, ist das Ihnen nicht anzulasten. Wir kommen anderswo unter, das habe ich Sonia auch gesagt. Es wird weniger Geld und viel weniger Erfüllung geben, aber wir werden nicht hungern.«
»Das kommt nicht infrage«, sagte Nina. »Aschinger kann mein komplettes Ensemble haben oder keinen von uns.«
»Aber wie willst du das denn machen?«, rief Jenny erschrocken. »Wir sind ja so leicht nicht zu verpflanzen, brauchen die große Bühne und den ganzen Schnickschnack. Wenn uns die Scala nicht nimmt, die kein Ensemble so lange im Programm behält – wo sollen wir dann hin?«
»Eben das meine ich«, sagte Friedhelm. »Ich möchte Ihnen allen keine Probleme verursachen, nachdem Sie mir so viel Glück geschenkt haben. Wie schon gesagt, Pandora und ich werden gewiss künftig nicht auf der Straße sitzen …«
»Hängen lassen wir dich nicht«, unterbrach ihn Jenny. »Und das alberne Siezen kannst du dir jetzt langsam mal schenken. Wir müssen uns eben etwas überlegen.« Sie wandte sich Nina zu. »Warum bieten wir Aschinger nicht an, Friedhelms Gage selbst zu bezahlen?«, fragte sie. »Wenn wir alle von unserem Geld ein paar Groschen in einen Topf schmeißen, dürfte das ja so schwierig nicht sein. Und die Enten-Nummer behalten will er sicher gerne, solange sie ihn nichts kostet. Sie füllt ihm zwar nicht den Saal, aber die Kritiker sind reihenweise hingerissen.«
»Das könnte ich nicht von Ihnen annehmen, Jenny«, begann Friedhelm, doch diesmal war es Nina, die ihm das Wort abschnitt.
»Darum geht es nicht«, sagte sie. »Ein paar Bockwürste und Kleingeld für dich in einen Eimer zu werfen, wäre kein Problem, aber ich kann mir nicht von Aschinger vorschreiben lassen, wie ich mein Ensemble zusammensetze. Ansonsten bin ich als eure Agentin erledigt. Und wer weiß, was er als Nächstes von mir verlangt?«
»Mich auszusondern«, sagte Sonia. In ihr schmales Gesicht stand eine Furcht geschrieben, die über die Sorge um Geld weit hinausging. »Juden sind ihm ein Gräuel, und Bilder wie meine findet Hitler entartet.«
»Hitler regiert uns aber nicht«, schnauzte Jenny sie an. Seit dem verheerenden Wahlausgang verfiel Sonia immer häufiger in eine Panik, die Jenny nur zu gut verstand. Gerade deshalb aber durfte sie ihr nicht erlauben, sich diesen Gefühlen hinzugeben, weil sie sie andernfalls überrollten. Ja, das Wahlergebnis der Nazis war beschämend und beängstigend, ja, es musste schleunigst etwas dagegen getan werden, und ja, guter Rat war mehr als teuer. Nach der Eröffnung des Reichstags waren am Kaufhaus Wertheim, das ganz Berlin liebte, die Scheiben eingeworfen worden, und im Scheunenviertel hatten Schlägertrupps der SA auf offener Straße jüdische Männer verprügelt.
Aber die deutsche Republik war noch immer ein Rechtsstaat, und an der Minderheitsregierung unter Brüning vom Zentrum waren die Nazis nicht beteiligt. Lange würde diese sich ohnehin nicht halten, und die nächsten Wahlen mussten einfach anders ausgehen.
Sie mussten daran glauben. Der Demokratie vertrauen. Jenny fand das verteufelt schwierig, denn wie konnte man auf etwas vertrauen, das von Menschen gemacht war? Aber sowohl ihr selbst als auch Sonia würde nichts anderes helfen, als sich ständig zu sagen: Wir haben 1930 . Nicht 1919 . Wir haben zehn Jahre lang in einer Gesellschaft gelebt, die sich zum Guten verändert hat, und in einem Staat, auf den wir uns trotz aller Krisen und Schwierigkeiten verlassen konnten.
