W eder im Wintergarten noch im Hotel Central hatte Carlo jemanden erreicht, der bereit war, ihm Nina an den Apparat zu holen. Auch Hieronymus Haase oder Fridolin Pätznick, nach denen er schließlich verlangt hatte, waren angeblich nicht aufzutreiben. In seiner Not hatte er schließlich in Ninas Wohnung angerufen. Anton, so hatte er angenommen, würde um diese Uhrzeit im Theater sein, aber mit etwas Glück konnte er vielleicht Frau Brenneisen oder Frau Rottenheimer bewegen, etwas zu unternehmen. Stattdessen hatte Anton sich gemeldet, sobald das Amt die Verbindung hergestellt hatte. Er sei nicht ganz auf dem Posten, hatte er Carlo auf dessen Frage hin erklärt, deshalb habe er seine Vorstellung heute Abend abgesagt.
In aller Eile hatte Carlo ihm geschildert, was er von Viktor wusste. »Kannst du rasch hinüberlaufen und nachsehen, was los ist?«, hatte er seinen Nenn-Schwager gefragt. »Von euch aus sind es doch nicht mehr als zehn Minuten Weg.«
»Warte einen Augenblick«, hatte Anton erwidert und den Hörer beiseitegelegt. Gedämpft durch das Rauschen hörte Carlo ihn sprechen und glaubte, eine helle Stimme antworten zu hören. »Ich bringe dich nach Hause«, vernahm er wiederum Anton, ehe dieser an den Apparat zurückkehrte.
»Entschuldige bitte.«
»Hast du Besuch?«, fragte Carlo.
»Nein, das Radio war an«, antwortete Anton. »Das mit Viktor geht in Ordnung. Ich laufe schnell rüber zu Jenny und nehme ihn zur Not mit zu uns.«
»Wenn du kannst, ruf mich nachher noch an«, sagte Carlo. »Egal, wie spät es ist. Ich muss wissen, dass es Viktor gut geht.«
Anton versprach es, und sie legten auf.
Tief in Gedanken und mit schleppenden Schritten kehrte Carlo in den Salon zurück. Zu der Angst um Viktor kamen die seltsamen Gesprächsfetzen, die er mit angehört hatte, und Antons eindeutige Lüge mit dem Radio.
Hatte er eine Frau bei sich gehabt? War es möglich, dass er Nina betrog?
So undenkbar, wie es Carlo vorkam, war es im Grunde nicht. Anton war ein Frauenschwarm. Hätte er sich einer anderen zugewandt, hätte er längst eine Familie mit den Kindern, die er sich wünschte, haben können.
Aber er liebte doch Nina, begehrte es in Carlo auf.
Gleich darauf meldete sich eine mahnende Stimme in seinem Hinterkopf: Und was ist mit dir? Willst du etwa leugnen, dass du noch immer, selbst nach zwei Jahren Schweigen zwischen euch, Jenny Alomis liebst? Und stehst du nicht im Begriff, eine andere zu heiraten, weil du dir trotzdem ein Heim, eine Familie und Kinder wünschst?
Er ließ die Stimme ohne Antwort, öffnete die Tür und betrat den Raum. Die Leiter war weggeräumt worden, und seine Familie hatte sich zurückgezogen. Einzig Greta saß noch mit einem Stopfpilz auf dem Sofa und wartete auf ihn. Schlagartig wurde Carlo bewusst, wie lange er fort gewesen sein musste.
»Es tut mir leid«, murmelte er. »Der Sohn einer Freundin von Nina brauchte dringend Hilfe. Ich musste meinen Schwager benachrichtigen, und das alles hat länger gedauert, als ich annahm.«
»Das macht ja nichts«, sagte Greta, klang jedoch so, als ob es durchaus etwas machte. »Nur die anderen haben sich ohne uns zu Tisch gesetzt und gehen dann wohl zu Bett. Otta kam von den Schultzens und behauptete, vor Hunger zu sterben. Du kennst sie ja.«
»Was macht denn Otta bei den Schultzens?«, fragte Carlo. Bestand das Leben seiner Familie auf einmal aus einer Kette von besorgniserregenden Dingen, von denen er hätte wissen müssen?
