Nina
N ina war müde. Ihre Müdigkeit war dermaßen allumfassend und bleiern, dass sie sich schon am Morgen, wenn sie sich aus dem Bett quälte, wünschte, sie könne sich wieder darin verkriechen.
Während sie im letzten Jahr die Vorstellung nicht ertragen hatte, über die Feiertage nach Neu-Mahlen zu fahren und im Familienkreis Weihnachten zu feiern, konnte sie es in diesem Jahr kaum erwarten, in den Zug zu steigen und Berlin bis nach Neujahr den Rücken zu kehren. Aschinger hatte sich über ihren Wunsch, Urlaub zu nehmen, nicht begeistert gezeigt, doch dem großzügigen Vertrag zufolge, den er selbst aufgesetzt hatte, standen ihr die Tage zu. Sie hatte die Auftritte ihres eigenen Ensembles bis ins Kleinste vorbereitet und dafür gesorgt, dass die Programme, besonders das der großen Silvestergala, exzellent bestückt waren. Vom Guten nur das Beste. Zumindest das Beste, was mit dem zur Verfügung stehenden Budget und menschenmöglichen Mitteln zu bekommen war.
Dass das nicht genügte, war ihr selbst klar.
Die Gangart wurde täglich härter, die Krise verschärfte sich, und die Zahl der Arbeitslosen stieg unaufhaltsam weiter. Überall in Berlin öffneten Suppenküchen, die eine dünne, aber immerhin warme Mahlzeit an Bedürftige ausgaben. Vor dem Tresen standen die Leute bereits Stunden vor der Öffnungszeit um den gesamten Block herum Schlange.
Unter den Scharen, denen der Boden unter den Füßen wegbrach, befanden sich reihenweise Künstler, Artisten, Darsteller, die noch vor einem Jahr gefeiert und gefragt gewesen waren. Der Existenzkampf war gnadenlos: Wer sein Geld nicht mehr einspielte, wer zu alt, zu unbeweglich, zu wenig taufrisch oder schön war, wurde aussortiert. Bisher war es Nina gelungen, ihre Wunderweiber vor dem Verlust ihres Engagements zu bewahren, doch um das möglich zu machen, musste sie unablässig kämpfen, verhandeln, sich Ideen aus den Fingern saugen und auf Reklamemaßnahmen sinnen. Zuweilen kam sie sich vor, als wäre sie gezwungen, sich wie Jenny in alle Richtungen zu verbiegen, um vorne, hinten und an beiden Seiten Katastrophen zu verhindern.
Und ausgerechnet Jenny, ihr bestes Pferd im Stall, ihr Trumpf-Ass, das Pfund, mit dem sie wuchern konnte, bereitete ihr seit Wochen Sorgen.
Es war schwierig genug, Sonias Ängste vor den Nazis in Schach zu halten. Der Inhaber des Geschäftshauses für Damenkonfektion, in dessen Keller in der Charlottenstraße Sonia seit ihrer Ankunft in Berlin ihre Wohnung hatte, war in die NSDAP eingetreten und hatte ihr sang- und klanglos gekündigt. Es war eine Schande, dass kein Gesetz eine Mieterin davor schützte. Aber es war nicht leicht zu verstehen, weshalb Sonia deswegen in solche Verzweiflung stürzte.
Die Kellerwohnung war klamm und so dunkel gewesen, dass Nina sich seit jeher gefragt hatte, wie jemand in dieser Düsterheit hausen, geschweige denn malen konnte. Sonia verdiente gutes Geld und hätte sich leicht etwas Wohnlicheres leisten können, auch wenn sie völlig außerstande war, ihr erstaunliches Talent zu vermarkten. Dafür hatte sie schließlich Nina, die ihr ein ums andere Mal nahegelegt hatte, aus dem Kellerloch auszuziehen, zumal der unglückliche Franz Podiebrad jene Stätte, seine verlorene Liebe und Berlin mittlerweile verlassen hatte.