Friedhelms Hand legte sich auf die von Sonia. Gut, dass er da war, dachte Jenny. Was immer mit ihm nicht ganz koscher war, er ließ Sonia nicht allein.
Die starrte noch immer mit Panik in den Augen ins Leere. »Aschinger teilt Hitlers Ansichten, ob der uns regiert oder nicht«, sagte sie. »Wenn ich irgendwann die Kasse nicht mehr zum Klingeln bringe, weist er Nina an, mich in die Wüste zu schicken. Und Bockwürste kann ich nicht essen. Genauso wenig wie Friedhelm.«
»Ich schicke gar keinen von euch in die Wüste«, sagte Nina. »Keinen Einzigen, nicht mal Jettchen, die bei der Anprobe die Stecknadeln hält. Und ich führe mit Aschinger darüber auch keine Diskussionen. Vergesst das, hört ihr? Bestellt euch auf meine Rechnung noch was zu trinken und dann geht nach Hause und schlaft euch aus, damit ihr mir morgen bei der Probe nicht schlappmacht. Ihr seid Künstler. Das Geschäftliche ist nicht eure Angelegenheit, das könnt ihr getrost mir überlassen. Wozu bekomme ich schließlich zehn Prozent von eurer Gage?«
»Ich hatte gehofft, dass du so entscheiden würdest«, sagte Sonia. »Ich habe zu Friedhelm gesagt, wenn jemand zu uns hält, dann ist es Nina, weil sie von ihren Wunderweibern keines im Stich lässt.«
»Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass ich gewisse Schwierigkeiten habe, mich als Wunderweib zu betrachten«, behauptete Friedhelm, doch die Stimmung hellte der kleine Scherz nicht auf. Sie schien Jenny dunkel, schwer und belastet, von viel mehr als Aschingers Forderung, die Nina ihm mit ihrem Verhandlungsgeschick und ihren Trümpfen im Ärmel vermutlich noch einmal würde ausreden können.
Aschinger in seiner Geldgier war schließlich erpressbar. Keine Ente, keine Jenny, lautete die Formel, aber wie lange würde das noch ziehen?
»Ich habe Rückenschmerzen«, platzte sie heraus. »Nicht nur die normalen, die eben vorkommen, wenn mir eine Verrenkung missglückt ist oder ich zu lange trainiert habe, sondern dauerhafte, schon seit geraumer Zeit. Es kann sein, dass ich das demnächst mal von einem Arzt in Ordnung bringen lassen muss und dann für eine ganze Weile ausfalle. Wie euch ja bekannt ist, bin ich ein Kaktus mit Ableger. Und wie euch auch bekannt ist, bin ich allergisch gegen Geld und muss es zum Fenster rausschmeißen, sobald es mir in die Hände fällt. Rücklagen gibt’s bei mir nicht, höchstens ausgemusterte Unterhosen, die ich als Souvenir verscherbeln könnte. Ich wüsste gern, wo der Kleining und ich stehen, wenn ich eine Zeit lang nicht über euren Köpfen von der Decke hängen kann.«
Sie hatte nicht geglaubt, dass sie in der Lage sein würde, es auszusprechen. Alles hatte sie nicht gesagt und würde es auch nicht tun, ehe es unvermeidlich wurde, aber das wenige war explosiv genug. Erst jetzt, wo es offen auf dem Tisch lag, spürte sie, wie bleiern das Gewicht der Worte auf ihr gelastet hatte. Als erhole sich ihr verspannter Rücken bereits bei dem Gedanken, dass sie nicht länger allein damit war.
Nicht länger allein.
Eine Zauberformel, die besser wirkte als das angebliche Wundermittel Togal, das bei ihren Schmerzen versagte.