»Nun«, begann Greta, »dass du mich das jetzt fragst, wundert mich ein bisschen, denn sie ist schon seit Monaten ständig dort. Genauer gesagt, seit Schultzens die Verwandten aus Westpreußen aufgenommen haben. Die haben Zwillinge, die nicht viel älter sind als Otta.«
»Zwillinge?«, fragte Carlo, der ja selbst ein Zwillingsbruder war und sofort wieder an Nina denken musste. »Jungen oder Mädchen?«
»Beides«, antwortete Greta. »Margarete und Richard. Und ehe du fragst: Ja, ich denke, die ganze Familie ist politisch der Richtung zugeneigt, die dir und deiner Oma nicht behagt.«
»Meiner Oma?«
»Es wird dir ja wohl nicht neu sein, dass deine Oma den lieben langen Tag auf ›diese Schreihälse von dem Untergefreiten‹ schimpft«, sagte Greta.
Carlo kam es vor, als hätte er etwas Entscheidendes verpasst. Widmete er seiner Familie zu wenig Zeit, und war er bei den gemeinsamen Mahlzeiten nur körperlich anwesend, aber nicht im Geist? Greta schien besser zu wissen, was die einzelnen Mitglieder umtrieb, als er.
Dementsprechend fuhr sie fort: »Du weißt, ich bin ein altmodisches Mädchen und kenne mich mit Politik nicht aus. Ich denke aber, es hätte keinen Sinn und wäre auch nicht fair, Otta den Umgang mit den Schultz-Zwillingen zu verbieten. Die Auswahl an Gleichaltrigen in der Nähe ist nicht eben groß, die meisten ihrer Klassenkameradinnen wohnen in Templin, und in diesem Alter will ein junges Mädchen eben auch schon einmal erleben, wie das andere Geschlecht die Köpfe nach ihm dreht. Da sind die modernen Backfische nicht so viel anders, als wir es waren.«
Sie sprach, als wäre sie mindestens in Tante Sperlings Alter, fand Carlo. Aber das war sie nicht. Sie war dreiundzwanzig. Kaum weiter von Otta entfernt als von ihm.
»Ich spreche mit Otta«, sagte er. »Verbieten werde ich ihr den Umgang sicher nicht, aber ich muss mich vergewissern, dass die Leute, mit denen sie verkehrt, ihr nicht schaden. Sie hat keinen Vater. Ich bin für sie verantwortlich. Es tut mir leid, dass ich mich in letzter Zeit so wenig um sie gekümmert habe.«
»Überlass das doch uns«, sagte Greta. »Du hast mehr als genug auf deinen Schultern lasten. Die Zukunft des Guts, die Sorgen ums Geld, die politische Lage, die dir Kopfzerbrechen macht. Wir Frauen sind dankbar, dass das alles bei dir in guten Händen ist und du uns davor abschirmst.«
So hatte es sein Vater gehalten, dachte Carlo. Und dann war der Krieg gekommen und hatte alles überrannt. Hätten die Frauen kein abgeschirmtes Leben geführt, sondern sich informieren und einmischen können wie heute – hätte die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen?
»Lass uns für unseren Teil sorgen«, sprach Greta weiter. »Wir tun es gerne. Ich tu es gerne. Da ist nur eines, Carlo …«
Er sah sie an, zwang sich, sich auf sie zu konzentrieren, doch seine Gedanken waren wie Pferde, die aus Geschirr und Deichsel ausbrechen wollten.
»Was ist es, Greta?«
»Natürlich lässt Otta sich von mir nichts sagen, da ich im Haus ja nur ein geduldeter Gast bin«, begann sie. »Und deine Oma erst recht nicht …«
»Oma Hulda lässt sich von niemandem etwas sagen«, unterbrach Carlo. »Und warum sollte sie auch? Sie war Herrin auf Neu-Mahlen und hat als Witwe die Geschäfte praktisch allein geführt. Sie ist es nicht gewohnt, dass jemand ihr Vorschriften macht.«
So wie Jenny, dachte er. Zwischen Jenny und Oma Hulda hatte eine unleugbare Verbundenheit bestanden, beinahe so etwas wie Liebe auf den ersten Blick.
»Darum geht es doch nicht, Lieber«, sagte Greta. »Ich will ihr keine Vorschriften machen, sondern dafür sorgen, dass sie nichts tut, was ihr schadet.«
Jenny würde sagen: Das sind auch Vorschriften, dachte Carlo und wünschte, er hätte ein Mittel gewusst, um nicht länger bei jedem Satz von Greta an Jenny zu denken.
