W ie konnte man es ausgerechnet einem Finnen übertragen, Musik zum Tanzen zu schreiben? Der »Valse triste«, Jean Sibelius’ trauriger Walzer, war überhaupt keine Musik zum Tanzen, sondern so schwer, dass er sich einem wie mit Bleigewichten an die Fesseln heftete. Schlimmer war, dass er sich obendrein aufs Gemüt legte wie eine dieser undurchdringlichen Wolkendecken, die nicht den winzigsten Ausblick auf den Himmel frei ließen. Jenny hatte es zuvor nicht bemerkt, aber jetzt, wo sie für niemanden sichtbar im Dunkeln wartete, bis die Ente mit ihren Drehungen fertig war, fiel ihr auf, dass sie den »Valse triste« hasste.
Sie würde Nina sagen, dass sie ihn augenblicklich ersetzen mussten. Die schleppende Schwermut raubte ihr den letzten Nerv.
Die Ente war tapfer. Vermutlich konnte man sich als Ente einfach keine Überempfindlichkeit gegen Walzer leisten.
Als Mensch auch nicht, dachte Jenny, während der Lichtkegel über der Ente erlosch und sehr zarter, verhaltener Applaus aufklang. Nina hatte gut daran getan, diesen leisen Auftakt gegen Aschingers Widerstand im Programm zu behalten. Er machte die Zuschauer still und aufmerksam, er rief ihnen in Erinnerung, dass das Leben öde wurde, wenn man nicht mehr staunen konnte. Und auf all das, was sie an Großem erwartete, wenn sie sich für die kleine Sensation geöffnet hatten, würde nun Jenny ihnen einen Vorgeschmack geben. Wenn es nicht anders ging, dann eben im Takt eines traurigen finnischen Walzers.
Es gab Schlimmeres.
Und sie konnte von Glück sagen, dass das Schlimmere weit weg und vorbei war und sie nie mehr einholen würde.
Der breitere Lichtkegel fiel nun auf sie, die Musik setzte kräftiger und energetischer von Neuem ein, und aus der Holzkiste schob sich die Stange mit der Halterung heraus, auf die sie sich mit ihrem Oberkiefer stützte. Aus dem Stand gab sie sich Schwung, wie es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, stemmte sich vom Boden in die Höhe und bog ihren Körper hintüber, als wären ihre Knochen aus geschmeidigem Draht. Für gewöhnlich lauschte sie längst nicht mehr auf die Reaktion des Publikums, aber heute vernahm sie, der Musik zum Trotz, wie der gesamte Saal den Atem anhielt.
»Ist es nicht berauschend?«, hatte die dreißig Jahre Ältere, die ihr beigebracht hatte, aus sich eine Kontorsionistin zu machen, sie nach ihrem einzigen gemeinsamen Auftritt gefragt. Jenny hatte nichts Berauschendes daran finden können, wohl weil sie mit diesem Atem-Anhalten des Publikums aufgewachsen war. Sie hatte es im Deutschen Theater zu Riga gehört, am Mariinski-Theater in Petersburg, an der Lemberger Oper und am Moskauer Bolschoi. Sie hatte keinen Rausch verspürt, sondern Angst, etwas falsch zu machen, Müdigkeit bis zu völliger Erschöpfung, Schmerzen in den Füßen und den Wunsch, sich irgendwo verstecken und schlafen zu dürfen.
Nur wenn er mit ihr getanzt hatte, wenn sie zusammen gewesen waren und sich gegenseitig geschützt und gehalten hatten, war all die Angst, waren die Schmerzen und sogar ein Teil der Müdigkeit von ihr abgefallen. Dass das Publikum den Atem angehalten hatte, war ihr gleichgültig gewesen, denn in der Welt, die sie mit ihm teilte, in der Glaskugel, in der sie sicher war, gab es kein Publikum.
Es gab nur ihn und sie.
Nachbarskinder, die die Straße zwischen ihren Häusern, den unsichtbaren Graben, leichthin übersprangen.
Schicksalsgenossen, die anders waren als die anderen, die allein gewesen wären, hätten sie einander nicht gehabt.
