Jenny
D ie Marinelli-Beuge gehörte zu den Figuren, die Jenny schon seit mehr als einem Jahrzehnt regelmäßig ausführte. Dabei stützte sie ihr gesamtes Körpergewicht auf die Mundhalterung an einer aufrecht stehenden Stange und bog die Beine über ihren Kopf so weit zurück, dass ihre Füße beinahe den Boden berührten. Die Figur war kompliziert und erforderte jede Menge Übung, doch für Jenny gehörte sie zum Repertoire.
Nina hatte sie für die Herbstsaison wiederum in das Vorprogramm mit der Ente Pandora eingebaut. Die Stange, auf der Jenny mit dem Mund balancierte, wuchs zur Musik des »Valse triste« und zum Quaken des Federviehs aus der überdimensionalen Spieldose, und sobald sie hoch genug schwebte, begann sie, sich hintüberzubiegen. Etwa drei Minuten lang vermochte sie in dieser Stellung zu verharren, und die Enten-Nummer war sogar etwas kürzer. Es war anstrengend. Aber solange sie sich darauf konzentrierte, die Spannung ihres Körpers zu halten, und nicht ins Publikum blickte, war es keine Hexerei. Dafür, dass ihr auf einmal vor der lange zu haltenden Figur graute und sie sich wünschte, sie hätte sich an diesem einen Abend drücken können, gab es keinen Grund.
An diesem Freitag wurde das neue Programm bereits zum zwölften Mal aufgeführt und war mehr oder minder schon Routine geworden. Tagsüber war es Jenny jedoch nicht gut gegangen. In der Nacht hatten Gliederschmerzen ihr den Schlaf geraubt, und am Morgen hatte sie sich wie gerädert aus dem Bett gequält. »Ich glaube, ich habe mir irgendetwas eingefangen«, sagte sie zu Darius. »Vermutlich von dem Menschen in der Straßenbahn, der unbedingt ein Autogramm haben wollte und mir dabei mitten ins Gesicht geniest hat.«
»Seit wann fährst du mit der Straßenbahn?«, fragte Darius und musterte sie mit jenem skeptischen Blick, unter dem sie zu schrumpfen schien.
»Es war keine Taxe zu bekommen«, erklärte sie lahm. Nicht einmal der Kaffee schmeckte. Sie kippte ihn samt Brandy in die Spüle.
»Vielleicht wird es ja doch Zeit, dass du Autofahren lernst«, schlug Darius vor.
»Eher gehe ich zu Fuß«, erklärte Jenny. »Lern lieber du es. Dann kaufe ich dir ein Auto, und du kutschierst mich als mein Privatchauffeur durch die Stadt.«
In Wirklichkeit hätte sie gerade jetzt Mühe gehabt, das Geld für ein Auto zusammenzukratzen. Natürlich würden die Händler ihr, ohne lange zu fackeln, Kredit einräumen. Was für andere ihr guter Name war, war für Jenny ihr stadtbekanntes Gesicht, und für gewöhnlich hätte sie dabei keine Skrupel gehabt. In Lokalen ließ sie anschreiben, solange sie denken konnte, vergaß meistens, die Rechnung irgendwann zu begleichen, und niemand nahm es ihr krumm.
Aber die Zeiten hatten sich geändert.
Langsam. Schleichend. Zuerst hatten die Banken Pleite gemacht, dann die Geschäfte, die bei ihnen Konten unterhielten. Die wie Pilze aus dem Boden gewachsenen Bühnen, auf denen Jenny ihre Matinee-Vorstellungen gab, hatten eine nach der anderen aufgeben oder auf billigere Nummern umsteigen müssen. An Einkommen blieb ihr ihre Gage aus dem Wintergarten, die ihnen allen dreien auch weiterhin ein luxuriöses Leben finanzierte. Trotzdem kam es Jenny vor, als fingen die Stützpfeiler ihrer Welt an, wegzubrechen.
Der Erste war Ypsilantis. Der Immerwährende. Er währte auch jetzt noch, thronte auf der Ofenbank und blickte mit Todesverachtung auf seine Untertanen herab. Darius zufolge war er jedoch bereits sechzehn Jahre alt, stocktaub und nicht mehr in der Lage, aufzutreten.
»Er hat mit mir den gesamten Weg von Istanbul bis hierher durchgestanden«, hatte Darius erklärt. »Damals hieß es noch Konstantinopel, so ein Methusalem ist dieser Kater. Er hat Reiche zu Staub zerfallen sehen. Wenn jemand sich seinen Ruhestand verdient hat, dann er.«
Ohne Löwen kein Löwenbändiger.
Darius hatte weiterhin ab und an Auftritte als Diseur, doch er zog sich mehr und mehr ins häusliche Leben zurück und trug immer weniger zum Einkommen der Familie bei. Jenny gönnte es ihm. Er stand ihrem Haushalt vor und sorgte dafür, dass sie und ihr Sohn ein Heim hatten, dass die Speisekammer mit Brot und Butter, Brandy und Kaffee gefüllt war, die Handtücher duftig und die Betten frisch bezogen waren. Es war nur recht und billig, dass sie ihn unterhielt. Sie hatte lediglich Angst, dass sie es sich irgendwann nicht mehr würde leisten können.