»Sie sollte in ihrem Alter auf keine Leiter mehr steigen«, sagte Greta. »Und ich wäre auch dankbar, wenn sie mich nicht jedes Mal mit einem scheelen Blick bedächte, sobald ich mit Fritzi über Speisepläne und Vorratslisten spreche oder gar wage, das Telefon abzunehmen.«
Carlo begriff, worauf das hinauslief. Vermutlich hatte er es die ganze Zeit schon begriffen.
»Ich habe dir versprochen, dich nicht zu drängen«, fuhr sie fort. »Und ich verstehe, dass du den Kopf voll mit anderen Dingen hast. Aber wenn du willst, dass ich die Frau sein soll, die deinem Haushalt vorsteht, dann wirst du es deiner Familie sagen müssen. Weil ich sonst eben nicht befugt bin, mich in die Aufgaben dieser Frau einzufinden. Weil ich sonst weniger Rechte habe als Fritzi. Und nicht weiß, wo ich stehe, was ich falsch mache und was eigentlich von mir erwartet wird.«
Während des letzten Satzes verlor sich ihre zuvor so entschlossene Stimme. Beinahe klang es so, als wollte sie in Tränen ausbrechen, wie sie es sich die ganze Zeit kein einziges Mal erlaubt hatte.
»Greta«, begann er, doch in diesem Augenblick klingelte vorn in der Halle von Neuem das Telefon.
Ihre Blicke trafen sich. Greta wollte aufstehen, aber Carlo war schneller. »Ich gehe schon. Sicher ist es mein Schwager. Es wird nicht lange dauern.«
In der Tat war es Anton.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich war drüben bei Jenny, habe ihr eine Nachricht hinterlassen und habe Viktor und den Kater jetzt hier bei uns. Es war gut, dass du dich gemeldet hast. Er war ziemlich verstört und außerdem erschöpft, hat sich sofort ins Bett verkrochen. So kenne ich ihn gar nicht.«
»Und den Mann?«, fragte Carlo. »Hast du den auch gesehen?«
»Er stand unter der kaputten Laterne, wie Viktor es dir beschrieben hat«, antwortete Anton. »Ich habe ihn angesprochen und gefragt, warum er dort herumlungert und ob ich ihm behilflich sein kann. Er ist regelrecht erschrocken, rief: ›Nein, nein, ich habe nur auf jemanden gewartet‹, und eilte davon. Um ehrlich zu sein, machte er keinen sonderlich gefährlichen Eindruck auf mich, sondern wirkte wie einer der Unzähligen, die diese Krise zu Bettlern macht. Außerdem hatte ich den Eindruck, ich hätte ihn schon einmal gesehen.«
»Vor Jennys Haus?«
»Nein. Nicht dort. Im Frühling, an einem Bahngleis, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ein wenig merkwürdig ist diese Sache allemal. Ich werde Nina bitten, ein ernsthaftes Wort mit Jenny zu reden. So spät in der Nacht kann sie Viktor nicht allein lassen. Ich weiß, es gibt Scharen von Eltern, denen nichts anderes übrig bleibt, und Viktor ist es gewohnt. Aber die Zeiten sind unsicher, und der kleine Kerl hat ohne jeden Zweifel Angst.«
»Ich bin froh, dass er mich angerufen hat«, sagte Carlo. »Und ich komme so schnell wie möglich nach Berlin, um dieser Sache auf den Grund zu gehen.«
»Sei mir nicht böse, Carlo«, sagte Anton. »Aber mir ist nicht recht klar, was du dabei ausrichten willst. Jenny und du, ihr seid seit Langem getrennt, und soweit mir bekannt ist, bist du so gut wie verlobt mit einer anderen Frau.«
Ich kann das nicht tun, dachte Carlo. Es ist eine Lüge, alles daran ist falsch.