Warum heute?, schrie sie sich stimmlos an, während sie über die Schmerzgrenze hinweg ihren Rücken nach hinten krümmte, das Gewicht auf die Mundhalterung stützte und die Beine streckte, bis sie den Ansatz der Oberschenkel über ihrem Kopf spürte. Warum verlor sie sich ausgerechnet heute in sinnlosen, längst begrabenen Gedanken? Die Wirkung des Eukodal schien schon nachzulassen. Sie hätte besser noch zwei Tabletten nachschieben sollen, doch ihr Vorrat ging zur Neige. Waren etwa die Schmerzen schuld an ihren verqueren Gedanken? Es ist gleich vorbei, versicherte sie sich. Die Stange, auf die sie sich stützte, begann sich zu den langsamen Klängen des Walzers zu drehen, und Jenny schwang ihre Beine im Takt. Im oberen Rücken zuckte ein Muskel, doch im nächsten Augenblick hatte sie ihn wieder unter Kontrolle.
Es ist gleich vorbei, dumme Trine.
Mach kein solches Theater, es ist doch immer gleich vorbei.
Jemand im Publikum sog laut hörbar Luft ein. So etwas geschah ständig, es gehörte zum Reiz des Varietés, dass Artisten und Zuschauer sich dicht beieinander den Raum teilten und mitbekamen, wie der jeweils andere keuchte, schnaufte, schwitzte. Für gewöhnlich gab Jenny keinen Pfifferling darum. Heute aber schnellte ihr Kopf wie von selbst so hoch, wie es in der Beuge möglich war. Automatisch spreizten sich ihre Beine, die wie zusammengeklebt hätten verharren sollen, und durch den Spalt erhaschte sie einen Blick in die Menge, sobald sie ihr das Gesicht zuwandte.
Es war der schwerste Fehler, den eine Kontorsionistin begehen konnte. Ihr Körper war es, auf den sie sich einzig und allein zu konzentrieren hatte, die Spannung ihrer Muskeln, die präzise zu haltenden Winkel ihrer Gliedmaßen. Nur für den Bruchteil eines Herzschlags blitzte das Gesicht des Mannes vor ihr auf, sah sie sandhelles Haar im von künstlichem Sternenschein gemilderten Dunkel.
Der Bruchteil eines Herzschlags genügte. Ein Schmerz fuhr in ihren Rücken, als würde ihr vom Steiß an ein Schwert hineingetrieben. Sie konnte nicht einmal schreien, denn die Halterung steckte noch in ihrem Mund. Ihre Beine schlugen zurück nach vorne, und nur der Geistesgegenwart, die sie in jahrelangem Training erlangt hatte, verdankte sie es, dass sie von der Halterung loskam, ohne sich die Zähne auszubrechen. Ohne Eleganz, aber auch ohne sich zu verletzen, landete sie auf den Füßen.
Den Lärm, der aufbrandete, hörte sie wie durch Watte. Schwindel und Schwäche erfassten sie, und sie fiel auf die Knie. Alles in Ordnung, beschwor sie sich gegen den rasenden Schmerz in ihrem Rücken. So was passiert, es gehört zum Nervenkitzel, und der Schlangen-Jenny werden es nicht einmal die Kritiker übel nehmen. In Wahrheit wusste sie jedoch, was ein solcher Sturz und das Misslingen einer Figur bewirkten: Die Illusion zerplatzte, der Zauber löste sich in Luft auf, und mit einem Schlag wurde sichtbar, dass der Kaiser keine Kleider trug. Oder in diesem Fall, dass auch Jenny Alomis nur aus Fleisch und Blut und damit fehlbar und sterblich war.
Ein Artist, dem ein so schwerwiegender Fehler zum ersten Mal auf der Bühne unterlief, verlor dadurch das Vertrauen in den eigenen Körper, das er brauchte, um sich in eine Figur ganz hineinzugeben. Was danach geschah, stand buchstäblich in den Sternen. Jenny, Nina und Sonia hatten Künstler erlebt, die darüber hinwegkamen, indem sie sofort auf die Bühne zurückkehrten und sich bewiesen, dass der Ausrutscher einmalig war und sie sich weiterhin auf sich verlassen konnten. Sie hatten aber mindestens ebenso viele erlebt, für die dieses Versagen der Anfang vom Ende gewesen war. Vormals umjubelte Darsteller schreckten auf einmal vor jeder schwierigen Übung zurück und mussten über kurz oder lang von der Bühne Abschied nehmen.