Viktor war immer ein bescheidenes Kind gewesen, hatte sich, ohne zu klagen, mit wässrigem Haferbrei ernähren lassen und war später, als Geld im Überfluss im Haus war, weiterhin zur Bezirksbücherei getrabt, um sich seine drei wöchentlich erlaubten Bücher auszuleihen. Von Darius hatte er die Vorliebe für exzentrische, elegante Kleidung übernommen, aber beide stöberten gerne bei Altkleiderhändlern und arbeiteten ihre Fundstücke eigenhändig auf. In diesem Sommer hatte sich Viktor allerdings noch einmal gestreckt, war größer und schlaksiger geworden, und seinem markanten Gesicht war anzusehen, dass das Ende seiner Kindheit nicht mehr weit war. Zu Beginn des neuen Schuljahrs hatte der Direktor Jenny einbestellt, um ihr mitzuteilen, dass ihr Sohn zu den Besten der Klasse gehörte.
»Wir legen Ihnen nahe, Ihrem Sohn das Abitur und anschließend den Besuch der Universität zu ermöglichen«, hatte eine Frau mit Dutt, die dem Direktor offenbar als eine Art Sprachrohr diente, mitgeteilt. »Uns ist bekannt, dass auf eine akademische Ausbildung in Ihren Kreisen wenig Wert gelegt wird. Im Fall Ihres Sohnes wäre es jedoch eine himmelschreiende Verschwendung, wenn er darauf verzichten müsste.«
Wie schön, dass du über meine Kreise so gut Bescheid weißt, hatte Jenny gedacht. Wenn es dich auch nur im Mindesten etwas anginge, würde ich dich wissen lassen, dass mein Sohn auf nichts, aber auch auf gar nichts, was er zu seinem Glück braucht, verzichten muss. Wenn er einen lebenden Elefanten will, dann bekommt er den, und wenn er Reichskanzler werden oder zum Mond fliegen will, dann sorgen meine sogenannten Kreise und ich dafür, dass er es kann.
Sie war dazu felsenfest entschlossen, hatte es immer so gehalten und würde es auch in Zukunft tun. Die alberne kleine Verkühlung, die sie sich eingefangen hatte, würde sie daran nicht hindern, und die Wirtschaftskrise, die immer weiter um sich griff, würde irgendwann vorbeigehen.
Der Krieg war ebenfalls vorbeigegangen, auch wenn Jenny damals geglaubt hatte, eher ginge ihr eigenes kleines Leben vorbei.
Die Inflationszeit, in der sie sich die Geldscheinbündel ihres kümmerlichen Lohns aus dem Salamander mit dem Leiterwagen abgeholt und dafür gerade einmal einen Laib Brot und ein bisschen Fett hatten kaufen können, war vorbeigegangen. Und auch das Riesenheer der sechs Millionen Arbeitslosen würde nicht endlos weiterwachsen, sondern irgendwann wieder schrumpfen.
Jenny schob sich eine Handvoll von ihren Pillen gegen die Schmerzen in den Mund, wünschte Darius, der heute nicht auftrat, einen schönen Abend und wollte sich auf den Weg in den Wintergarten machen.
»Darf ich fragen, was du da eigentlich einwirfst wie die Sahnebonbons, die Viktor und ich gekocht haben?«, fragte Darius.
Jenny zuckte die Schultern. »Nur ein Mittel gegen meine Verkühlung. Hat mir Harry gegeben.« Harry Tetzlaff war der Inhaber der Löwen-Apotheke am Ende der Mohrenstraße und gehörte auf väterliche Weise zu den Männern, die Jenny nichts abschlagen konnten. Er hatte ihr Togal gegeben. Aber es war längst kein Togal mehr in dem Fläschchen, und das hätte gegen die Schmerzen in Jennys Rücken sowieso nichts ausrichten können.
Was sie statt der Tabletten gegen harmlose Wehwehchen hineingefüllt hatte, hatte sie einem Chirurgen, einem Stammgast aus dem Wintergarten, abgeschwatzt. Es hieß Eukodal, verschaffte ihr zumindest für die Dauer einer Aufführung Erleichterung und vertrieb zugleich ein paar düstere Gedanken. Billiger als Vermouth, Absinth und Kokain und vermutlich auch weniger gefährlich, wobei Jenny sich darüber keine Gedanken machte. Das meiste im Leben war gefährlich, und die größte Gefahr lauerte so gut wie nie dort, wo alle Welt sie vermutete.
»Diese sogenannte Verkühlung hast du doch angeblich erst seit deiner dubiosen Fahrt mit der Straßenbahn«, sagte Darius. »Aber diese Pillen nimmst du nicht erst seit Neuestem, oder hättest du gern, dass ich das glaube?«
»Zum Teufel, zumindest ab und an hätte ich gern, dass du überhaupt nichts glaubst, sondern dich um deinen eigenen Käse scherst«, blaffte Jenny.