»Ich bleibe Viktors Freund«, sagte er vage. »Und ich werde mir überlegen, wie ich ihm helfen kann, ohne Jenny zu brüskieren. Danke, dass du heute Nacht eingesprungen bist, Anton. Darf ich dich auch etwas fragen, ohne dass du mir böse bist?«
»Du darfst mich fragen, was immer du willst.«
»Ich weiß, es geht mich nichts an, und es liegt mir fern, ein Urteil zu fällen«, sagte Carlo. »Aber vorhin, als ich dich angerufen habe – war da doch jemand bei dir? Du hast gesagt, es war das Radio, aber ich habe dich mit jemandem sprechen hören.«
Schweigen als Antwort. Eine Leitung, die stumm blieb, als wäre das Telefon nie erfunden worden.
Er wollte auflegen. Greta wartete auf ihn und verdiente eine Antwort. Aber er konnte es nicht.
»Anton«, sagte er, »ich habe das Gefühl, um mich bricht von Neuem meine Welt zusammen. Die Kameraden, mit denen ich als Junge gespielt habe, ihre Väter, die ich Onkel genannt habe und die mir nach dem Tod meines Vaters beigestanden haben, laufen in Scharen zu den Nazis über und verwandeln meine Heimat in einen Ort, den ich nicht wiedererkenne. Ich mache mir Sorgen um Jenny und Viktor, um meine Schwestern, ich mache mir Sorgen um so vieles, und nichts scheint mehr sicher. Dir habe ich immer vertraut. Du warst wie ein Bruder für mich, und ich will, dass dieses Vertrauen zwischen uns noch immer verlässlich ist. Bitte lüg mich nicht an. Wenn zwischen dir und Nina die Dinge nicht zum Besten stehen, wenn es eine andere Frau für dich gibt, wird mich das aus der Fassung bringen, und ich kann dir nicht versprechen, nicht wütend zu werden. Aber ich werde mich bemühen, zu verstehen. Und kein Urteil zu fällen.«
»Um alles in der Welt, Carlo.« Aus tiefer Kehle stöhnte Anton auf. »Es gibt keine andere Frau. Es wird nie eine geben. Dass es für Nina einen anderen Mann gibt, kann ich nicht länger ausschließen, denn mich lässt sie im besten Fall noch so nah an sich heran wie einen freundlichen, etwas lästigen Onkel. Für mich aber gibt es immer nur Nina. Ja, du hast recht. Ich habe gelogen, weil ich zu feige bin, die Wahrheit zu sagen. Ich bin seit einem halben Jahr zu feige dazu, obwohl mir klar ist, dass ich mit meiner Feigheit alles schlimmer mache, als es ohnehin schon ist. Ja, es war jemand hier. Es ist ständig jemand hier, wenn Nina unterwegs ist, aber es ist keine Frau.«
»Wer sonst?«, fragte Carlo.
»Ein Kind von neun Jahren«, sagte Anton.
In kurzen, stockenden Worten erzählte er Carlo, was geschehen war. Er gestand ihm, dass er sich Urlaub von seinem Engagement genommen hatte, ohne es Nina zu sagen, dass er vor Frau Rottenheimer und Frau Brenneisen die Türen verschloss und dass er sich in immer mehr Lügen und Geheimnisse verstrickte, um mit der Zwickmühle, in der er steckte, fertigzuwerden.
»Wenn du mich jetzt hasst oder verachtest, kann ich es dir nicht verübeln«, sagte er, als er fertig war. »Ich kann dir nicht einmal verübeln, wenn du es Nina erzählst. Du bist Nina immer ein guter Bruder gewesen, und ginge es um meine Schwester, würde ich es vermutlich tun.«
Carlo war, als hätte er einen Schlag vor den Kopf erhalten. Er kämpfte gegen Benommenheit und Überrumpelung und wusste doch, wie wichtig es war, dass er mit klarem Kopf dachte und entschied.
»Nein, Anton«, sagte er endlich. »Ich werde Nina nichts erzählen, und ich werde mich deswegen auch nicht für einen schlechten Bruder halten. Aber du musst es ihr erzählen. Du und Nina, ihr müsst in euer Leben wieder Ordnung bekommen. Wir alle müssen das. Wenn ich kann, helfe ich dir, so wie ich vielleicht auch deine Hilfe brauchen werde. Ich komme nach Berlin. Wir reden darüber. Aber mit Nina sprechen musst du selbst.«
»Du hast recht«, sagte Anton wie zuvor. »Danke, Carlo. Gute Nacht.«
Er wünschte Anton ebenfalls eine gute Nacht und kehrte in den Salon zurück. Greta saß noch auf dem kleineren der beiden Sofas, hatte aber den Stopfpilz beiseitegelegt und blickte zu ihm auf, als er den Raum betrat.