Ich gehöre zur ersten Gruppe, sagte sich Jenny und zwang sich, aufzustehen und dem Publikum ihr wölfisches Grinsen zu zeigen. Der Schmerz war so heftig, dass die Gesichter der Leute vor ihr auf und ab waberten, ohne dass sie klare Konturen erkennen konnte.
»Ich fürchte, ich bin heute nicht ganz saftig in den Knien«, rief sie in die Menge und ließ ihren Blick schweifen, auch wenn sie nur Schemen sah. »Der Champagner vorhin war wohl nicht mehr taufrisch, und diese langsam vor sich hin walzende finnische Schwermut hat mir den Rest gegeben. Morgen tanzen wir hier wieder nach Rhythmen, bei denen man sich die Sorgen aus dem Leib schüttelt! Und für heute bitte ich Sie vielmals um Entschuldigung.«
Sie verbeugte sich vornüber, wie es üblich war, dann verbeugte sie sich hintüber, wie es nicht üblich war, und gleich darauf wirbelte sie Räder schlagend über die Bühne. Dass man Rad schlagen konnte, auch wenn man glaubte, der Rücken stünde in Flammen, hatte sie sich frühzeitig beigebracht.
Du kannst alles, wenn du es musst.
Denk an Viktor. Denk an den Kleining, und sag nicht, du kannst nicht.
Du kannst dir sehr wohl den Rücken brechen und trotzdem wieder in den Sattel steigen.
Du kannst es, weil du leben musst, weil leben besser ist als sterben. Weil der Kleining leben muss. Weil er ein Recht auf sein Leben hat, das noch brandneu und blitzsauber ist, von nichts beschmutzt und von niemandem beschädigt.
Als sie wieder auf die Füße sprang, vernahm sie den Beifall und die Zurufe des Publikums. Es ist alles in Ordnung, versicherte sie sich und warf Kusshände zu den Applaudierenden. Sie saß schon wieder im Sattel, sie würde morgen wieder auftreten, und zu einer anderen Musik würde sie auch wieder in die Marinelli-Beuge gehen wie Hunderte von Malen zuvor. Hinter sich verspürte sie eine Bewegung und wusste, dass es Nina war, die aus dem Seitenaufgang geschlüpft war.
»Zum Teufel, Jenny, was war das denn?«, zischte sie ihr zu, während sie zweifellos ebenso breit grinste und Kusshände verteilte wie Jenny selbst. Irgendein unbezahlbarer Mensch hatte außerdem den Dirigenten in seinem Graben angewiesen, sein Orchester in voller Lautstärke »Das ist die Berliner Luft« spielen zu lassen.
»Nichts«, raunte Jenny zu Nina hinüber. »Ich hab bloß schlecht geschlafen und mir in der Straßenbahn eine Erkältung eingefangen, ich hätte heute lieber krankfeiern sollen.«
»In der Tat, das hättest du«, zischte Nina zurück. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dir glauben soll.«
»So blöd, mir zu glauben, bin ich ja nicht mal selber«, erwiderte Jenny. »Aber einen Grund, in Hysterie auszubrechen, gibt es nicht. Ich lasse euch für heute Abend hängen, lege mich in mein Himmelbettchen und borge mir obendrein Ypsilantis als Wärmflasche aus. Wenn das nicht dafür sorgt, dass ich morgen wieder wie neu bin, ist der Papst mein Onkel, und dann können wir immer noch den Notstand ausrufen.«
»Du bist dir sicher, dass das alles ist, was du brauchst?«
»Ja, in drei Teufels Namen, ich bin mir sicher. Und jetzt verzieh dich und lass mich noch ein Minütchen mit meinen Anbetern flirten, ehe ich dir das Feld überlasse.«
Nina zog sich zurück, und Jenny verbeugte sich unter Salven von Applaus ein weiteres Mal. Noch immer konnte sie von den Gesichtern, die sich zum Greifen nah vor ihr bewegten, keines deutlich erkennen, aber etwas erkannte sie:
Der Mann mit dem sandhellen Haar saß nicht mehr auf seinem Platz.
Er hatte den Saal verlassen.
Oder er war in Wirklichkeit nie dort gewesen.