»Dass du das fragen musst, tut mir weh«, sagte Sonia. »Ich hätte mir gewünscht, dass du weißt: Wenn es um dich und Viktor geht, gibt gern jede von uns die Hälfte ihrer Gage oder mehr.«
»Na prima«, brummte Jenny verlegen. »Ich denke, dann setze ich mich zur Ruhe und lebe von dem Batzen, den ihr mir in den Rachen schmeißt, in Saus und Braus.«
»Du hast recht«, übernahm Nina das Wort. »Saus und Braus klingen immer gut, aber du brauchst etwas Verlässliches. Ihr alle. Eine Art Versicherung, für die ich einen Fonds bilden muss. Ich überlege mir etwas und nehme es dann in eure Verträge auf. Wer mit den Wunderfrauen auftritt, soll sich nicht mit Sorgen abschleppen, sondern schweben.«
»Tanzen mit Sorgen«, murmelte Sonia. »Tanzen mit Rückenschmerzen. Arme Jenny.«
»Ich tanze ja gar nicht«, sagte Jenny. »Ich verbiege mich. Dass das Tanzen ist, glaubt ihr nur, weil ihr nicht wisst, wie richtiges Tanzen aussieht.«
»Ich glaube, ich weiß es schon«, sagte Sonia, zog sich einen Bierfilz heran und beugte sich vor, um Jenny aus nächster Nähe zu betrachten. Sie tat das schon immer, wenn sie vorhatte, etwas zu zeichnen, ging so nahe wie möglich an ihr Subjekt heran. Neu war nur, dass Friedhelm eilig Gläser aus dem Weg schob, damit sie Jenny ungehindert sehen konnte. Jenny war von jeher gleichermaßen fasziniert und verunsichert von diesen durchdringenden Blicken. Was sah Sonia, das andere nicht sahen? Die Künstlerin war seit bald zehn Jahren ihre Freundin und blieb dennoch ein wandelndes Geheimnis.
Hinter dem Ohr, unter ihren dichten, roten Locken zog sie ihren Bleistift hervor und bedeckte den Bierfilz mit raschen Strichen. Als sie den Filz schließlich zu ihnen herüberschob, zierte ihn eine Tänzerin, die auf der Spitze, in Retiré-Pose und vom Standbein weg, eine Pirouette drehte. Das nur angedeutete Gesicht wies eindeutig Jennys Züge auf. Dass die Figur jedoch auch Jennys Haltung hatte, eine Haltung, an die sich ihr Körper noch immer erinnerte, auch wenn er sie nicht mehr einnehmen konnte, sandte ihr einen Schauer über den schmerzenden Rücken.
»Du bist ein Genie, Sonni«, sagte Nina. »Aber das weißt du ja selbst.«
»Ach nein«, sagte Sonia und fuhr fort, als hätte sie die Frage, die Jenny nicht zu stellen wagte, dennoch gehört. »Ich war nur als Kind ein paar Mal in der damals noch neuen Lemberger Oper. Das Ballett hat mir gefallen. Vor allem das Kinder-Ensemble von der Waganowa-Ballettakademie, das für ein Gastspiel mit Tschaikowskis Nussknacker kam.«
Jennys Herz begann zu hämmern. Für gewöhnlich schwieg Sonia über Lemberg, wo sie zur Welt gekommen war, ebenso eisern wie sie selbst über Riga. Dieses Meer des Schweigens, über das sie im selben Boot trieben, gehörte zu den Dingen, die sie wie unsichtbare Seile verbanden.
Ihre Blicke trafen sich. In Sonias hellen Augen fand Jenny, was sie befürchtet hatte: Erkennen. Europa war groß, doch seine Wege waren verschlungen, und Jennys Großmutter hatte mit den Füßen im Essig vor sich hingemurmelt: »Man begegnet sich immer zweimal im Leben.« Jenny wurde kalt. Sonia würde das gemeinsame Schweigen nicht verletzen, doch ein anderer mochte es tun. Wir tanzen alle am Abgrund, dachte sie, und so viele Versicherungen, wie wir brauchen, wenn wir stürzen, kann uns nicht einmal die unbezahlbare Nina schaffen.
»Noch einen Vermouth, Alfred«, rief sie quer durch den Raum. »Aber einen kleinen.«
Irgendwer lachte.
Gegen die Angst vor der Nacht half nichts besser, als noch eine Weile weiterzutrinken und nicht allein zu sein.