Sonia aber hing an der unwirtlichen Behausung wie ein Tier an seiner Höhle, in die es flüchten und sich verstecken konnte. Jenny drückte es wie üblich noch drastischer aus: »Sie ist eine Krabbe, die sie aus der Schale gepellt und mit nackter Haut auf die Straße geschmissen haben. Und das ist eine gottverdammte Schweinerei, denn das hat sie schon einmal erlebt.«
Weder Jenny noch Nina wussten Genaueres über Sonias Leben im galizischen Lemberg und über ihre Flucht nach Berlin. Sie wussten allerdings, dass es im letzten Kriegsjahr in der Stadt zu Pogromen gegen die jüdischen Bewohner gekommen war, während Polen und Ukrainer um die Herrschaft in der vormals österreichischen Stadt kämpften.
»Wo immer es Elend und Not und Überfälle und Plünderungen gibt, ist es gut, wenn Juden in der Stadt sind«, hatte Sonia einmal gesagt. »So hat man immer jemanden, der an all dem Schlechten schuld sein muss.«
Die Juden in der Stadt Lemberg, die jetzt polnisch war und Lwiw hieß, hatten ein Viertel der gesamten Bevölkerung ausgemacht. Da Sonia ihre Familie nie erwähnte und mit niemandem Kontakt hielt, gingen ihre Freundinnen davon aus, dass niemand, den sie liebte, überlebt hatte. Sie war alleine und mit leeren Händen nach Berlin gekommen, ihre Kellerhöhle hatte ihr Zuflucht geboten, und nun war sie dieser Höhle beraubt. Nina wollte ihr beileibe nicht vorwerfen, dass sie körperlich krank davon wurde. Für Ersatz zu sorgen, wenn Sonia tagelang nicht auftreten konnte, stellte sie jedoch vor eine unüberwindliche Schwierigkeit. Die schnelle Sonia, die Erinnerungen und Wunschträume auf Postkarten zauberte, war nicht zu ersetzen. Für jede Vorstellung, in der ihr Sonia ausfiel, musste sie das Publikum mit einer neuen Sensation trösten, und Sensationen kosteten Geld.
Wenn sie Aschinger um eine Erhöhung des Budgets bat, um die Konkurrenz überbieten zu können, erklärte der ihr lapidar: »Ich bezahle Ihnen ein Vermögen, damit Sie es mir anderswo einsparen, nicht damit Sie ein zweites aus dem Fenster werfen. Sehen Sie zu, wo Sie einen Lückenfüller aus dem Boden stampfen – aber bitte vom Guten nur das Beste.«
Wenigstens war sie mit ihrer Sorge um Sonia nicht auf sich allein gestellt, sondern konnte auf Friedhelm bauen, der die Künstlerin mit seiner Liebe regelrecht einhüllte. Wenn Sonia sich tatsächlich fühlte wie eine Krabbe ohne Schale, so schuf ihr Friedhelm mit seiner Fürsorge eine neue. Er ließ sie nicht aus den Augen. Er erlaubte ihr nicht, auch nur einen Schritt allein zurückzulegen, aus Furcht, sie könne Schlägern der SA über den Weg laufen oder auf die widerlichen antisemitischen Parolen stoßen, die in der gesamten Innenstadt an Häuserwände geschmiert wurden. Mit seiner sanften, kaum merklichen Art, Druck auszuüben, brachte er sie schließlich dazu, zu ihm und der Ente in seine Wohnung am Innsbrucker Platz zu ziehen.
Es war Nina nie gelungen, zu Friedhelm das gleiche Vertrauen aufzubauen, das sie für die übrigen Mitglieder ihres Ensembles empfand. Sie wusste, woran es lag, wusste, dass es nicht fair war, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wahrte zu Friedhelm jedoch eine gewisse Distanz. Wie er aber Sonia umsorgte, konnte sie ihm nicht hoch genug anrechnen. Welche Motive ihn auch immer zu den Wunderweibern geführt hatten und was für Geheimnisse er vor ihnen verbarg, an einem bestand nicht der geringste Zweifel: Er liebte Sonia. Es konnte unmöglich etwas geben, das er nicht für sie getan hätte.