»Du und Viktor, ihr seid mein Käse«, erwiderte Darius ungerührt. »Ich habe sonst keinen.«
Jenny ließ sich noch einmal auf ihren Küchenhocker fallen und steckte sich eine Zigarette an. Ohne Filter. Zu dem Gefummel mit der Spitze hatte sie jetzt keine Zeit. »Mein Rücken macht in letzter Zeit Zicken«, sagte sie. »Wenn es hart auf hart kommt, brauche ich im Winter vielleicht eine Pause. Wir könnten verreisen. Irgendwohin, wo es warm ist und nicht ständig dunkel. Nur wir drei. Wäre das nicht hübsch?«
»Es wäre hübsch, aber es wird nicht stattfinden«, entgegnete Darius. »Solche Traumreisen versprichst du uns seit dem Anbeginn der Alomis’schen Zeitrechnung, aber sobald es ernst wird, wirst du auch diesmal feststellen, dass diese Stadt dem Untergang geweiht ist, wenn du dich länger als drei Tage von ihr entfernst. Mir soll es recht sein. Aber du pass auf dich auf. Ich habe keine Lust, irgendwann zuzusehen, wie du als Morphinistin zugrunde gehst, und ich bin sicher, Viktor noch viel weniger.«
»Unkraut vergeht nicht«, sagte Jenny, doch es klang nicht zuversichtlich, sondern hohl. »Wenn du gestattest, mache ich mich dann mal auf die Socken. Einer muss schließlich für diesen Haushalt die Brötchen verdienen.«
Die meisten Männer hätten auf diese Bemerkung hin beleidigt ihre Entrüstung bekundet, aber Darius gehörte nicht zu den meisten Männern. »Da ist noch etwas, Eugenie«, sagte er, als Jenny schon im Begriff war, aus der Küchentür zu schlüpfen.
Niemand außer ihm nannte sie jemals Eugenie, und er wusste, wie sehr sie es hasste. Er tat es nur, wenn es ihm ernster als ernst war. Todernst.
»Was denn?«
»Ein Mann war hier und hat nach dir gefragt. Von uns war niemand zu Hause. Er hat bei Frau Kellermann im dritten Stock geklingelt. Sie war ziemlich erregt.«
Jenny stöhnte. Dass Männer nach ihr fragten, kam alle naselang vor und gehörte zu den Nebenwirkungen ihres Berufs. Der überwiegende Teil von ihnen war lästig, aber harmlos. Nur dass jemand ausgerechnet bei der größten Klatschbase des Wohnblocks klingeln musste, ärgerte sie. »Die Kellermann ist immer ziemlich erregt, aber die regt sich auch wieder ab«, sagte sie.
»Es war kein Deutscher, hat sie gesagt.«
»Ja, und? Ist es neuerdings verboten, etwas anderes als deutsch zu sein?«
»Und er hatte einen stechenden Blick, der ihr durch und durch gegangen ist.«
»Verdammt noch mal, Darius, hast du zu wenig zu tun, dass du dir den gequirlten Mist anhören musst, den die Kellermann von sich gibt? Sag ihr, wenn der Mann mit dem stechenden Blick das nächste Mal vorbeikommt, soll sie ihn mit in ihr Bett nehmen, das ist gut gegen Knitterfalten. Und du solltest vielleicht auch überlegen, ob du dir auf deine alten Tage nicht vielleicht was fürs Herz zulegst. Immer nur eine stocktaube Katze unter der Decke scheint auf Dauer deiner Laune nicht aufzuhelfen.«
Damit ging sie. Und hätte sich im selben Moment einen Tritt verpassen und ihre Worte zurücknehmen wollen. Darius war aus Istanbul geflohen, nachdem er hatte mit ansehen müssen, wie sein armenischer Liebster auf offener Straße abgeschlachtet worden war. Er hatte überlebt, war froh, nur noch Kinder und Katzen zu lieben, und keinem Menschen außer ihr hatte er je davon erzählt.
Dass sie beide nie wieder ein Wort davon erwähnten, war seit elf Jahren ein ungeschriebenes Gesetz zwischen ihnen, das sie nicht hätte brechen dürfen. Was hatte sie dazu getrieben? Sein Gerede, ihre Schmerzen, ihre alberne Angst davor, heute Abend auf der Spieldose die Marinelli-Beuge vorführen zu müssen, wie sie es doch unzählige Male zuvor getan hatte? Sie würde sich entschuldigen, würde es mit ihm klären müssen, aber dazu war jetzt keine Zeit. Als sie die Treppe hinuntereilte, hörte sie, wie oben die Wohnungstür noch einmal geöffnet wurde.
»Frau Kellermann hat mit mir nicht gesprochen«, rief Darius ihr hinterher. »Sondern mit dem Poulaki. Es hat ihn verstört, und ihn verstört in letzter Zeit zu viel. Er hat sich zusammengereimt, der Mann muss aus Riga stammen. Die Kellermann hat gesagt, er sprach wie du, nur mit stärkerem Akzent.«