»Es tut mir leid«, sagte er schon wieder und hatte das gleiche Gefühl wie Anton: Er schämte sich für seine Feigheit. »Meine Familie kommt mir ein wenig vor wie dieses Land: Nach dem Krieg haben wir uns so sehr danach gesehnt, neu anzufangen. Wir haben das schwere Erbe, all die alten Lasten – Trauer, Zorn, Angst und Schuld – unter den Tisch gekehrt und so getan, als bekämen wir ein brandneues Leben. Aber wer so handelt, nimmt sich die Chance, über alte Fehler nachzudenken, und riskiert, dass sie ihn eines Tages einholen.«
»Carlo«, sagte Greta in seine Atempause hinein. »Ich mag ein dummes Mädchen sein, das von dem, was du mir da erklärst, kein Wort versteht. Das ist sicher enttäuschend für dich, aber dennoch bitte ich dich: Spanne mich nicht noch länger auf die Folter, denn ich bin nicht so stark, wie ich gern wäre. Ich möchte nicht weinend zusammenbrechen oder Dinge sagen, um die es uns beiden später leidtun würde.«
»Oh, Greta.« Er ging zu ihr und setzte sich an ihre Seite, wollte nach ihrer Hand greifen, zog sich aber zurück, weil er fand, er hätte dazu kein Recht. Dafür, dass sie so klar in Worte fassen konnte, was sie empfand und was sie von ihm brauchte, zollte er ihr Bewunderung. »Du hättest viel Besseres von mir verdient, aber ich kann es dir in meiner jetzigen Lage nicht geben«, sagte er. »Ich kann nicht mit meiner Familie über unsere Verlobung sprechen, ehe ich in Berlin war und einige Dinge geklärt habe. Sie betreffen meine Schwester und Anton, aber sie betreffen auch eine Frau, die ich sehr geliebt habe, und ihren Sohn. Erst wenn ich das Leben all dieser Menschen wieder im Gleis weiß, kann ich wieder über mein eigenes Leben nachdenken.«
Greta sah ihn an, und über ihre hellen blauen Augen zog sich ein glasiger Schimmer. »Es ist gut«, sagte sie gepresst. »Wenn du diese Zeit brauchst, um dir über die Zukunft klar zu werden, musst du sie dir nehmen. Nur um eines bitte ich dich: Behandle mich nicht wie ein Eintopfgericht, das du dir auf kleiner Flamme warm hältst für den Fall, dass das viel köstlichere Festmahl doch nicht zu haben ist.«
Seine Bewunderung für sie nahm noch zu, und wie eine Ironie des Schicksals erschien es ihm, dass er vielleicht nie so viel für sie empfunden hatte wie in diesem Moment. Ob es aber genügte, blieb fraglich. Er wusste es einfach nicht.
»Ich muss die Entscheidung dir überlassen«, sagte er. »Wenn du dich von mir wie ein solches Gericht behandelt fühlst und nicht warten willst, werde ich es verstehen, Greta. Ich will, dass du weißt, du hast auch dann, und solange du willst, hier ein Zuhause.«
Ohne jeden Frohsinn lachte sie auf. »Als was soll ich denn bitte hier ein Zuhause haben, wenn nicht als deine Frau? Als eure Bedienstete? Ihr habt ein Mäxchen für alles und in Fritzi ein Mädchen für alles, und mit allem, was die beiden nicht schaffen, kommt ihr selbst zurecht.«
»Als unsere Freundin«, sagte Carlo. »Du hast gesagt, du bleibst meine Freundin.«
»Man sagt ziemlich viel und meint weit weniger«, erwiderte Greta. »Ich werde warten, weil eine wie ich es sich nicht leisten kann, das bisschen Hoffnung, das sie noch übrig hat, aufzugeben. Und weil ich dich liebe. Deshalb wohl vor allem. Halt mich nicht länger hin als nötig, darum bitte ich dich. Und pass auf dich auf. Du bist ein guter Mann, und in der Zeit, in der wir leben, scheinen es die Guten zu sein, die als Verlierer enden.«