Sonia erholte sich ein wenig, wurde allmählich wieder stabiler, aber diejenige, die gleichzeitig an Stabilität verlor, war die unverwüstliche Jenny.
Erschrocken hatte Nina sich schon, als sie im September auf der Bühne in der Marinelli-Beuge gestürzt war. Letzten Endes war es aber nicht mehr als eine einzige missglückte Figur, während andere Kontorsionistinnen in ihrer Laufbahn Dutzende verpatzten. Der Fehler wiederholte sich nicht, weder die Zuschauer noch die Kritiker nahmen den einmaligen Patzer übel, und Jenny hatte das Ganze mit dem Charme ihrer Großstadtschnauze gelöst, den die Leute anhimmelten.
Warum also konnte Nina seither regelrecht zusehen, wie ihre Freundin verfiel? Nein, sie hatte in den folgenden Wochen nicht noch einmal einen Fehler gemacht, doch ihrem Körper schien die Spannkraft zu fehlen und ihrer Seele die Lust. Ihre Auftritte waren artistisch noch immer erstaunlich, doch sie versprühten keine Funken mehr und versetzten keinen Saal mehr in Ekstase, indem sie versprachen, dass das Unmögliche möglich war.
Jenny leistete ihre Figuren ab wie eine Fließbandarbeiterin ihre Schicht. Hinter der Bühne, wo sie aus jeder Wartezeit eine Party gemacht hatte, kauerte sie jetzt brütend auf ihrem Schemel, wirkte abwesend und gab einsilbige Antworten. Sie hatte aufgehört, ständig alle zu irgendeinem Umtrunk zu überreden, und wenn sie selbst dazu aufgefordert wurde, schob sie Viktor vor.
»Ich muss nach Hause zu meinem Sohn«, lautete ihre Standardausrede, obwohl an den meisten Abenden Darius daheim war. Nach einem unschönen Vorfall mit einem herumlungernden Fremden, der Viktor Angst eingejagt hatte, hatte Anton angeboten, ihm Frau Brenneisen und Frau Rottenheimer zu schicken, wenn sowohl Jenny als auch Darius Auftritte hatten. Anton war an jenem Abend glücklicherweise zu Hause gewesen, weil das Theater aufgrund von Brandgefahr evakuiert worden war, und hatte Viktor zu sich geholt. Was genau vorgefallen war, hatte Nina nicht recht verstanden, zumal auch noch Carlo darin verwickelt und drei Tage später angereist war, um mit Viktor in den Zoo zu gehen. Jenny hatte jedes Gespräch darüber verweigert und Antons Vorschlag abgelehnt.
»Das ist sehr nett von euch, aber ich stelle lieber selbst jemanden ein, den ich verlässlich zur Verfügung habe«, hatte sie erklärt. Also war für den zwölfjährigen Viktor, der sein Leben lang von Darius betreut worden war, ein Kindermädchen ins Haus gekommen, eine Frau namens Helene, die nicht nur äußerlich, sondern auch im Wesen einem weiblichen Preisboxer glich. Nach allem, was Nina aus Viktor herausbekam, bestanden ihre Aufgaben im Wesentlichen darin, die Tür zu verriegeln und darauf zu achten, dass sie verriegelt blieb.
Hatte Jenny vor irgendetwas Angst?
Carlo zumindest hatte das behauptet und Nina gebeten, ein Auge auf sie zu haben.
Wie sollte man ein Auge auf jemanden haben, der einem ständig auswich?
Obendrein wich Carlo ihr ebenfalls aus und wollte für seine plötzlichen Zoobesuche und nächtlichen Anrufe bei Anton keine Erklärungen abgeben. Und Anton wusste sowieso von nichts und beharrte darauf, er sei nur zufällig in diese ganze Verwirrung geraten.
»Viktor hat sich vor einer Gestalt im Dunkeln erschrocken, wie Kinder es eben manchmal tun.«
Viktor war aber kein Kind, das vor den Schatten an der Wand erschrak. Unterdessen verfiel seine Mutter immer weiter, erschien zu Auftritten mit dunklen Ringen um die Augen, die sich nicht mehr überschminken ließen, und was Nina die größte Sorge bereitete: Sie hörte auf, zu essen.
Solange Nina Jenny kannte, hatte sie maßlos, wahllos und mit diebischem Vergnügen Lebensmittel in sich hineingestopft, ohne je ein Gramm Fett anzusetzen. Wenn ihre Anbeter ihr Präsentkörbe, Pralinenschachteln und gefüllte Torten in die Garderobe sandten, waren Stunden später höchstens noch ein paar Krümel davon übrig. Seit Neuestem hingegen verschenkte sie die Präsente an die Garderobenfrauen, die Bühnenarbeiter, die Beleuchter, von denen sie wusste, dass sie Kinder hatten.
»Nehmen Sie das Ihrer Familie mit«, sagte sie und drehte sich weg, als bereite der Anblick der Delikatessen ihr Übelkeit. Ausgerechnet Jenny, die einst im Brustton der Überzeugung versichert hatte, wo es ums Essen gehe, kenne sie weder Moral noch Nächstenliebe.
Sie verlor an Gewicht. Ihr starkes, schönes Amazonengesicht, das auf Werbeplakaten und den Titelseiten von Zeitschriften geprangt hatte, wurde hager, die Wangen fielen ein, und das herrliche, wie ein Helm geschnittene Haar verlor seinen Glanz.
»Was ist mit dir los, verdammt?«, hatte Nina sie zur Rede gestellt. »Wenn es um diese Sache mit deinem Rücken geht, wenn es jetzt so weit ist, dass du dich behandeln lassen musst, dann lass uns überlegen, wie wir das zeitlich am besten planen. Aber rede mit mir! Verschwinde nicht einfach nach der Vorstellung im Nirgendwo – und das Telefon hast du dir ja wohl auch nicht angeschafft, um es zu ignorieren.«
»Es ist kaputt«, behauptete Jenny. »Als ich neulich besoffen nach Hause gekommen bin, ist es mir runtergefallen, und seitdem klingelt es nicht mehr.«
»Zum Teufel, dann lass es reparieren«, schnauzte Nina sie an. »Du bist Künstlerin, du musst erreichbar sein.«
Jenny zuckte die Schultern. »Ich habe doch eine Agentin, die erreichbar ist.«
»Und überhaupt, wann willst du denn besoffen nach Hause gekommen sein?«, hakte Nina nach. »Im Salamander weiß inzwischen schon kaum noch einer, wie du aussiehst.«
»Es gibt ja noch andere Lokale, in denen man sich besaufen kann.«
»Ja, die gibt es«, erwiderte Nina. »Aber in denen bist du in diesen Wochen nicht gewesen. Erzähl mir keine Räuberpistolen, Jenny, sondern sag mir endlich, was dir auf der Seele liegt. Wir sind verdammt noch mal Freundinnen. So nah wie du ist mir auf der Welt kein Mensch, nicht mal mein Zwillingsbruder.«
»Und was ist mit dem schönen Anton?«, fragte Jenny.
Nina stockte, war um eine Antwort verlegen, und den winzigen Augenblick der Verwirrung nutzte Jenny, um ihr zu entwischen. Sie versuchte es noch zwei weitere Male, lief jedoch gegen dieselbe Mauer aus Schwindeleien und Ausflüchten. Inzwischen war sie so ausgelaugt, dass sie die Klärung der Angelegenheit am liebsten bis ins neue Jahr verschoben hätte. Vielleicht ergab sich über die Feiertage ja Gelegenheit, mit Carlo oder Anton doch noch darüber zu sprechen, was in dieser seltsamen Nacht mit Viktor eigentlich geschehen war. Und vielleicht ging es Jenny ja auch ganz von selbst wieder besser, wenn sie sich zumindest ein paar Tage lang ausruhte.
Leider saß Nina aber obendrein Aschinger im Nacken, und der war nicht bereit, auf das neue Jahr zu warten.
»Ihre Schlangen-Jenny verliert an Zugkraft.« Mit diesen Worten hatte er sie gestern auf dem Gang vor ihrem Büro überfallen, ohne sich mit einer Begrüßungsfloskel aufzuhalten. »Für heute Abend sind die Terrassenplätze nicht ausverkauft. Dass ich mir das nicht leisten kann, brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu sagen, das wissen Sie selbst.«
»Es ist kurz vor Weihnachten«, versuchte Nina, sich herauszureden. »Die Leute sparen ihr Geld für die Feiertage.«
»Aha«, ließ Fritz Aschinger selbstgefällig fallen. »Und warum haben wir dann letztes Jahr von diesen angeblichen Sparbemühungen nichts gespürt, wenn ich fragen darf?«
Weil wir letztes Jahr noch keine sechseinhalb Millionen Arbeitslose und keine knapp hunderttausend Firmen in Konkurs hatten, wäre es Nina um ein Haar herausgerutscht, aber sie wusste, dass Aschinger sie damit hätte abblitzen lassen. Und er hätte nicht einmal unrecht gehabt, denn die Gäste, die im letzten Jahr die teuren Terrassenplätze des Wintergarten gekauft hatten, waren mit größter Wahrscheinlichkeit von der Wirtschaftskrise nicht betroffen. Die Reichen und Schönen der Stadt würden auch in diesem Jahr wieder ein Vermögen für ihr Amüsement springen und den Champagner in Strömen fließen lassen.
»Ich bin sicher, die Einnahmen zu Silvester machen diesen kleinen Einbruch wieder wett«, sagte sie stattdessen, denn das war das Einzige, was Aschinger zu besänftigen vermochte: die Gewissheit, dass seine Kassen schon bald wieder ohne Unterlass klingeln würden.
»Ich wünschte, ich hätte Ihr Gottvertrauen«, entgegnete er ihr jedoch ganz und gar nicht besänftigt. »Oder nein, ich wünsche es mir nicht, denn dann wäre ich vermutlich schneller pleite als der Jude Goldschmidt mit seiner Danatbank. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir auch für Silvester nicht ausgebucht sind. Buchungen für das Galadinner mit ›Champagner ohne Grenzen‹ sind sogar so wenige eingegangen, dass es sich womöglich gar nicht lohnen wird, dafür eigens einen teuren Patissier zu engagieren.«
Nina war ehrlich erschrocken. Karten für die Silvestergala des Wintergarten waren in den Vorjahren bereits Monate zuvor ausverkauft und höchstens noch zu Wucherpreisen auf dem Schwarzmarkt erhältlich gewesen.
»Die Herren Juden von der Scala haben solche Probleme nicht«, bemerkte Aschinger spitz. »Zwar haben sie sich mit ihrem Plaza, diesem tot geborenen Kind, bis über beide Ohren verschuldet, aber dergleichen bringt ja keinen Juden um den Schlaf. Und für ihre Feiertagsvorstellungen ist nicht mal mehr der kleinste Klappsitz im Hinterzimmer zu bekommen.«
Nina hatte es befürchtet. Sie wusste auch, was die Leute mit den prallen Geldbörsen in die Scala zog, so wie ihre Jenny sie all die Jahre in den Wintergarten gezogen hatte. Schönheit, Eleganz und Sinnlichkeit waren nicht länger genug. Menschen, die das Gefühl hatten, die Welt um sie geriete ins Schwanken, wollten etwas anderes:
Den Blick in die Zukunft, von dem sie sich die verlorene Gewissheit erhofften, und den einen Schritt Vorsprung, der nötig sein mochte, um mit heiler Haut zu überleben.
»Ich möchte Ihnen nicht die Freude auf Ihren Weihnachtsurlaub verleiden«, sagte Aschinger. »Aber wenn Sie nicht rasch noch ein paar gut gewürzte Kaninchen aus dem Hut zaubern, um meinem Silvesterprogramm ein bisschen Pfeffer zu verleihen, werden wir uns im neuen Jahr leider über die Verkleinerung Ihres kostspieligen Ensembles unterhalten müssen. Wer mit seinen müden Knochen nichts mehr einspielt, hat im Wintergarten nichts verloren. Hier gibt es keine Müdigkeit, sondern nur Frische, Esprit und Glanz, damit der Rubel rollt. Sie kennen mich ja: Ich bin unsentimental. Ob ich einen Rollenden Rodolfo, eine Claire Waldoff oder auch eine Schlangen-Jenny rausschmeiße, ist mir gleichgültig, solange ich am Ende weiß, dass alle Pferde in meinem Stall den Hafer wert sind, den ich an sie verfüttere.«
Der Zorn, der in Nina aufwallte, nützte ihr nichts. Sie würde Aschinger seine Sensation beschaffen müssen, wenn sie ihre Wunderweiber auch weiterhin beschützen wollte, obwohl sie nicht annahm, dass er wirklich vorhatte, Jenny zu feuern. Jenny würde sich im neuen Jahr zusammenreißen, dafür würde Nina sorgen. Aber es ging ja auch um Sine, Felice, Berthe, Else und all die anderen, von denen sie selbst wusste, dass ihre besten Jahre sich dem Ende zuneigten. Es war an der Zeit, das ganze Programm umzustellen, junge Tänzerinnen zu finden und das Charisma der alten in Sprechrollen zu nutzen. Aber um sich dieser Herkulesaufgabe stellen zu können, brauchte sie Ruhe, einen freien Rücken und Kraft.
Sie war so unendlich müde. Statt mit dem Auto zu fahren, das sie sich angeschafft hatte und das ihr für gewöhnlich Freude machte, hielt sie eine Taxe an, um sich in die Martin-Luther-Straße fahren zu lassen. Was sie vorhatte, hätte sie längst in Angriff nehmen müssen, doch irgendwie musste es ihr auch jetzt noch, in letzter Sekunde, gelingen. Notfalls würde sie es aus eigener Tasche bezahlen. Die Ersparnisse, die für die Zukunft ihrer kleinen Familie gedacht gewesen waren, würden schließlich nicht benötigt werden, und sie selbst und Anton waren nach wie vor gefragt.
Benommen vor Müdigkeit, blickte sie aus dem Fenster der Taxe in das Grau des Wintertages, sah die Leute, die mit Tüten voller Weihnachtseinkäufe aus den eleganten Geschäften um den Kurfürstendamm hasteten, und dazwischen die Bettler mit ihren Schildern, die in Schneematsch und Nässe an Hauswänden lehnten. Wie glücklich konnte sie sich schätzen, dass ein warmes Zuhause und ein frisch bezogenes Bett auf sie warteten, dass es ihr und ihrem Liebsten an nichts fehlte, dass keine Geldsorgen sie um den Schlaf brachten.
Wie glücklich konnte sie sich schätzen, dass sie ihren Liebsten hatte, dass ihre Familie auf Neu-Mahlen sich auf ihren Besuch freute, dass sie nicht allein auf der Welt war.
War sie sich dieses Glücks in letzter Zeit einmal bewusst gewesen, oder hatte sie so viel an das gedacht, was sie verloren hatte, dass für das, was sie noch immer besaß, kein Raum geblieben war?
Wann hatte sie das letzte Mal Kerzenleuchter auf den Tisch im Berliner Zimmer gestellt, um mit Anton zu Abend zu essen, wann war sie das letzte Mal mit ihm ausgegangen, wann waren sie zuletzt so gierig aufeinander nach Hause gekommen, dass sie es in ihren Kleidern kaum bis ins Schlafzimmer geschafft hatten?
Sie konnte sich nicht erinnern. Gefangen in ihrer Trauer, hatten sie und Anton einander aus dem Blick verloren.
Aber das würde sich ändern. Sie würde diese Varieté-Sensation für Silvester besorgen, und dann würde sie mit ihrem geliebten Mann nach Neu-Mahlen fahren, um sich zu erholen, um zu reden, spazieren zu gehen, sich zu lieben und sich wiederzufinden. Der Schmerz, der tief in ihr Wurzeln geschlagen hatte, würde nie mehr vergehen. Aber nicht ihr ganzes Leben war Schmerz. Es wurde Zeit, an die Zukunft zu denken, ohne dabei an einem Klumpen in der Kehle zu würgen.